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Ausgabe:

1956 Nr. 4

Spalte:

242-243

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Rosenstock-Huessy, Eugen

Titel/Untertitel:

Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne 1956

Rezensent:

Melzer, Friso

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 4

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wegen: Glaube, Welt, Erziehung. Jede dieser meist nur wenige
Seiten umfassenden Arbeiten ist erwachsen aus einem ganz persönlichen
Ringen um die Probleme der heutigen Zeit, wie sie dem
Erzieher aufgegeben sind, der sich als Christ für das Schicksal
seines Volkes verantwortlich weiß. Alles Denken und Urteilen
in diesem die mannigfachsten Themen behandelnden Buch geschieht
von dem festen Standort des evangelischen Glaubens her,
aber zugleich von der tiefgegründeten inneren Verbundenheit des
Verfassers mit deutscher Literatur und Kunst. Durch alle Artikel
zieht sich zugleich wie ein roter Faden der Aufruf zu einer Rüdekehr
zu echter von der Seele getragener Menschlichkeit, — sei es
in der Ehe, in der Familie, in der Schule, sei es in den Organisationen
des Staates. Vor allem wird die uns heute gestellte Frage
nach unserer erzieherischen Aufgabe von den verschiedensten Seiten
her aufgegriffen — es wird gefragt nach der sittlichen, der
sexuellen, der musischen, der Leibeserziehung, der Erziehung zum
..Helfen" etc. — immer aber steht die Antwort unter dem Gesichtspunkt
der Erziehung zum Menschen.

Dieser verantwortliche Ernst in der Frage nach der Menschlichkeit
des Menschen ergibt sich dem Verfasser angesichts des
Verfalls der abendländischen Kultur, wie sie in der Kulturkrise
und der Grundlagenkrise der heutigen Zeit offenbar wird. H.
fragt: Kann die abendländische Gesellschaft sich und ihre Jugend
vor dem drohenden Verfall schützen? Gibt es angesichts dieser
Krise aller Grundlagen unseres Lebens überhaupt noch eine Möglichkeit
von Erziehung und Bildung? und er antwortet: Es kann
sie nur geben bei einer allgemeinen Rückkehr zum Menschsein.
— Unter diesem Gesichtspunkt stehen auch die Abschnitte über
die Probleme, die sich aus dem Deutschunterricht ergeben. So
wenn H. sagt: „Allgemeingültiges strahlt von Goethe auf den
über, der selbst im Begriff ist, ein Mensch zu werden". Weil der
Verfasser in all seinen Arbeiten gegenüber dem Intellektualismus
, der Seelenlosigkeit und Veräußerlichung auf der Suche nach
dem Wesen des Menschen, nach echter Menschlichkeit ist, stoßen
wir immer wieder auf sorgfältig formulierte Sätze zu dieser Frage:
,,Die liebende MenschenkTaft des Einzelnen muß all unsere Organisationen
erfüllen, sonst sind sie sinnlos" oder „Menschsein
wird Ereignis im Helfen und Sichhalten-lassen", „Zum Menschsein
gehört der Schutz in der hegenden Liebe des Hauses und der
Schule", „Zur Menschwerdung gehört sittliches Tun auf Grund
unbewußter sittlicher Entscheidung".

Das eigentliche Schwergewicht des Buches liegt in den Abschnitten
über die heutige Schule und über die Stellung und Aufgabe
des Lehrers in der heutigen Zeit und damit über Aufgabe
und Ziel der pädagogischen Akademie. In tiefer Sorge spricht der
Verfasser von dem „Sterben", dem „Vegetieren", dem „Leerlauf
" der heutigen Sdiule. Sie wird — weil ihr s. M. nach der alles
durchdringende Sinn fehlt — nur durch einen gewissen Mechanismus
am Leben gehalten. Er sieht die Schule zwischen Elternhaus
und öffentliches Leben hineingestellt. Die um ihre Verantwortung
wissende Familie soll eine Stätte des Schutzes und der Vertrauensgemeinschaft
sein — Schule und Elternhaus sollen sich
gegenseitig schützen. Die größte Not sieht der Verfasser in der
Überfüllung der Klassen. Diese hat nicht nur eine katastrophale
Niveausenkung der Schule zur Folge, sondern ebenso eine katastrophale
Überforderung des Lehrers. Die Unterlassung dieser
dringendsten Schulreform wird sich nach der Meinung des Verfassers
menschlich und politisch bitter rächen. Nachdrücklich verengt
er, daß wir alle die Frage nach der Bedeutung und Stellung
wie der Ehe und Familie, so der Schule und des Lehrers im Volk
neu durchdenken.

Im engsten Zusammenhang mit der Volksnot, die auf dem
Gebiet der Schule aufgebrochen ist, stehen die Gedanken des
Verfassers über die Stellung und Aufgabe des Lehrers, aus denen
sich wiederum die Aufgabe der pädagogischen Akademie ergibt.

In dem Lehrer, wie ihn unser Volk in der Erschütterung
aller Grundlagen menschlichen Lebens braucht, muß sein Menschsein
führend sein; er muß sich als Mensch, „der Seele ist", verantwortlich
wissen. „Die Seele aber lebt aus der Nähe zu Gott
und aus der Gemeinschaft der Menschen." Von der Kraft oder
Ohnmacht des Lehrers hängt bei der heutigen Erschütterung aller
Grundlagen unsers menschlichen Lebens nicht zum wenigsten die

okzidentale Entscheidung ab. Freilich kann der Lehrer bei der
jetzigen Überforderung diese lebenswichtige Aufgabe des Einsatzes
seines ganzen von der Seele getragenen Personseins nicht
erfüllen.

