Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1955 Nr. 12

Spalte:

713-726

Autor/Hrsg.:

Hermann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Über den Sinn des Μοϱφουσϑαι Χϱιστον εν υμiν in Gal. 4, 19 1955

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5, Seite 6, Seite 7

Download Scan:

PDF

713

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 12

714

sage nur dann als gegeben an, wenn sie eine mögliche Anthropologie
, freilich eine ganz bestimmt qualifizierte Anthropologie
werden kann. Es passiert aber in den heilsgeschichtlichen
Fakten mehr im „Himmel", also im extra me, als in dem nous,
der das Selbstverständnis bildet. Vgl. über diese Unterscheidung
des extra und intra me, die wir an „Person und Werk Christi"
exemplifizierten, auch die genau entsprechenden Aussagen über
den Heiligen Geist als Person und Werk in Conf. Aug. I. —
Bultmanns Denken steht hier deutlich in der Tradition der Bewußtseinstheologie
(Schleiermacher, Ritsehl, Herrmann).

3.) Genau zu erfragen ist noch der Mythos-Begriff Bult-
manns, ganz besonders daraufhin, inwieweit Momente der Hegelianer
bzw. der Linkshegelianer (D. F. Strauß) in ihm wirksam
sind. Vor allem aber erscheint es mir notwendig, eine Unterscheidung
vorzunehmen, die bei Bultmann verhängnisvollerweise
nicht auftaucht: die Unterscheidung nämlich

a) zwischen dem Mythos als einem ideologischen Kerygma,
das einen ganz bestimmten inhaltlichen scopus, man könnte sogen
: eine „Weltanschauung" besitzt, die maßgeblich durch den
zyklischen Zeitbegriff bestimmt ist. Hierbei verstehe ich unter
„Weltanschauung" keineswegs eine bestimmte Kosmologie, sondern
ich verstehe darunter den ganzen Komplex ontologischer und
normativer Aussagen, wie er in einem totalen, den Sinn des
Seins und des Daseins interpretierenden Selbstverständnis liegt.

Von dieser weltanschaulichen Gesamttendenz des Mythos,
von seinem Kerygma also, muß

b) unterschieden werden dasjenige, was ich als „die Einzelelemente
der mythischen Bildersprache" bezeichnen möchte. Es
könnte doch sein, daß das Alte und Neue Testament jene Einzelelemente
zwar der religionsgeschichtlichen Umwelt als Ausdrucksmittel
entnommen hätten, — und zwar in gleicher Weise, wie abstrakte
Begriffe, z. B. der Logos-Begriff, einfach durch das Vehikel
der Sprache übernommen wurden —, daß sie aber jene Einzelelemente
ihres ideologisch-mythischen Vorzeichens beraubt hätten
. Ich habe mir sagen lassen, daß kaum eines der überlieferten
Logien Jesu nicht schon im Rabbinismus vorkomme; und doch
sind diese Logien innerhalb der Evangelien völlig anders qualifiziert
und zu einem neuen Kerygma geworden. Ähnlich könnte
es mit den mythischen Elementen sein. Dann aber wäre damit die
Aufgabe gegeben zu zeigen, inwieweit Altes und Neues Testament
selbst bereits wesentliche Akte der Entmythologisierung
vollzogen hätten, sofern man nämlich unter Entmythologisierung
die Befreiung vom inhaltlichen Kerygma der Mythen verstände
. Man würde dann im Hinblick auf die Auseinandersetzung
mit Bultmann freilich immer noch vor den unter 1) und 2) aufgewiesenen
Problemen stehen und zeigen müssen, welche Beziehung
zwischen den mythischen Bild - Elementen und den
geschichtlichen Fakten bestünde bzw. ob und inwieweit Bultmann
durch seinen Begriff der Geschichte — und nicht primär
durch den des Mythos! — außerstande gesetzt ist, die Anwesenheit
der Transzendenz in der Immanenz (Inkarnation!) zu denken
und daß er sie darum (!) als illegitime Vergegenständlichung
Gottes, als „Mythos" verstehen muß. Denn unter Mythos begreift
er ja die Vergegenständlichung supranaturaler Daten, vor
allem die Vergegenständlichung Gottes im Sinne seiner Hineinziehung
in die Vorfindlichkeit. Insofern muß Bultmann dann
unter einer Entmythologisierung, wie sie das Neue Testament
selbst vollzieht und von der er durchaus auch selber sprechen
kann, notwendig etwas anderes verstehen, als was w i r in den
obigen Sätzen damit umschrieben.

