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Ausgabe:

1955 Nr. 1

Spalte:

48-49

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Ebneter, Albert

Titel/Untertitel:

Der Mensch in der Theologie Karl Barths 1955

Rezensent:

Weber, Otto

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 1

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„Vereinbarung" der widerstreitenden Aussagen werden als unzulänglich
abgelehnt. Das neutest. Zeugnis hat in dieser Sache
keine systematische Einheit, die Widersprüche sind „gedanklich
unüberbrückbar" (176). Aber das Widersprechende gehört zusammen
in einer „existentiellen Einheit". Das Evangelium ist
nicht eine allgemeine Wahrheit, nicht ein Prinzip, sondern ein
Ereignis. Dem gemäß sind „die gegensätzlichen Momente der
apostolischen Parainese nicht zu verstehen als die sich gegenseitig
eingrenzenden relativierenden Momente eines zeitlosen Lehrganzen
, sondern als die Stationen eines Weges, die Schritte einer
Bewegung, die gerade in ihrer bewegten Gegensätzlichkeit
zusammengehören" (184). Das gilt für die Spannungen innerhalb
der ntl. Verkündigung überhaupt. Der Mensch wird den Weg
durch die gedanklich nicht vereinbaren Worte hindurchgeführt
(177). Die Einheit des Zeugnisses ist nicht „vorhanden",
aber sie geschieht, ereignet sich im „Vollzug seines Wirkens
an mir" (180). „In jedem Wort der Schrift wird das Gespräch
von Gesetz und Evangelium geführt" (188). „Das NT
erweist sich als Einheit nicht im System, sondern im Vollzug des
Weges; nicht indem Matthäus und Paulus dasselbe sagen, sondern
indem Matthäus das ihm aufgetragene Wort ausredet und
nun freilich auch Paulus sein Wort sagen wird" (187).

Als Antwort auf die Frage, wie Luthers Lehre sich zum NT
verhalte, ergibt sich wesentliche Übereinstimmung: „Luthers
Theologie ist nicht eine dogmatisch einseitige Konstruktion, sondern
sie ist aus einem tiefen, unter alle oberflächlichen Systematisierungen
hinabgreifenden Verstehen des NT erwachsen. Seine
klar festgehaltene Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
entspricht der realen Dialektik des ntl. Wortes" (192). Und Luther
stimmt mit dem NT auch darin überein, daß er „trotz seiner
Lehre von der spontaneitas des Glaubens, die jenseits des Gesetzes
steht, Raum für eine Begegnung gerade des Glaubenden mit Gottes
konkretem Gebot" behält (191).

Der Schluß des Buches kehrt mit diesem Ergebnis zu der
gegenwärtigen theologischen Auseinandersetzung über Gesetz
und Evangelium und den tertius usus legis zurück und sucht die
gewonnenen Erkenntnisse für sie fruchtbar zu machen. Den Verfechtern
der Einheit von Evangelium und Gesetz wird gesagt, daß
sie die Schrift gegen sich haben, wenn sie das Gesetz im Sinne
der Erfüllung der Gebote als Bedingung des Heils für den Sünder,
also die Antithese von Gesetz und Evangelium, „überhaupt aus
dem Bereich des Wortes Gottes" ausschließen wollen (199). Hier
handelt es sich um eine „allzu direkte Evangelisierung des Gebotes
, in der sein vorhergehendes gesetzliches Amt einfach ignoriert
wird" — muß sie nicht schließlich zu einer „gesetzlichen
Halbierung des Evangeliums umschlagen"? „Es gibt in der Tat
ein Einswerden von Evangelium und Gesetz, aber es ist ein kon-
tingentes Eins -werden, nicht ein prinzipielles Eins -sein"
(199). Mir scheint, daß hier eine Gefahr der Theologie Barths
und die Überlegenheit, nämlich die völligere Biblizität der Theologie
Luthers gegenüber den Thesen Barths unwidersprechlich
aufgedeckt ist (s. bes. auch S. 238, A. 95).

Die außerordentliche Freude, mit der der Referent das Buch studiert
hat und hier nun anzeigt, hat ihren Grund neben der theologischen
Leistung des Buches als solcher auch darin, daß Joest und ich
völlig unabhängig' voneinander in einigen Thesen zusammentreffen, die
uns beiden am Herzen liegen (vgl. meine Schrift: Gebot und Gesetz,
19 52). Die erste ist der Vorschlag, „Gebot" und „Gesetz" zu unterscheiden
. Den Sünder trifft das Gebot als lex implenda, ihm ist das
Gebot Gesetz. Aber unter dem Evangelium, auf Grund der lex impleta.
ergeht an den Christen das Gebot, das nicht mehr Gesetz ist (196 ff.).
Damit ist die zweite These gegeben: Gottes Gebot bleibt als solches,
als Wille Gottes an den Menschen, auch im Christenleben erhalten:
dieses vollzieht sich nicht als „Spontaneität instinkthaften Getriebenwerdens
, in der... die Korrelation von Wort und Hören, Gebot und
Ja des Gehorsams aufhören würde" (197). Drittens: das soll man aber
nicht mehr als tertius usus legis bezeichnen; Joest will stattdessen
„einen usus legalis und einen usus evangelicus des Gebotes unterscheiden
" (200).

Das Buch hat auch hohe schriftstellerische Qualität. Es ist
voll innerer Bewegtheit und zieht den Leser in sie hinein. Man
liest es mit ungewöhnlicher Spannung, ja Erregung, weil es die
Fragen sehr lebendig stellt, sich selbst oder Luther jeden möglichen
Einwand macht, die Probleme nirgends vorschnell zur Lösung
führt, sondern höchst besonnen und umsichtig alles ins
Auge faßt. Und doch führt es immer wieder zu sehr klaren Ergebnissen
, die auf bestimmte disjunktive Formeln gebracht werden
. Durch das ganze Werk zieht sich eine reiche Auseinandersetzung
mit der Literatur, vor allem in den fast 40 Seiten engen
Druckes füllenden Anmerkungen, deren einige (z.B. die G. Söhngen
gewidmete) den Umfang kleiner Artikel haben. Zudem ist
das Buch bei allem Scharfsinn, aller Strenge und Differenziertheit
der theologischen Erörterung in einem ausgezeichneten Deutsch
geschrieben, sehr lesbar und klar, oft bildkräftig, ohne jene abstrakte
Geheimsprache der Zunft, über welche die Pfarrer heute
mit Recht klagen. Es ist randvoll von schlagenden, einprägsamen
Formulierungen. Durch beides, durch das für alle unsere Verkündigung
so brennende Thema und durch die Lesbarkeit, ist es in
besonderem Maße ein Geschenk auch an die Pfarrer und Religionslehrer
. Darüber hinaus wünscht man es in die Hände vieler
katholischer Kollegen und Studenten: sie begegnen hier der
Theologie Luthers in einer packenden genuinen Interpretation
und werden zugleich sehr eindringlich gefragt, ob sie den Reformator
nicht als echten Ausleger des ganzen Neuen Testamentes
anerkennen müssen.

Eine Frage an Joest bleibt mir an eben dem Punkte, an dem
er in Sachen des Jakobus-Briefes auf eine These von mir eingeht
(Die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott, in: Das Menschenbild
im Lichte des Evangeliums. