Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1955 Nr. 12

Spalte:

727-732

Autor/Hrsg.:

Echternach, Helmut

Titel/Untertitel:

Zum Problem der Zeit 1955

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

727

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 12

728

Zum Problem der Zeit

Von Helmut Echternach, Hamburg

Es ist unmöglich, theoretisch-objektiv von der Zeit zu
sprechen: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn
ich es jemand erklären möchte, weiß ich es nicht", sagt Augustin
(Conf. XI, 14). Weil sie zu den innersten Strukturmomenten
des Menschseins gehört, kann man sie so wenig theoretisch,
sachlich in den Blick bekommen wie die Humanitas, die menschliche
Personhaftigkeit, selbst. Den Menschen theoretisch betrachten
, hieße, ihn zur Sache machen — seiner Personenhaftig-
keit berauben — ihn töten. Was aufgegeben ist, kann nicht als
gegeben behandelt werden. Anders gesagt: Zeit ist eine Kategorie
der Ethik; ihr Wesen kann erschlossen werden nur von
ihrer ethischen Bedeutsamkeit aus: daß das Jetzt einmalig ist
und mit seinen Gaben und Ansprüchen nie wiederkehrt; daß das
Vergangene unabänderlich ist und mich zur Rechenschaft zieht;
daß die Zukunft mich in jedem Augenblick fordert zur Entscheidung
, zum Einsatz, zum Wagnis. Nur eine auf dieser Basis
durchgeführte Phänomenanalyse könnte m. E. dem Wesen der
Zeit gerecht werden. Es ergibt sich daraus, warum alle andren
Ansatzpunkte unfruchtbar bleiben müssen: Da sie ein anthropologisches
Zentraldatum sachhaft betrachten, enthumanisieren
und vernichten sie den Menschen und ergeben darum konsequenterweise
einen Zeitbegriff, der Ausdruck der Nichtigkeit
ist. Bei den heidnischen Mythen ist das evident [s. u.]; es
gilt aber nicht weniger von den philosophischen Konsequenzen
der Relativitätstheorie — wonach die Zeit keine absolute
Größe ist, sondern nur relativ zum Bewegungszustand gilt und
somit eine der Relativitätsbeziehungen wird, die die Absolutheit
des Seins auflösen — wie von den Analysen Heideggers;
gerade hier fallen die Analogien zum mythischen Zeitverständnis
in die Augen: Einerseits ist die Zeit keine objektive Realität
, sondern das Zu-Sich-Selbstverhalten, das „Entwerfen" des
Daseins; die meßbare Uhrenzeit wird als sekundär angesehen.
Andererseits ist sie „früher als jede Subjektivität und Objektivität
" und wirkt damit als nichtendes Prinzip gegenüber dem Sein.

Daraus ergibt sich ein Problem, das seine starken religiösweltanschaulichen
Konsequenzen hat:

Ist die Zeit transsubjektive Realität — oder ist sie nur in
mir, ist sie also letztlich Schein, Illusion oder wenigstens eine
Realität zweiten Ranges?

Beide Standpunkte sind uralt; beide scheinen sich in der Gegenwart
zu besonders radikalen Konsequenzen zuzuspitzen.

I.

Die Auffasung der Zeit als einer objektiven Realität ist
uns zunächst vor aller Reflexion selbstverständlich: Die Zeit war
vor unserer Geburt da und wird lange nach unserem Tode weiterlaufen
. Sie ist un-endlich zumindest in dem negativen Sinn, daß
sich ein Anfang oder Ende nicht feststellen und auch nicht denken
läßt. Wir tauchen aus ihr auf, schwimmen eine kurze Strecke
und versinken wieder. Die innere Problematik dieses Standpunkts
und die Denkschwierigkeiten, die sich dabei ergeben, sind von
Kant in der sogenannten „ersten Antinomie" innerhalb der Kritik
der reinen Vernuft („Die Antinomie der reinen Vernunft,
erster Widerstreit der Transzendentalen Ideen)" klassisch aufgezeigt
worden und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.
Für die theologische Betrachtung ist dabei vor allem der Gesichtspunkt
wesentlich, daß dieser Zeitbegriff die Voraussetzung
für den heute so vulgär gewordenen Zweifel an der Unsterblichkeit
bildet und daß überhaupt auf seiner Grundlage sich das
sogenannte „moderne Weltbild" erhebt mit seiner Tendenz, den
Menschen und seine Welt zu nivellieren: Die Menschheitsgeschichte
schrumpft zusammen zu einem winzigen Atom zwischen
den Jahrhunderttausenden der Prähistorie und den Jahrmilliarden
des vorausgehenden kosmischen Geschehens einerseits, den
ebenso unübersehbaren nachfolgenden Zeiträumen andrerseits.
Genau entsprechend empfand man am Ausgang des Mittelalters
das kopernikanische Weltbild mit seiner Raumunendlichkeit als

