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Ausgabe: | 1955 Nr. 12 |
Spalte: | 760 |
Kategorie: | Kirchenrecht |
Autor/Hrsg.: | Schoch, Max |
Titel/Untertitel: | Evangelisches Kirchenrecht und biblische Weisung 1955 |
Rezensent: | Wolf, Erik |
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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 12
760
gegenüber vor und folglich eine Heteronomie. Weit davon entfernt
, den urtümlichen kindlichen Egozentrismus an seiner Quelle
auszuschalten, führt eine solche Unterwerfung im Gegenteil dazu
, die dem Egozentrismus eigentümlichen Gewohnheiten zu
konsolidieren. Wie das Kind, wenn es auf sich selbst angewiesen
ist, an alle in seinem Geist aufkommenden Ideen glaubt, anstatt
sie als zu kontrollierende Hypothesen zu betrachten, glaubt das
dem Wort seiner Eltern gehorchende Kind widerspruchslos alles,
was man ihm erzählt, anstatt im Denken des Erwachsenen das
zu bemerken, was es an Forschung und Tastversuchen enthält:
Das eigene Gutdünken ist lediglich durch das Belieben einer
souveränen Autorität ersetzt worden".
„Wie jedoch das Kind an die Allwissenheit der Erwachsenen
glaubt, glaubt es ohne weiteres an den absoluten Wert der empfangenen
Befehle. Auf diese Weise bildet sich das elementare
Pflichtbewußtsein und die erste normative Kontrolle, deren das
Kind fähig ist, heraus." Denn „damit ein Verhalten als moralisch
bezeichnet werden kann, bedarf es mehr als einer äußeren
Übereinstimmung seines Inhaltes mit dem der allgemein anerkannten
Regeln: es gehört auch noch dazu, daß das Bewußtsein
nach der Moralität als nach einem autonomen Gut strebt
und selbst imstande ist, den Wert der Regeln, die man ihm vorschlägt
, zu beurteilen".
Erst die im Laufe der Reifung mögliche Zusammenarbeit
von Gleichgesinnten kann das verwirklichen, „was der geistige
Zwang zu vollbringen nicht imstande ist". „Sie allein kann das
Kind von der Mystik des Wortes der Erwachsenen befreien."
Erst „die Zusammenarbeit verdrängt den Egozentrismus zur
gleichen Zeit wie den moralischen Realismus und führt so zu
einer Verinnerlichung der Regeln. So folgt eine neue Moral auf
die der reinen Pflicht. Die Heteronomie weicht einem Bewußtsein
des Guten, dessen Autonomie sich aus der Annahme der
Normen der Gegenseitigkeit ergibt. Der Gehorsam macht dem
Gerechtigkeitsbegriff und der gegenseitigen Hilfe Platz, welche
nunmehr zum Ursprung aller bis dahin als unverständliche Befehle
auferlegten Pflichten werden".
„Das Individuum allein ist dieser Bewußtwerdung nicht fähig
und kann folglich nicht zur Aufstellung von eigentlichen
Normen gelangen." Erst „das gesellschaftliche Leben ist notwendig
, um es dem Individuum zu ermöglichen, der Geistestätigkeit
bewußt zu werden und die jeder geistigen und sogar vitalen
Tätigkeit innewohnenden funktionellen Gleichgewichtsformcn
in eigentliche Normen zu verwandeln".
Die Ergebnisse der Untersuchungen Piagets „sprechen somit
ebensosehr zu Ungunsten der autoritären wie der rein individualistischen
Methode". Nach ihnen ist es „absurd und sogar
unmoralisch, dem Kind eine fertige Disziplin auferlegen zu wollen
, während das gesellschaftliche Leben der Kinder untereinander
entwickelt genug ist. um eine Disziplin hervorzubringen,
die der inneren Unterwerfung, welche der Moral der Erwachsenen
eigentümlich ist, unendlich viel näher steht. Andererseits ist es
vergeblich, das Denken des Kindes von außen her verwandeln
zu wollen, während sein aktiver Forschungsdrang und sein Bedürfnis
nach Zusammenarbeit ausreichend sind, um eine normale
geistige Entwicklung zu gewährleisten. Der Erwachsene muß daher
sein Mitarbeiter und kein Lehrmeister sein, und zwar von
einem moralischen und intellektuellen Gesichtspunkt aus".
Wir ließen Piaget oben persönlich sprechen. Abschließend
ist zu seinem Werk jedoch zu bemerken: Die entwicklungspsychologischen
und zwischenmenschlichen Determinanten beim
Werden des moralischen Urteils hat er ohne Zweifel auf seine
Weise äußerst eindrucksvoll herausgearbeitet. Und seine diesbezüglichen
Ergebnisse verdienen schon ernste Beachtung. Die
Tatsache jedoch und die sich aus ihr ergebende Frage, daß es
über die wandelbaren gesellschaftlichen Ordnungen hinaus für
den Menschen noch absolut geltende Normen gibt, die ihn unter
Umständen fordern und dazu befähigen, aus persönlicher Verantwortung
vor Gott und dem eigenen Gewissen gegen die herrschende
„Moral" zu handeln, bleibt von Piaget unberücksichtigt.
Darum endet er in seinen praktischen Schlußfolgerungen bei der
Fiktion des Werdens einer reinen Aufklärung.
