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Ausgabe:

1955 Nr. 2

Spalte:

73-82

Autor/Hrsg.:

Urner, Hans

Titel/Untertitel:

Liturgie ohne Liturgismus 1955

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 2

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Wer aber diese Konferenz als Ganzes überschaut und die
Fähigkeit besitzt, sie auf dem Hintergrund der gegenwärtigen
Weltsituation zu würdigen, der muß Gott dem Herrn dafür dankbar
sein, daß es in einer so unruhigen und von schweren Spannungen
durchzogenen Welt, in der Ordnung und Friede äußerst

Eine Gruppe von Delegierten und Stellvertretern hat in würdiger
Weise theologische Bedenken gegen dieses Verfahren ausgesprochen
(Evanston Dokumente, S. 128).

gebrechliche Gebilde sind, möglich geworden ist, so viele Menschen
aus so vielen Nationen und Rassen zu einem solchen Maß
von Einheit zusammenzuführen. Ist schon das Maß der über alle
Spannungen hinweg erreichten Einheit so etwas wie ein „Pfingst-
wunder im kleinen", so ist die Tatsache dieser Konferenz trotz
all ihrer menschlichen Unzulänglichkeit ein Widerschein der Tatsache
, daß Christus in der Tat die Hoffnung der Welt ist.

Liturgie ohne Liturgismus

Von Hans U r n e r, Halle/Saale*

Das Thema sei nicht gerade gut formuliert, ist mir gesagt
worden. Das mag sein, zumal „Liturgismus" sowieso keine sehr
erfreuliche Wortbildung ist. Wir wünschten wohl, es gäbe weder
die Sache noch das Wort. Aber nun gibt es leider die Sache, und
damit hat sich auch eine möglichst knappe und treffende Formulierung
eingestellt. Früher hätte man von „Ritualismus" gesprochen
. Aber von Riten im Raum der evangelischen Kirche zu sprechen
ist seit den Tagen des Konkordienbucb.es ebenso unmöglich
geworden wie die Rede von den Zeremonien. Wenn auch das,
was dort darüber zu lesen ist, auf eine neue Weise wieder Aktualität
bekommen dürfte1. Es ist deutlich genug, was gemeint ist:
die Überschätzung, die Absolutsetzung und Vergötzung liturgischer
Ordnungen*. Da wir es alle in der evangelischen Kirche
mit der Liturgie zu tun haben, die Freunde der Hochkirche genau
so wie die Benutzer des Kirchenbuches von Karl Arper (f 1936)
und Alfred Zillessen (f 1937), so sind wir auch alle in der gleichen
Gefahr. Wir sollten die Warnung vor dem Liturgismus als
brüderliche Mahnung, nicht als feindliche Kritik hören, selbst wo
sie uns in dem Gewände des Spottes begegnen mag. Auch die wissenschaftliche
Erörterung der liturgischen Fragen wird die Schärfe
der Kritik je und dann üben müssen. Aber die Absicht muß letztlich
doch die bleiben, denen, die am Altar und auf der Kanzel
stehen und denen, die mitsingen und beten, zum rechten Verständnis
ihres Tuns, zur rechten Ausrichtung ihres Dienstes zu
helfen.

Es ist in dem gegebenen Rahmen nicht möglich, auch nur die
wichtigsten Stimmen zur Ordnung des Gottesdienstes in unserer
Kirche, geschweige denn in der ganzen Welt zu hören. Mir schien
ein anderer Weg praktischer: eine einzige Abhandlung zum Ausgangspunkt
zu wählen und an ihr einen Einblick in die grundsätzlichen
Erörterungen zu gewinnen, ohne daß die Einzelheiten
liturgischer Gestaltung besprochen werden können.

Götz Harbsmeier behandelt in seinem Beitrag zu der „Festschrift
Rudolf Bultmann zum 65. Geburtstag überreicht" (Stuttgart
und Köln 1949) auf S. 99—126 „Das Problem des Kultischen
im evangelischen Gottesdienst."

Von den vier Teilen dieses Aufsatzes behandelt der erste „Das
Kultische als religionsgeschichtliches Phänomen." Man beachte den Hinweis
auf die Religionswissenschaft. Der Begriff des Kultischen taudit
hier nicht als ein theologischer Begriff auf3. Hier heißt es vielmehr:
„Im Kultischen gestaltet der Mensch sein Verhältnis zur Gottheit...
Er will die Unberechenbarkeit und Unheimlichkeit der Macht, der er
sich ausgesetzt weiß, durch geordnete Beziehungen bannen" (S. 99). Da
wie auch sonst im Leben wird „das Verlangen des Menschen nach Sicherung
und Selbstbehauptung" spürbar, ja: „alle Selbstbehauptung will
eben darauf hinaus, vor Gott sicher zu sein, über ihn zu verfügen, seiner
habhaft und mächtig zu werden und dadurch selber wie Gott zu sein"
(S. 100). Wenn auch in der christlichen Kirche „das Verhältnis zu Gott

") Vorlesung in der „Theologischen Woche" der Theologischen
Fakultät Halle, September 1954.

') z.B. Conf. Aug. XXVI: „libertas in ritibus humanis non fuit
ignota patribus".

*) Der Liturgismus betreibt „liturgische Dinge als Selbstzweck"
und erwartet „davon das Heil und die Besserung der Kirche" (Karl
Handrich, Das Wesen des Gottesdienstes, Evangelische Theologie 9,
1949/50, S. 365).

