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Ausgabe:

1956 Nr. 5

Spalte:

355-358

Autor/Hrsg.:

Beyreuther, Erich

Titel/Untertitel:

Neue Forschungen zur Geschichte der Deutschen Christentumsgesellschaft 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5 6

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rückgezogen haben, also Galiläa oder genauer Pella. Idi mödite
annehmen, daß von den Resten der Lirgemeinde in Pella der entschlossene
Versuch gemacht wurde, die Adiabene als das Land der
nordisraelitischen 9V2 Stämme zu missionieren; das Formularbuch
für die junge Kirche Ostsyriens liegt uns in der Didache

| vor. — Die Frage nach dem ursprünglichen Text ist gesondert zu
i behandeln und bleibt offen.

Die hier vorgeschlagenen Lösungen werden als Erwägungen
zur Fortführung der Diskussion, nicht aber als feste Behauptungen
vorgelegt. Erscheint in der Zeitschrift für Kirchengeschichte.

Neue Forschungen zur Geschichte der Deutschen Christentumsgesellschaft

Von Erich Beyreuther, Leipzig

Bisher haben wir in der Kirchengeschichte noch kein anschauliches
und abgerundetes Bild von den biblizistischen Gegenkräften
besessen, die sich in der Zeitspanne nach 1750—1815 um die alte
reformatorische Botschaft sammeln und einen Gegenstoß gegen
Aufklärung, Entkirchlichung und Entdiristlichung einleiten. Aus
dem großen Briefkorpus der Deutschen Christentumsgesellschaft
in Basel, das aufs glücklichste durch andere Briefsammlungen ergänzt
wird, vermögen wir ein farbenreiches Bild der geistigen,
religiösen und kirchlichen Situation Europas um die Wende vom
18. zum 19. Jhdt. zu gewinnen1. Die Geschichte der Deutschen
Christentumsgesellschaft ist auch nötig, wenn man eine wirklich
zusammenhängende Geschichte der ökumenischen Bewegung
schreiben will, die übrigens noch ganz in den Kinderschuhen
steckt.

In einer ökumenischen Atmosphäre wächst Johann August
Urlsperger auf, der die weltweite Korrespondenz seines Vaters
Samuel LIrlsperger fortzusetzen sucht. Leider ist der ökumenische
Briefwechsel Urlspergers mit Holland, England, Amerika, Indien,
Afrika und mit orientalischen Kirchenführern nicht mehr greifbar2
. Er ist der Gründer der Deutschen Christentumsgesellschaft,
dessen erste Partikulargesellschaft innerhalb der deutschen Savoy-
Gemeinde in London und dessen zweite und bald führende Partikulargesellschaft
in Basel entsteht. Hier gewinnt Urlsperger fünf
schwäbische Handlungsgehilfen, die in Basler Firmen arbeiten, zuerst
für diesen Plan. Wie es in Nürnberg und Augsburg ohne nachweisbarem
Zusammenhang mit LIrlsperger Vorformen dieser Sozietät
gab, so in Basel in dAnnonis „Gesellschaft der Freunde"'1.
Aus dieser längst eingegangenen Gesellschaft finden sich ehemalige
Mitglieder, Laien und Theologen, die schließlich das Zentrum
in Basel bilden.

Wir beobachten folgendes: 1.) Der ökumenische, missionarische
und soziale Aufbruch im Pietismus, in den Reformbestrebungen
des 17. Jhdts. vorbereitet, beendet mit der neuen bibli-
zistisch-unionistisch-ethizistischen Losung das konfessionelle
Streitzeitalter vor Einbruch der Aufklärung. 2.) Der Altpietismus
in Deutschland, in Skandinavien, in Holland und England,
ebenso in der Schweiz drängt immer wieder zueinander und zwar
ganz elementar. In der Form von Anstaltsgründungen stößt man
unermüdlich in Neuland vor. Eine erste Sammlung zentriert sich
um Halle, eine zweite, die sich schnell separiert, um Herrnhut,
die dritte auf dem Kontinent von Augsburg ausgehend in Basel.
3.) Gegenüber dem Phänomen des Verfalls reformatorischen
Christentums in der Aufklärung bewahrt sich hier, pietistisch-
biblizistisch akzentuiert, ein „unverwesliches Erbe" in aller Vergänglichkeit
der Lebensvordergründe. Zwischen Aufklärung und
Romantik, gleichsam in den Vorfrühlingstagen der kommenden
großen Erweckung, vollzieht sich in der Deutschen Christentumsgesellschaft
eine Sammlung dieser Kräfte. Hier bleibt der Altpietismus
, eigentlich alles merkwürdig lebendig, und bereitet somit
den Neuanfang der Weltmission mit vor, aber auch die
fromme Laienaktivität innerhalb des Protestantismus des 19.
Jhdts., die schon Mitte dieses Jahrhunderts zu ersten ökumenischen
Bünden führt.

