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Ausgabe:

1955 Nr. 12

Spalte:

731-734

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Ehrfurcht vor dem Leben 1955

Rezensent:

Fascher, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 12

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finden ernst genommen wird, sucht der Mensch die Flucht aus
ihrem sinnlosen V/irbel — im Vedanta, im Buddhismus, im Mysterium
. Die kreisende Zeit ist nicht weniger als die strömende
gelebter Ausdruck der Niditigkeit. So oder so ist die Zeit gegenwärtige
Macht des Nichts, Prinzip der Vernichtung. Genau so
hat sie Hegel verstanden: die „sich auf sich selbst beziehende
Negation". Genau so empfindet sie der moderne Durchschnittsmensch
— in vielen Formen, von der romantischen Sehnsucht
nach dem Vergangenen bis zur Hetze des modernen Manager-
tums.

Für biblisches Denken dagegen ist die Zeit gegeben:
Gegeben ist die kultische Zeit, da der Mensch die Ehre hat, Gott
zu dienen. Gegeben ist auch die Zeit der Predigt (l. Tim. 2,6) und
der Buße (Offenb. 2, 21). Dem Angefochtenen können „die Zeiten
Gottes" unsichtbar werden (Hiob 24, l). „Meine Zeit",
„deine Zeit" kann die Lebensdauer (l. Kg. 11, 12 u. a.) oder die
Todesstunde (Matth. 26, 18 u.a.) bedeuten; beides sind gegebene
Zeiten, mit denen Gott über den Menschen verfügt. „Wir
haben Zeit, Gutes zu tun" (Gal. 6, 10). Es ist ein besonders tük-
kischer Angriff gegen das Menschtum des Menschen, wenn man
ihm seine Zeit raubt (2. Mos. 5, 5—21). Der Teufel hat wenig
Zeit (Offenb. 12, 12; 17, 10; 20, 3) - der heutige Pastor desgleichen
!! Und der moderne Kulturmensch erst recht. Die Redewendung
„Zeit-haben" drückt — auch noch in dem säkularisierten
und verflachten Sinn der heutigen Llmgangssprache — diesen spezifisch
christlichen Zeitbegriff treffend aus; Griechen und Römer
besaßen keine sprachliche Ausdrucksmöglichkeit dafür. — Das bedeutet
in biblisch-theologischer Sicht: Die Zeit ist objektiv.

Der subjektiv-illusionistische Zeitbegriff erweist sich somit
als Fortsetzung der mythischen Vorstellungen von der kreisenden
und strömenden Zeit, die sie als das nichtige Prinzip der Nichtigkeit
alles Seins erscheinen lassen. Der theologisch-eschatolo-

gische Zeitbegriff der Bibel erfordert die Vorstellung einer Realität
der Zeit: Zwar ist sie sekundär, geschöpflich entstanden
und einmal endend, aber in dieser sekundären Linie hat sie ihre
Wirklichkeit im Dienst des Schöpfers.

Aber sprechen nicht gewichtige theologische Gründe für die
subjektiv-illusionäre Zeitauffassung: die Prophetie, das Wunder,
das Sakrament, die Realpräsenz des Kommenden und Vergangenen
in der Kirche? Wurde sie nicht von Christus selbst verkündet?
Ja. Aber hier handelt es sich um das Wunder, das — wenn es
wirkliches Wunder sein soll — die andersartigen Ordnungen der
Welt aufhebt und durchkreuzt.

Wer sich dadurch verleiten läßt, die Zeit zu vcrillusionieren,
will das Wunder begreiflich machen, indem er es 7,ur Normalsituation
erklärt. Er tut dasselbe wie die radikale islamische Theologie,
die aus demselben Anliegen die Naturgesetze zu Gewohnheiten
Allahs depotenzierte. Das zur Norm gemachte Wunder wäre die
Zerschlagung der Weltordnungen und damit das nihilistische
Chaos. Christus selbst hat den größten Wert darauf gelegt, daß
Seine Wunder Ausnahmen blieben und keine Praxis daraus
wurde. Versuche zur Normalisierung des Wunders sind oft gemacht
worden: z. B. in der heidnischen Magie und Mantik; z. B.
in dem enthusiastischen Bemühen, den vollkommenen Menschen
oder den vollkommenen Christen zu schaffen und das Paradies
auf die Erde herabzuzwingen. Sie sind alle auf dem gleichen Boden
gewachsen und haben stets die Deiche der Welt eingerissen
für die Dämonen und haben stets dem nihilistischen Chaos den
Weg bereitet. Das Wunder kann als Wunder erkannt werden nur
im bußfertigen Abstand; dem um seine wesenhafte Sündhaftigkeit
wissenden Menschen ist die Zeit höchst wirklich und zugleich
durchsichtig, weil vom Ende her durchleuchtet: Sie ist die
Aufforderung zum eschatologischen Warten, sie ist die Form
seines Noch-Nicht.

ALLGEMEINES: FESTSCHRIFTEN

[Schweitzer:] Ehrfurcht vor dem Leben. Albert Schweitzer. Eine
Freundesgabe zu seinem 80. Geburtstag. Bern: Haupt [1954]. 268 S.,
3 Abb. gr. 8°. DM 21.80.