) Eine Zeitlang und auch heute noch in manchen liturgisch inter-
es!ierten Kreisen wurde und wird ganz unbeschwert und selbstverständlich
vom evangelischen „Kultus" gesprochen. Ich denke etwa an die
V°j SUrt^.0rn 1925 un<* 1927 herausgegebenen Sammelbände „Kultus
und Kunst" und „Grundfragen des evangelischen Kultus."

kultisch gestaltet" wird, so muß die Kirche zeigen, „wieso ihr Kult
doch gerade im Entscheidenden nicht Kult ist.. . wieso sie denn einen
Kult hat, den die Welt nicht kennt. Das muß sie ebenso deutlich machen
können, wie sie sagen muß, inwiefern sie auch unter Frieden und unter
Gerechtigkeit etwas anderes versteht, als die Welt kennt" (S. 101).
Das Kultische ist gerade nicht „der der Welt entnommene Bezirk", sondern
„gehört zu den vergehenden Dingen in der Kirche" (S. 102). In
der Kirche wird aber „der ursprüngliche Sinn des Kultischen", die Selbstbehauptung
, gebrochen (S. 104). „Christus bedeutet nicht einen neuen
Kult*. Er bedeutet aber das Ende des Kultischen. Und doch heißt das
nicht, daß die Kirche Christi auf das Kultische überhaupt verzichten
könnte und sollte. Es heißt aber, daß sie sich innerhalb ihres Kultes so
versteht, wie es der Zöllner tat und also wie es ihr Herr haben will.
Und das heißt im tiefsten Grunde, daß die Kirche in ihrer irdischen Gestalt
, die nicht frei sein kann vom Kultischen, doch frei ist, so wie sie
frei ist von demselben Tod, den sie dennoch sterben muß" (S. 105). Der
Christ muß sich der kultischen Formen bedienen, „denn er hat keine
anderen Möglichkeiten, seinem Glauben Ausdruck zu verleihen, seines
Glaubens zu leben, als eben die Möglichkeiten, die die Welt hat". Es
war die Erkenntnis der Reformation, „daß das Kultische in diesem
Sinne erledigt sei". Die Reformation bedeutet, „wenn man einmal %o
sagen darf, die Entkultung des Gottesdienstes. Sie bedeutet ein neues
Sich-Verstehen im Gottesdienst, in dem das eigentlich Kultische aufgehoben
ist" (S. 108). Das wird noch am Beispiel des Abendmahls
näher ausgeführt. „Luther sowohl wie seinen kultischen Gegnern ging
es um die Realität der Gegenwart Christi. Aber Luther ging es gerade
nicht um die kultische Realpräsenz, sondern um die Realität, das wirkende
Sein der vergebenden Liebe Gottes, ganz abgesehen von der Präsenz
in der kultischen Darstellung, um die es sich in der Transsubstan-
tiationslehre handelt" (S. 109). Harbsmeier kann am Schluß des ersten
Teiles bemerken: „Was ich bisher von dem Kultischen gesagt habe, ist
im Grunde nichts anderes als das Ausziehen der Linie, die mit dem
Stichwort Entmythologisierung angezeigt ist." Es liegt durchaus im Sinne
Bultmanns „zu sagen, daß der Mythos ebenso wie das Kultische schon
durch das Christliche selbst, dessen irdener Ausdruck es ist, .erledigt'
und aufgehoben ist" (S. 110—111). Das Kultische ist zwar ein religions-
geschichtlidies Phänomen, der evangelische Gottesdienst als solcher ist
es nicht. „Aber dem Augenschein nach ist die Kirche auch in ihrem
Kult durchaus ,Welt', durchaus Religionsgemeinschaft" (S. 112). — Es
wird nur mit anderen Worten das Ergebnis des ersten Teiles näher ausgeführt
, wenn der zweite Teil vom „eschatologischen Charakter des kultischen
Geschehens im evangelischen Gottesdienst" handelt (S. Hill
6). „Das Eschatologische ist dann da, wenn sich in, mit und unter
dieser unserer Zeit, in, mit und unter der Existenz, die für uns alle die
gleiche ist, ein Schöpfungsakt Gottes ereignet, der im radikalen Sinn
alles Alte vergangen macht, und siehe, es ist alles neu geworden"
(S. 112). Die dialektische Spannung zeigt sich darin, „daß das Kultische
da und doch zugleich aufgehoben und erledigt ist, daß es sich vollzieht,
als vollzöge es sich nicht, daß sich im christlichen Gottesdienst gerade
das Gegenteil von dem ereignet, was nach dem Augenschein .. . eigentlich
zu erwarten wäre . . . Hier ist Gott der Darsteller, aber darin zugleich
der, der das Ganze in das Sein ruftl Er ist der Gestaltende, er
ist der Agierende. Und der Mensch ist der Empfangende. Im Kultischen
aber ist Gott der Empfangende" (S. 113)5. Der Tag, den der Herr macht,

*) „Was in dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern gestiftet
wird, ist nicht mehr Kultus, d. h. nicht mehr eine feste und geweihte
Ordnung, Menschen Heil zu schaffen, sondern es ist der Akt des Meisters
, der der Gemeinschaft der Jünger überantwortet, was sein Leben
und Sterben beschließt: Ich vermache euch das Gottesreich, wie es mir
mein Vater vermacht hat" (Ernst Lohmeyer, Kultus und Evangelium,
Göttingen 1942, S. 116). „Der Kultus ist abgetan, weil da, wo er stand,
die Gestalt Jesu Christi steht" (Otto Weber, Versammelte Gemeinde,
Neukirchen 1949, S. 115).

6) Ähnlich Wilhelm Stählin, Vom göttlichen Geheimnis, Kassel
1936, S. 31: „...es ist nicht ein eigenmächtiges und betriebsames
menschliches Reden und Tun, sondern auch hier bleibt Gott streng das
handelnde Subjekt."