Die pädagogische Akademie wird nach Aufgabe und Ziel
sorgfältig und klar von der Universität abgegrenzt. Sie soll den
werdenden Lehrer zum Menschsein und damit zu echter Verantwortung
führen. Sie soll eine weltoffene, in deutscher Kultur gegründete
, aus dem Evangelium lebende Lehrerschaft erziehen. Der
Lehrer sollte der freieste Mann im Volke sein, ein echter „Volkslehrer
". Der Verfasser vertritt den Gedanken, daß die Bekenntnisschule
eine Angelegenheit der kirchlichen Gemeinde sein
müsse; sie kann nicht mit Staatsmitteln ermöglicht werden.

Das ganze Buch ist ein Appell nicht nur an Eltern und Lehrer
, sondern auch an die Kirche und an die im Staat Verantwortlichen
.

Berlin

M. v. T i 1 i n g

Rosenstock-Huessy, Eugen, Prof.: Des Christen Zukunft oder
Wir überholen die Moderne. Neue Bearbeitung der amerikanischen
Ausgabe The Christian Future or The Modern Mind Outrnn. Inj

Deutsche übertragen von Chr. v. d. Busche und K.Thomas. München:
Kaiser 1955. 351 S. 8°. DM 13.60; Lw. DM 15.80. N^ff

Professor Eugen Rosenstock-Huessy (1912 mit 24 Jahren derVS
jüngste deutsche Privatdozent für Staatslehre und Rechtsgeschichte
, dann Erster Leiter der Akademie der Arbeit in Frankfurt a.
M.; ordentlicher Professor für Deutsches Recht und Soziologie in
Breslau; seit 1933 in den USA) ist dort zu finden, wo Lehre und
Leben, wo Kirche und Welt zusammenstoßen, und wo die Wissenschaften
der Soziologie und Staatsrechtslehre, der Geschichte
und Kirchengeschichte, aber auch Pädagogik und Theologie um
den Menschen ringen. Man wird ihm also aus dem Blickwinkel
einer Fachwissenschaft nicht gerecht. Die Art, wie er schaut und
schreibt, macht eine Rezension im üblichen Sinn unmöglich, denn
er spricht als Gelehrter, der zugleich ein Praktiker ist und ein
Erleuchteter.

Der moderne Mensch, so legt er dar, schafft in der „Fabrik"
als einer, der funktioniert; daheim in der „Vorstadt" aber lebt
er als einer, der seine Ruhe haben will. Die Einheit des Lebens
ist also zerrissen. Sie in neuer Weise zu finden, in echter Ganzheit
wahren Lebens, das ist das Ziel seiner Arbeit, auch dieses
Buches. Dies ist der Aufbau des Buches: l.Teil „Das Große Interim
" mit den beiden Stücken I. Was mich disqualifiziert, II. Interim
-Amerika 1890—1940. 2. Teil mit den drei Stücken III. Die
Erschaffung der Zukunft, IV. Der Glaube an den lebendigen Gott,
V. Die Heilsökonomie. 3. Teil mit den drei Stücken VI. Glückhafte
Schuld oder Rückblick auf die Kirche, VII. Das Durchdringen
des Kreuzes, VIII. Der diesmalige Rhythmus unseres Friedens.

Der Leser spürt das Außerordentliche des Autors bereits an
diesen Titeln, mit denen er zunächst nicht viel anfangen kann.
Dann wird er aber beim Lesen hellwach durch die Art, wie der
Verfasser spricht: Das Credo „ist nicht nur ein bloßes Thema zum
Denken, sondern die Voraussetzung der Gesundheit" (149).
„Wer ist der Mensch? Das Wesen, das begeistert werden kann"
(172). Gegen jene, die alles rationalistisch ordnen wollen,
bezeugt Rosenstock: „Die Familie in ihrer unstillbaren Unlogik
beirrt sie" (204). „Die Kraft, eine Stadt zu gründen, ist denen
genommen, die verlernt haben, wie man gemeinsam einen Feiertag
begeht" (290). Rosenstock sieht als Ziel, „daß Spontaneität
und Statistiken miteinander versöhnt werden müssen" (336).

Die Sicht des Buches ist stets original, der Ausdruck oft originell
. Der Leser wird nicht mit Redensarten abgespeist, auch mit
keinen abstrakten Formulierungen. So erfährt er zahlreiche Einzeltatsachen
des heutigen Lebens, die er anderswo so nicht fände.
Der Verfasser spricht nicht journalistisch im üblichen Sinn, obwohl
man wünschte, der Journalist möchte von ihm lernen, wie
man genau beobachtet und sachgemäß schreiben kann, ohne langweilig
zu werden, und nicht nur der Journalist. Rosenstock spricht
als moderner Mensch, als sachkundiger Gelehrter, der Europa und
USA kennt, und — als Christ, und zwar mit urchristlicher Leidenschaft
, mit Enthusiasmus. Nicht jeder Satz, nicht einmal jede
Schau, die er anbietet, wird Zustimmung finden. Aber auch wo