Über den Sinn des MoQyovo&cu. Xqiozöv iv v/uiv in Gal. 4,19

Von Rudolf Hermann, Berlin

Wilhelm Koepp zum 70. Geburtstag

l

Die Stelle Gal. 4, 19 wird zumeist als besonderer Beleg für
die Christus-Mystik des Paulus angeführt. Sie ist das auch, wenn
sie in der üblichen Weise verstanden wird. Sie kann aber auch
anders, in nicht mystischem Sinne, gedeutet werden und hat das
auch früher anscheinend nicht selten erfahren. Für das Verständnis
des Paulus sowohl wie für das christliche Denken ist es nun
nicht gleichgültig, was Paulus hier gemeint hat. Wir wollen dem
im Folgenden nachgehen1.

Gal. 4, 19 lautet: . . . zexva pov, o?"c nnliv (hdtvm fiex-
Qic ov fiOQCpordV Xqiotoc ev vplv. In Weizsäckers Übersetzung
: „Meine Kinder, um die ich abermals Geburtsschmerzen
leide, bis Christus möge in euch Gestalt gewinnen."

Die übliche Deutung, die schon sehr alt ist, geht auf die
geistliche Geburt derer, an die Paulus sich hier wendet. Bei Ori-
genes (G. ch. S., Bd. VIII, S. 263 u. S. 213) ist Paulus der Vater
ihrer geistlichen Geburt. Laut S. 213 (Kommentar zum Hohenlied
) bewahrt Gott ihr Gebären ... ut perfecta sit eorum nativi-
tas et tamdiu parturiant, donec formetur Christus in iis.

Wir denken auch an die Strophe von Tersteegen (aus dem
Weihnachtsliede „Jauchzet, ihr Himmel..."):

Süßer Immanuel, werd auch geboren inwendig.

Komm doch, mein Heiland, und laß mich nicht länger elendig.

Wohne in mir, mach' mich ganz eines mit dir.

Und mich belebe beständig!

Aber bereits an den Worten des Origenes wird die eigentümliche
Schwierigkeit des Textes, wenn man ihn als geistliche
Geburt interpretiert, deutlich. Paulus hat Geburtswehen, und die
Galater scheinen gebären zu sollen; denn in ihnen gewinnt
Christus Gestalt, vergleichbar dem menschlichen Embryo. Oder
— wenn Paulus der Gebärende sein soll und die Galater, christus-

') Vergleichsstellen, Literatur und wichtige Hinweise siehe bei Johannes
Behm in Kittels Theol. Wörterbuch zum NT. Artikel fioQ<pöco,
ftÖQqxoan, fiOQ<p>'i etc.

gestaltet, die Geburt, so verkehren sich die Zeiten, da das Gestaltgewinnen
im Mutterleibe zuerst kommt und daraufhin erst
die Wehen'. Burton, der selber für die erste Fassung eintritt,
meint, das Bild behalte so doch eine gewisse Einheitlichkeit, da
die Wehen dann so lange dauern würden, bis das Kind die Züge
des zeugenden Vaters (Christus) annehme. Indessen, der Gedanke
, daß Christus mit Paulus gleichsam als Frau die Gemeinde
zeuge, erscheint mir als fernliegend und fremdartig. — Eine dritte
Möglichkeit wird noch von Burton erwogen, nämlich, daß die
Bildsphäre bereits mit (bdlvco abschließe und daß dann die Worte
/A&XQIG ov die geistliche Geburt betreffen — ohne daß an den
Geburtsvorgang im physiologischen Sinne dabei gedacht
werde. Gewiß, es gab wohl im Judentum (vgl. Kittels
Wörterbuch I, 666, 21 ff., zitiert zu IV, 761, 18) eine abgeblaßte,
szs. rationale Weise, das Bild der Geburt — etwa auf den Gewinn
eines Proselyten durch einen Juden — anzuwenden. Aber einmal
kommt an den zitierten spätjüdischen Stellen (bdlvco nicht vor,
und sodann ist auch die Vokabel ftoQrpovv in Gal. 4, 19 biblisches
Hapaxlegomenon (auch in den LXX nur einmal bei Aquila
Jesaia 44, 13), so daß man sie, wenn man schon an geistliche
Geburt denkt, dann besser prägnant versteht.

Wir stoßen also, wie wir auch exegisieren mögen, auf starke
Inkonzinnitäten in dem von Paulus verwendeten Bilde. Natürlich
kann man — mit Burton u. a. — versuchen, darüber durch
Hinweis auf andere — für unser Gefühl bestehende — Unebenheiten
in der paulinischen Bildrede (Rom. 7,9; l.Thess. 2,7)
hinwegzukommen. Aber an beiden Stellen — wir gehen jetzt
nicht auf sie ein — lassen sich die Anstöße leichter aufheben,
während wir hier zwischen einem Geborenwerden Christi durch
die Gemeinde und einem Gestaltgewinnen — aber was heißt das?
— Christi in der Gemeinde in Gedanken hin und her geworfen

') Vgl. E. D. Burton: In The International Critical Commentary
on the Holy Scripturei of the Old and New Testaments. New York u.
Chikago 1920.