*) Hier wird nur ein erster Bericht vorgelegt, dem eine weitergreifende
Darstellung folgen soll.

2) Unter „ökumenisch" verstehen wir in der Anfangszeit nicht die
offizielle Verbindung von Kirchen, sondern erste Begegnungen, die in
Arbeitsgemeinschaften Gestalt gewinnen und welche die bloße Deklamation
überwinden.

3) Diese deutschen Vorformen und nicht die englischen Sozietäten
prägen das geistige Antlitz der Gesellschaft.

Die Männer der Deutschen Christentumsgesellschaft, — es
ist im Unterschied zum älteren Pietismus eine reine Männerbewegung
—, erleben Entkirchlichung und Entchristlichung, wie sie
zuerst im revolutionären Frankreich sichtbar werden. Der große
Revolutionsrausch reißt das Bürgertum, das bisher auf den Adel
hin gelebt hat, aus aller Letargie zur Aktivität. Mitten in dieser
gärenden Unruhe sammeln sich Männer reiferen Alters. Zuerst
gegenüber einer intoleranten Aufklärung, welche die Presse beherrscht
, in die Verteidigung gedrängt („Stille im Lande" gegenüber
der überlauten aufklärerischen Propaganda), stoßen sie dann
doch vor4. Wir beobachten einen Reichtum an Gestalten und Persönlichkeiten
. Die beiden großen „Christuszeugen" dieser Zeit im
süddeutsch-schweizerischen Raum: Lavater und Jung-Stilling bezaubern
ungezählte Zeitgenossen und wirken tief hinein in die
Gesellschaft. Wir begegnen hier selbständigen Mittelgliedern zwischen
Altpietismus und Erweckung, den christlichen Parallelen
zu Sturm und Drang. Dieser Vorgang ist bisher wohl zu wenig
beachtet worden

In Württemberg erneuern Prälat Roos und Stiftsprediger
K. H. Rieger, führende Männer der Gesellschaft, die Reichgottes-
Theologie Bengels, dessen Autorität ungeheuer steigt, da sich
seine Prophezeiungen, echte Vorahnungen, weithin erfüllen. Mit
dem Ausbruch der französischen Revolution beginnt der Siegeszug
der eschatologischen Schau Bengels vor allem im süddeutschen
Raum. Aber auch dort, wo man sein apokalyptisches Zahlensystem
nicht annimmt, werden die Frommen auf einmal zu hellwachen
Beobachtern aller Zeitereignisse, die sich in den Protokollen
und Briefen niederschlagen.

Jedenfalls verliert Joh. Aug. Urlsperger, bei dem aufklärerische
Momente wirksam sind und der einen lutherischen Biblizis-
mus vertritt, aller eschatologischen Erregung sorgsam aus dem
Wege gehend, allen theologischen und menschlichen Einfluß auf
die Gesellschaft und entwickelt sich, ein verspäteter Barock-
mensch, zu einer tragikomischen Gestalt5.

Wir lesen Oberlins Briefe an die Väter in Basel, mit denen
er sich eng zu einer großartigen Bibelverbreitung und Evangeli-
sationsarbeit in evangelischen und katholischen Kreisen Frankreichs
verbindet, als der Revolutionsrausch verebbt ist. Es beginnt
eine eifrige Publikationstätigkeit in Basel, die einen weiten
Ausstrahlungsradius besitzt". Im Basler Zentrum wirkt der Großvater
Jakob Burckhardts, der Pfarrer Petrinus Joh. Rud. Burck-
hardt, ein dAnnoni-Schüler, reformierter Biblizist, ein Mann ausgedehnter
geschichtlicher Kenntnisse, gereiften Urteils, von unbestechlicher
Menschenkenntnis, aufgeschlossen für alle Wandlungen
, eine kirchliche Autorität in der Schweiz. Neben ihm stehen
andere Theologen, Glieder eines weltmännischen Basler Patriziats
, nüchterne Pietisten und bewußte Männer der Kirche. In diesen
Kreis treten der junge Steinkopf, der spätere geniale Organisator
der kontinentalen Bibelgesellschaften, auch Spittler, der Enthusiast
und nüchterne Planer zugleich. Hier bricht Frau von
Krüdener ein, eine exzentrische Baltin, Typ einer revolutionären
Romantik, die einen Stil sucht und bei der alles stillos wird
und die doch in der Gesellschaft eine große Opferfreudigkeit
entflammt. Alle diese Gestalten begegnen einander und ringen
miteinander in einer weiten Korrespondenz.

Ganze Gruppen tauchen auf: Der Nürnberger Kreis, die
Keimzelle der bayrischen Erweckung. Die Nürnberger Familie
Kießling hat von A. H. Francke den Auftrag empfangen, sich um

4) Die aufklärerischen Elemente dabei stellen wir hier zurück.
6) Das Lebensbild Urlspergers muß völlig umgeschrieben werden.
6) Die literarischen Arbeiten sind hier zurückgestellt worden.