HG Berlin H. M*rch
KIRCHENRECHT
Schoch, Max: Evangelisches Kirchenrecht und biblische Weisung.
Ein Beitrag zur theologischen Grundlegung des Kirchenrechts. Zürich:
Scientia-Verlag 1954. 196 S. 8°. Lw. Fr. 12.50.
Die evangelischen Theologen waren am Recht ihrer Kirche
seit jeher wenig, besonders aber seit der Mitte des 19. Jhdts. nur
noch praktisch interessiert. Man wollte zwar Rechtsschutz, aber
ohne zu fragen, ob er verheißen war, und man wünschte Rechts-
macht, jedoch ohne zu sagen, wodurch sie gerechtfertigt sei. Juristen
waren es, die das hier gestellte, rechtstheoretische Problem
zuerst erkannten. Freilich schien Rudolph Sohms berühmte These
diese Haltung theologischer Rechtsindolenz zu legitimieren. Mit
ihrer fast allseitigen Anerkennung hörte die Diskussion der
Frage nach einer theologischen Begründung des evangelischen
Kirchenrechts in Deutschland auf. In der seither angeblich feststehenden
Erkenntnis — die in Wahrheit ein (überdies: schwärmerisches
) Bekenntnis war — wonach „Geistkirche" und „Rechtskirche
" unvereinbar seien, fühlten die Theologen sich vom Recht
nicht mehr existentiell angesprochen. Kirchenrecht fiel jetzt ganz
in den Zuständigkeitsbereich historisch-positivistischer Jurisprudenz
, die es teils (als Staatskirchenrecht) dem Staatsrecht, teils
(als innerkirchliches Recht) dem Korporationsrecht zuordnete.
Erst Günther Holsteins bedeutendes Buch über die Grundlagen
des evangelischen Kirchenrechts (1928) hat das Gespräch
wieder aufgenommen. Infolge des Rechtskampfs, den die Bekennende
Kirche in Deutschland zu führen gezwungen war, sind
schon bald nach 1933, dann wieder seit dem Kriegsende immer
zahlreicher Aufsätze und Vorträge (jetzt auch von Theologen)
erschienen, die den Positivismus als legitime Gestalt kirchlichen
Rechts anzweifelten oder bekämpften und eine neue, genuin
theologische Begründung des Kirchenrechts forderten. In die
Reihe dieser Bemühungen gehört auch die Schrift von Pfarrer
Max Schoch (eine Züricher Dissertation) als selbständiger, gehaltvoller
und für die künftige Diskussion wichtiger Beitrag.
Nachdem Verf. in Auseinandersetzung mit Sohm und der,
mit Sohms Position verwandten, jüngsten These Emil Brunners
vom „Mißverständnis der Kirche" die „Problematik des Kirchenrechts
" aufgezeigt hat (19—55), grenzt er seine theologische Stellung
von der römisch-katholischen, aber auch von der lutherischen
und reformierten Auffassung der Rechtsgestalt der Kirche als
„Anstalt" (Institution) ebenso ab wie von der Kirchenrechts-
leugnung des Pietismus und von der soziologischen Aufklärungsidee
der Kirche als „Verein" („Abwege des Kirchenrechts":
56—72). Erst dann wendet er sich eigenen, weithin von der Theologie
Karl Barths bestimmten, Aussagen über das Kirchenrecht zu
(„Sieben Grundsätze": 73—184).
In diesem (Haupt-) Teil der Arbeit wird zunächst die Abhängigkeit
der kirchlichen Rechtsordnung von der Glaubensgemeinschaft
festgestellt, woraus die Forderung der Einheit von
Botschaft und Gestalt der Kirche folgt (73—95). Sodann charakterisiert
Schoch das evangelische Kirchenrecht als „ius humanuni
" (96^100). Sein zentrales Anliegen: die Einheit von kirchlicher
Rechtsordnung und Gottesdienstordnung, wird besonders
sorgsam herausgearbeitet, denn von da leitet sich die Eigenart
des Kirchenrechts als „Bekenntnisordnung" (112 ff.) ab, womit
die Dialektik seiner Abgrenzung vom Staat einerseits, seines
Öffentlichkeitsauftrags andererseits in den Blick kommt (101
bis 154). Unter diesem Aspekt werden Kirchenmitgliedschaft,
Gemeindeverfassung und ökumenische Ordnung, endlich die
„Ämter" als (unvermeidliches) „institutionelles Element" der
Kirche untersucht (l 80 ff.).
In seinem Schlußwort sagt Verf.: „Die Kirche braucht eine
zeichenhafte Ordnung. Das ist kein .heiliges Kirchenrecht', aber
ein bekennendes Kirchenrecht. Die Bibel gibt für die Rechtsorganisation
der Gemeinde keine formale Vorschrift, aber eine
prinzipielle Weisung" (185). Damit ist er (als Theologe) auf
eigenem Wege zu dem Ergebnis gelangt, das ich (als Rechtstheoretiker
) 1948 in „Rechtsgedanke und biblische Weisung" zu formulieren
versucht habe. Die tragende Kraft solcher aus Glaubensgemeinschaft
erwachsener gemeinsamer Einsicht empfinde ich
dankbar.
Freiburg i. Br. Erik Wolf