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Ausgabe:

1956

Spalte:

325-332

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Sendung der Kirche an die Welt 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

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Fragestellung. Aber auf diesem unserem Wege haben wir Dietrich
Bonhoeffer angetroffen und haben verschiedene Dialoge mit
ihm geführt. In diesen Zwiegesprächen haben wir wesentliche
Grundgedanken, die der Referent bei Bonhoeffer gefunden und
wiedergefunden hatte, weiterzuführen versucht.

So möchten die Gedanken dieses Vortrages dem Vermächtnis
eines Mannes dienen, der auf dem Höhepunkt seiner denkerischen
Entfaltung abberufen wurde und der mit seinem Sterben das besiegeln
mußte und auch besiegeln durfte, was er gelebt und in
seinem Leben gedacht hat. Was seine leidvolle und geistlich doch
so erfüllte Existenz in der Zelle oft nur in gehetzten Aphorismen
skizzieren konnte, das ist uns allen anvertraut — nicht einfach
zum Nachsprechen (gerade dazu ist es oft viel zu fragmentarisch
, weil es um die letzten, gleichsam atemlosen Zurufe eines
moriturus geht), sondern zum Nachdenken und zur Reife. So darf
ich denn auch zum Gedächtnis an diesen unvergeßlichen Zeugen
und Denker mit seinen Worten schließen: „Ich habe in den letzten
Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums
kennen und verstehen gelernt." Und ein anderes Wort:
„Der Christ hat nicht immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige,
sondern er muß das irdische Leben wie Christus ganz auskosten,
und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene
bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden. Das
Diesseits darf nicht vorzeitig aufgehoben
werde n."

Die Sendung der Kirche an die Welt

Von Heinrich R e n d t o r f f, Kiel

Viele Anzeichen beweisen, daß die Christenheit sich der
missionarischen Verantwortung der Kirche gegenüber der Welt
wieder bewußt wird.

In Deutschland hat in den letzten 30 Jahren die Volksmission eine
reiche Entfaltung erlebt. Wohl jede der Gliedkirchen der EKiD hat ihr
volksmissionarisches Amt. Eine große Schar von Volksmissionaren zieht
mit werbender Verkündigung durch die Lande. In tausenden von Gemeinden
wird jährlich die Bibelwoche gehalten. Ein ganzes Netz von
Rüstzeiten aller Art überspannt das Land. Mehr als 25 große Zelte
sind in Dorf und Stadt ständig unterwegs. — Auch die alte Evangelisation
, längst totgesagt, erlebt einen Frühling. Die großen Kreuzzüge
eines Billy Graham in USA, England und jüngst auch in Deutschland
rufen Zehntausende zu Christus, und zwar, im Unterschied von der
älteren Evangelisation, in bewußtem Dienst der Kirche. — Die Evangelischen
Akademien wollen nicht missionieren, sondern den modernen
Menschen ins Gespräch ziehen. Aber immer drängender erhebt sich auch
gerade in ihrer Arbeit die Frage nach der wirksamen Ausrichtung des
missionarischen Auftrages der Kirche. — Ähnlich steht es mit den Kirchentagen
. Sie wollen Sammlung und Schulung der mündigen Gemeinde.
Aber, gerade weil sie die Gemeinde ernst nehmen, darum müssen sie
missionieren, darum sendet der Kirchentag die Gemeinde auf die Straße
. — Genau dieselbe Bewegung vollzieht sich in den großen Werken
der Männer, der Frauen, der Jugend. Wo sie lebendige Männer-,
Frauen- oder Jugendgemeinde sammeln, da kommt es sofort mit Notwendigkeit
zur missionarischen Wendung nach außen. — Daß diese
Wendung der Kirche zur Mission durch die ganze christliche Welt geht,
das haben die großen ökumenischen Tagungen bewiesen. Das stärkste
Band, das die christlichen Kirchen der Welt zur Ökumene zusammenbindet
, ist die gemeinsame missionarische Verantwortung für die Welt.
..Jesus Christus sendet uns. und wir müssen gehen. Ohne das Evangelium
hat die Welt keinen Sinn, aber ohne die Welt hat das Evangelium
keine Realität. Evangelisation ist der Ort, an dem die Kirche sich selbst
in ihrer wahren Tiefe und Reichweite entdeckt" (Evanston, Sektion II).

Diese Tatsache fordert theologische Besinnung in der Begegnung
zwischen Kirche und theologischer Wissenschaft. Die
folgenden kurzen Thesen wollen dazu einen Beitrag geben.

I.

