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Ausgabe:

1956 Nr. 3

Spalte:

183-185

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Werner, Martin

Titel/Untertitel:

Der protestantische Weg des Glaubens 1956

Rezensent:

Schott, Erdmann

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183

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 3

184

Leendertz, W.: Sören Kierkegaard.

Nederlands Theologisch Tijdschrift 10, 195 5 S. 65-75.
Lowrie, Walter: Translators and Interpreters of S.K.

Theology Today XII. 1955 S. 312—327.
Richter, Julius: Der Mensch — „das unbekannte Wesen". Zum heutigen
Menschenbild in Wissenschaft, Philosophie und Religion.

Freies Christentum, Heft 19, 1955 S. 3—19.
Ritsehl, Dietrich: Kierkegaards Kritik an Hegels Logik. Zu Sören

Kierkegaards 100. Todestag am 11. November 1955.

Theologische Zeitschrift 1 1, 1955 S. 437—465.
Schramm, Erich: Erinnerungen an Wilhelm Dilthey.

Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte VII, 19 55 S. 3 55

bis 358.

Schulze, Wilhelm August: Gott und Mensch. Zwei Studien zum
deutschen Idealismus.

Theologische Zeitschrift 1 1, 1955 S. 426—436.
Stegmüller, W. u. Coreth, E.: Metaphysik — Wissenschaft —
Skepsis.

Zeitschrift für katholische Theologie 77, 1955 S. 472—481.
Thiel icke, Helmut: Nihilism and Anxiety.

Theology Today XII, 1955 S. 343—354.
Thulstrup, Niels: Theological and Philosophical Kierkegaardian

Studies in Scandinavia, 1945—1953.

Theology Today XII, 1955 S. 297—311.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Werner, Martin, Prof. D. D.: Der protestantische Weg des Glaubens
. I.: Der Protestantismus als geschichtliches Problem. Bern:
Haupt; Tübingen: Katzmann [1955]. XV, 989 S., gr. 8°. Lw.

DM 56.-.

M. Werner, durch sein großes Werk über die „Entstehung
des christlichen Dogmas" 21954 bereits weiteren Kreisen als
Albert Schweitzer-Schüler bekannt, legt jetzt den ersten (historischen
) Band eines systematischen Werks vor. Dieser Ausgang
von großen historischen Arbeiten ist für den Systematiker W.
bezeichnend: W. will das historische Erkennen in der Theologie
neu zu Ehren bringen. Er nimmt damit Problemstellungen auf,
die in Deutschland (nicht so in der Schweiz) seit einem Menschen-
alter fast verschwunden sind. Sie waren freilich nicht wirklich
erledigt; denn in der Katastrophenstimmung nach dem ersten
Weltkrieg wurde die damalige liberale Theologie mehr überfahren
als überwunden. W.s Anliegen tritt am deutlichsten zutage
in den Abschnitten: „Erkenntniskritische Orientierung"
(21—93) und „Die neuprotestantische Wandlungskrise des Christentums
" (365—894). Die dazwischen stehenden vier Kapitel
über (1) „Die Begründung der dogmengeschichtlichen Krisen in
der Entstehung des Christentums", dann über die (2) spätantike,
(3) mittelalterliche, (4) reformatorisch-altprotestantische Wandlungskrise
des Christentums können zwar zum Verständnis des
Ganzen nicht entbehrt werden, sind aber relativ unbetont, wie
schon aus dem geringen Raum, den sie einnehmen (insgesamt
nur 270 Seiten), ersichtlich ist.

W. schafft von vorneherein insofern klare Fronten, als er
die Theologie gegenüber allen Versuchen, sie als kirchliche Wissenschaft
zu verstehen oder sie auf eine Glauben fordernde
Offenbarung zu stützen (7—9), mit starkem Wahrheitspathos
vorbehaltslos auf die Vernunft begründet (12). Dem Neuprotestantismus
kommt das Verdienst zu, hier einen entscheidenden
Durchbruch vollzogen zu haben, ohne allerdings bisher ans Ziel
gekommen zu sein. Die kirchlich-theologische Restauration und
Repristination des 19. Jahrhunderts hat eine bis heute nachwirkende
heillose Verwirrung geschaffen: „Weder seiner ursprünglichen
, neutestamentlich bezeugten Gestalt entsprechend,
noch durch Erfahrung und Vernunft gerechtfertigt, schwebt dieses
Christentum im leeren Raum der Ratlosigkeit und neigt daher
in seiner kirchlichen Geltendmachung zur sophistischen Spekulation
mit großen Worten auf die geistige Unsicherheit, die
Daseinsangst, das schlechte Gewissen und den Ästhetizismus des
modernen Abendländers und dessen Unwissenheit über die wichtigsten
Tatsachen der Geschichte des Christentums. Seine auffälligste
geistige Signatur ist das Schwinden der intellektuellen
Sauberkeit" (890 f.). Die Theologie ist nach W. weithin „der
sophistischen Verfälschung des Denkens" verfallen (39).

Dem gegenüber verficht W. folgende Grundsätze:
In der Exegese muß Auslegung und Deutung klar voneinander
geschieden werden. Die Theorien der „pneumatischen,"
„existentiellen" und „theologischen" Exegese sind entschieden
zu verwerfen. Sie beruhen alle auf „jener Theorie des .Verstehns',
nach welcher das in einem Text Gemeinte erst dann verstanden
sein soll, wenn es durch die Auslegung als wahr befunden ist
im Sinne dessen, was man im eignen Glauben als übernatürliche
Offenbarungswahrheit vertritt". Diese Theorie ist nicht einmal
original christlich, sondern findet sich schon bei Jamblichos und
Proklos, die den Grundsatz vertraten, ,„daß es keine falschen,
sondern nur falsch verstandene Orakelsprüche gebe'" (79).
Rechte Auslegung kann sich nur der philologisch-historisch-kritischen
Methode unter Abweisung aller anderen bedienen (77).
Erst nachdem so der Sinn des Textes erhoben ist, kann nach der
Wahrheit des Gemeinten gefragt werden.

In der Dogmatik muß das Bedürfnisargument entschieden
verworfen werden. W. hört die protestantische Theologie seit
der Aufklärung daraufhin ab, ob sie sich der Wahrheitsfrage gestellt
hat oder zur „Bedürfnistheologie" abgesunken ist nach
der Art der Ritschlschen Werturteilstheorie: „Weil Wert für
mich, darum Sein an sich" (783 und passim). Unter diesem Gesichtspunkt
bekommen außer Ritsehl und seiner Schule u. a. die
Erlanger, Kähler, Ihmels, R. Seeberg und auch K. Barth sehr
schlechte Zensuren: „In den Postulaten, mit denen Barth in seiner
Auseinandersetzung mit den Prinzipien der Theologie Herrmanns
seine eigene dogmatische Fahrtrichtung begründete, ist
in tiefster Übereinstimmung mit den elementarsten Instinkten
der Ritschlschen Theologie längst zum Voraus die Wahrheitsfrage
durch die Bedürfnisfrage verdrängt und ersetzt" (8 5 3 f.).
„Es handelt sich in erster Linie um die Möglichkeit, ,als Theologe
am Leben zu bleiben' und sich nach den .Bejahungen' umzusehen
, ,von denen und mit denen man leben und sterben
kann'. Es handelt sich aber längst nicht mehr um die Frage, was
denn wahr sei. Vollends die Beschäftigung mit Kierkegaard hat
das theologische Bedürfnismotiv noch verstärkt" (8 54).

Die Not des Neuprotestantismus war von Anfang an seine
„Doppelspurigkeit", die sich aus dem Nebeneinander von Historie
und Dogmatik ergibt (401). Diese erweist sich bis hin zu K.
Barth in einer „doppelten Buchführung in der Bewertung der
Historie". „In Wahrheit geht Barth mit der Historie genau so
um wie die Philosophen des deutschen Idealismus. Ist bei diesen
die Historie die Magd einer mehr oder weniger spekulativen
Philosophie, so bei Barth die Magd einer Dogmatik, für die es
keine dem Glauben vorangehende Erkenntnis geben soll" (846).

W. bezeichnet als einzig gangbaren Weg die konsequent-
eschatologische Auffassung des Urchristentums im Sinne Albert
Schweitzers und demgemäß das bewußte Aufgeben der mit der
Naherwartung verbundenen, in der Geschichte des Christentums
bis heute unheilvoll nachwirkenden mythologischen Vorstellungswelt
: „Enteschatologisierung" (891). W.s geistesgeschichtliche
Analysen, die hier nicht einmal umrissen werden können,
sind scharfsinnig und zupackend, aber immer auch, wie es die
Verkürzung der Sicht mit sich bringt, die ihm seine Fragestellung
auferlegt, mehr oder weniger fragwürdig. Der Historiker wird
sicher seine Bedenken anzumelden haben.

Wie eine Dogmatik auf dieser Grundlage aussieht, wird
erst der noch ausstehende zweite Band zeigen. Immerhin läßt
auch das bisher Gebotene bereits einige Fragen aufwachen. Ist
wirklich die Scheidung von Auslegung und Deutung so einfach,
wie es bei W. erscheint? Wird nicht der Ausleger, insofern er
voraussetzt, daß er es mit einem Sinnzusammenhang und nicht
bloß mit Unsinn zu tun hat, von vorneherein auch zum Deuter?
Mit welchem Recht reden wir von der vorhandenen oder mangelnden
Kongenialität des Auslegers mit seinem Text? Geht
nicht das Wägen der sog. „inneren" Gründe bei der Entscheidung
historischer Fragen zum guten Teil auf das Konto dieser
Kongenialität? Wird nicht von da her auch die Glaubenshaltung
des Auslegers bedeutsam, insofern sie eine mehr oder weniger
große innere Nähe zu dem im Text Gemeinten bedingt? Freilich
hat diese innere Nähe auch ihre Gefahren, auf die W. nachdrücklich
hinweist; denn sie führt u. U. zu einer Verkennung