Der Kernsatz Schweitzerscher Ethik hat dieser Freundesgabe
den Titel gegeben, zu der 3 3 Mitarbeiter aus aller Welt, Theologen
, Philosophen und Ethiker, Dichter und Schriftsteller, Musiker
und Ärzte, schlichte unbekannte Laien und Männer von
Weltruf ihren Beitrag (in deutscher oder französischer Sprache)
beigesteuert haben. Es handelt sich nicht um eine Festschrift in
üblichem Sinne, wie sie verdienten Fachgelehrten zuteil zu werden
pflegt, ist doch Albert Schweitzer über Beruf und Stellung
eines solchen weit hinausgewachsen, es ist eine Gabe, die die
Art einer Festschrift mit der Art einer tabula gratulatoria oder
einer Briefsammlung vereint, in der jeder menschlich und persönlich
sagt, was er an menschlicher Beziehung oder wissenschaftlicher
Förderung dem Gefeierten zu danken hat.

Auf diese Weise wird das Lebenswerk des großen Arztes
und Menschenfreundes, des Theologen und Kulturphilosophen,
des Orgelspielers und Bachforschers ungemein lebendig. Unter
den zahllosen Ehrungen, die Albert Schweitzer aus aller Welt erhalten
hat, dürfte diese Freundesgabe zu den bleibenden und
wertvollen gehören, an denen niemand vorbeigehen kann, wenn
er sich ernsthaft mit Albert Schweitzers Leben und Werk beschäftigen
möchte.

Den Reigen eröffnen — nach einem Grußwort des Herausgebers
Fritz B u r i, dem ein Inhaltsverzeichnis, ein Faksimile und
ein sprechendes Bild Schweitzers folgen — die Theologen, deren
Beiträge die Leser dieser Literaturzeitung vornehmlich angehen.

Martin Werner (Bern), der „Albert Schweitzers Antwort
auf die Frage nach dem historischen Jesus" behandelt, hebt hervor
, daß Schweitzers wichtigste These („daß in der synoptisch
bezeugten Lehre Jesu die wesentlich spätjüdisch-apokalyptisch
geartete Eschatologie als Inhalt der Naherwartung auftritt") bisher
nie widerlegt worden sei und daher seine „Geschichte der

Leben-Jesu-Forschung" bis heute an Aktualität für die Theologie
nicht verloren habe, obwohl sie fast 50 Jahre alt ist. Er tritt damit
der Meinung Schweitzers zur Seite, die dieser im Vorwort
zur 6. Auflage seines bedeutendsten theologischen Werkes (erschienen
1951, das in Lambarene geschriebene Vorwort datiert
vom 19. 8. 50) mit Entschiedenheit wiederholt hat, um hinzuzufügen
, ein anderer möge in das Chaos der neuesten (d. h. seit
1913 erschienenen) Leben Jesu Ordnung bringen, wie er es für
die früheren getan habe!

Jean Hering (Straßburg) bestimmt in seiner Untersuchung
(De H. I. Holtzmann a Albert Schweitzer) den theologischen
Ausgangspunkt Schweitzers, hebt die Bedeutung Baldens-
pergers für die Hauptthese der „konsequenten Eschatologie
hervor, behandelt besonders Schweitzers Paulusforschungen und
betrachtet ihn in kühnem Vergleich (hinsichtlich seiner Reserve
gegen psychologische Auslegung) als Vorläufer Karl Barths (von
dessen Neos-Kantisme er allerdings frei sei), um sich hinsichtlich
seiner Sprachgewalt mitunter an Nietzsche erinnert zu fühlen!

Rudolf B u 11 m a n n (Wissenschaft und Existenz) erörtert
in seiner bekannten subtilen Art das Verhältnis von Wissenschaft
(mit Natur und Geschichte als Gegenständen objektivierenden
Denkens) und Existenz, indem er für die Geschichtsbetrachtung
jenes Moment existentieller Begegnung hinzufügt, das
die Geschichte davor bewahrt, sie nach Analogie des Naturvcr-
laufs zu verstehen. Ist Existenz aber ihrem Sinne nach je meine,
über die ich nicht reden kann, weil ich allein aus ihr reden
kann (Existentielle Ereignisse halten nicht still und lassen es sich
nicht gefallen, produziert zu werden und Objekt der Beobachtung
zu sein), so hat das für die Theologie die Einsicht zur Folge, daß
ein Reden über Gott als ein objektivierendes Reden nicht möglich
ist, wiewohl ich den Sinn des Gottesgedankens und Glaubens
an Gott zu entwickeln vermag.

„Seine Offenbarung ist Offenbarung nur in actu und wird
nie zur Offenbartheit." Ist Gott „der Gast, der immer weitergeht
" (Rilke), so steht er immer vor mir als der Kommende, und
indem Bultmann zuletzt formuliert „diese seine ständige Zukünftigkeit
ist seine Jenseitigkeit", hat er auf seine Weise dem
Geburtstagskinde die „konsequente Eschatologie" als jüdisch-