Die mündig gewordene Welt verstößt die Kirche in die Fremde

1.) Der Vorgang der Säkularisierung, der totalen Verweltlichung
des Lebens hat offenbar einen Höhepunkt erreicht. Ich
nenne nur stichwortartig einige Grundzüge. Völlig verändert ist
das Verhältnis des Menschen zur Arbeit, zur Natur, zum Leben
überhaupt durch die immer weiter vorgetriebene Technisierung,
die die Arbeit und das ganze Leben bis in die Erholung hinein
in eine riesige mechanisch gelenkte Apparatur verwandelt hat.
Völlig verändert ist das Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen
. Die Technisierung hat mit Notwendigkeit die Kollektivierung
zur Folge. Der einzelne Mensch wird zum Massenteilchen.
An die Stelle der organischen Gemeinschaftsformen tritt das Kollektiv
, an die Stelle der persönlichen Entscheidung das Kollektivdenken
, die Kollektiventscheidung. Und seltsamerweise führt
gerade dieser Vorgang dazu, daß der einzelne Mensch in der
Masse immer einsamer wird und die Kontaktfähigkeit zum Mitmenschen
verliert. Völlig verwandelt ist endlich das Verhältnis
des Menschen zu Gott. Durch eine autonome Wissenschaft, durch
die Technisierung und Kollektivierung des Lebens ist der Gottesglaube
immer mehr an den Rand gedrängt, ja schließlich geradezu
ausgeschaltet. Am klarsten hat es Dietrich Bonhoeffer
ausgesprochen: „Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen
mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der Arbeitshypothese
Gott. Es zeigt sich, daß alles auch ohne Gott
geht, und zwar ebenso gut wie vorher."

2. ) Die Folge dieser Säkularisierung ist, daß für die Kirche
kein Raum bleibt. Für einen großen Teil unseres Geschlechtes ist
sie einfach am Horizont verschwunden; und wo man ihr noch
begegnet, da mit Befremden als einer unbegreiflichen Größe.
Fremd sind dem säkularisierten Menschen ihre Lebensformen:
Der Gottesdienst am Sonntagmorgen, die Liturgie, die Bibelstunde
mit ihrem Familienzuschnitt — alles das mutet ihn kleinbürgerlich
patriarchalisch an. Fremder noch ist ihm die Sprache
der Verkündigung; der Mann auf der Kanzel spricht die Fachsprache
des akademischen Menschen, die Sprache Luthers, die
Sprache der Bibel, also einer völlig fremden Welt. Am allermeisten
fremd ist ihm der Inhalt der Botschaft: Ein lebendiger, persönlicher
Gott — Vergebung der Schuld — Erlösung durch Jesus
Christus — ewiges Leben — das sind Dinge, die in seiner Wirklichkeit
nicht vorkommen. So ist das Verhältnis von Welt und
Kirche heute das einer tiefen und weiten Kluft.

3. ) Diese oft geschilderte Tatsache stellt uns vor große noch
kaum in Angriff genommene Aufgaben, die Kirche und Theologie
gemeinsam lösen müssen. Noch ist die wirkliche Welt, in der
der Mensch heute lebt, dem Kirchenvolk und weithin auch dem
Theologen ein unbekanntes Land. Es ist keine Übertreibung,
wenn wir feststellen: Wie es eigentlich im Fabrikbetrieb, im
Wirtschaftsbetrieb, im politischen Betrieb tatsächlich zugeht, wie
dort der Mensch lebt und gelebt wird, davon hat der Gottesdienstbesucher
, hat der Durchschnittstheologe nur eine unklare
Vorstellung, die sich aus Schlagworten, Zeitungsberichten und
literarischen Eindrücken zusammensetzt. Diese Unkenntnis muß
überwunden werden. Hier erbittet und fordert die Kirche die
Hilfe der Theologie. Wir brauchen eine gründliche, unvoreingenommene
Kenntnis der Welt von heute in all ihren Dimensionen
der Arbeit, der Wirtschaft, der Politik usw. Hier muß die Theologie
ohne vorgegebene Werturteile in derselben strengen Sachlichkeit
, mit der sie die Heilige Schrift und die Geschichte durchforscht
, in enger Zusammenarbeit mit Soziologie, Sozialpsychologie
und anderen Wissenschaftszweigen ein Bild der Welt erarbeiten
, das sie der Kirche zur Verfügung stellen kann.

Der nächste Schritt muß dann der sein, daß die Kirche die
Ausstoßung aus der modernen Welt, die Kluft der Fremdheit als
eine kritische Herausforderung an sich selber aufnimmt. Ein nicht
geringer Teil von Schuld an der Entfremdung fällt der Kirche selber
zu. Sie hat bestimmte Lebensformen einer vergangenen Zeit
festgehalten, als wären sie unveränderlich, als wären sie die Sache
des Evangeliums selbst. Sie darf sich nicht wundern, wenn Menschen
der Gegenwart mit Lebensformen einfach nichts anzufangen
wissen, die auf das kleinbürgerliche Familienideal der Großväterzeit
zugeschnitten sind; wenn Predigten gehalten werden,
die genau so vor 100 oder 200 Jahren hätten gehalten werden
können; wenn an den Gottesdienstbesuchern in ihrem Leben