Wilhelm Koepp zum 70. Geburtstag

gefährliche Bedrohung der biblischen Weltsicht, wonach det
Mensch im Mittelpunkt des Erdgeschehens steht und die Welt
primär der Schauplatz der — zeitlich begrenzten — Geschichte
Gottes mit dem Menschen ist. Aus diesen Gründen wurde Gior-
dano Bruno verbrannt! Nach biblischer Auffassung ist die Welt
endlich nach Raum und Zeit; darum hat jedes Einzelteilchen seine
reale Größe und Bedeutung, während in einem unendlidien
Zusammenhang jedes Einzelne = 1:00 = 0 wäre. Daran ändert
sich auch nichts Entscheidendes, wenn die neuere Physik das
Universum wieder für endlich hält und sein Alter auf 5 Milliarden
Jahre schätzt; auch diese Maße sind so erdrückend, daß sie
das geschichtliche Weltbild der Bibel durchkreuzen.

Der objektive Zeitbegriff ist also die Grundlage des nivellierenden
Begriffs der unendlichen Zeit. Muß er es sein? Aristoteles
, der ihn zuerst systematisch durchführte, hielt die Zeit
zwar für anfangslos, verband damit aber in keiner Weise die Vorstellung
einer unendlichen Welt. Die Zeit ist für ihn das Maß
der Bewegung; und da die Welt Bewegung auf das letzte Weltziel
hin ist, auf Gott, erstreckt sich die Zeit auf Gott hin. Vor
ihm hatte Plato gelehrt, die Zeit sei mit dem Himmel entstanden
; in Anknüpfung daran lehrt dann um die Zeitenwende der
jüdische Philosoph Philo von Alexandria, den Gedanken der objektiven
Zeit durch den biblischen Schöpfungsglauben modifizierend
, die Entstehung der Zeit mit der Welt. Dieser Gedanke
ist dann in der Patristik und Scholastik vielfach wiederholt worden
; so lehrt Augustin in dem großen Werk seiner späten
Jahre, der Civitas Dei; so auch Thomas von Aquino, so Luther.
Sie zeigen, daß die Lehre von der objektiven Zeit ihre dämonischen
Konsequenzen da verliert, wo sie modifiziert wird vom
biblischen Schöpfungsglauben. Vielmehr entfalteten sich die dämonischen
Konsequenzen erst da, wo der objektive Zeitbegriff
zum Ausdruck des neuen, in der Renaissance entsprungenen
Weltgefühls wurde, das sich rauschhaft begeisterte an der Unendlichkeit
der Welt und an der mit dieser mitgesetzten Nichtigkeit
des Menschen. (Jeder Rausch ist Ichvernichtung — von
seinen sublimsten Formen in der Mystik bis zu seinen trivialsten
.) Das Weltgefühl der Renaissance und der Neuzeit ist entsprungen
aus der mittelalterlichen Mystik. Wollte man weiter
zurückgehen, so würde man die Wurzeln in den dionysisch-
rauschhaften, den Menschen vernebelnden und enthumanisierenden
Kulten der Antike und schließlich im Menschenopfer der Urzeit
finden. Es ergibt sich daraus, daß der objektive Zeitbegriff
für sich diese Konsequenzen nicht in sich trägt; daß er erst dann
zur Mutter des modernen Weltbildes wurde, als er von dämonischen
Mächten befruchtet wurde.

II.

Vorherrschend ist im gegenwärtigen — theologischen wie
philosophisdien — Denken die Neigung, die kosmische Realität
der Zeit abzuschwächen und sie als subjektiv-illusionär oder je
denfalls als etwas nur dem Menschen Immanentes zu verstehen.
Auch diese Auffassung ist uralt; ihr Ursprung liegt bei Parme-
nides: Wirklichkeit ist nur das eine, unbewegte Sein; wir leben
in einer Welt des Scheins, zu deren wesentlichen Kriterien neben
der Vielheit vor allem die Zeit gehört. Diese ist nichtig in doppeltem
Sinne: Sie ist unwirklich, nichtiges Prinzip in einer Welt
des Scheins; und in ihr versinkt, was in ihr entstand; ihr Wesen
erscheint in Polarität, Gegensatz und Vernichtung.

Das irreale Zeitverständnis ist also wurzelhaft verbunden
mit einer akosmistischen Weltansicht. Das bestätigt sich im Laut
der weiteren Entwicklung: Ist die Zeit keine objektive Wirklichkeit
, so wird die Außenwelt entweder zum Schein (so z. B. bei
Schopenhauer) oder jedenfalls zur „Erscheinung" minderen Wirklichkeitsgrades
(so etwa bei Kant). In dieser Richtung hat auch
Plotin gedacht, und von ihm beeinflußt hat Augustin — in einer
m. E. nicht ausgleichbaren Spannung mit dem von Philo übernommenen
modifizierten Platonisch-Aristotelischen Zeitbegriff-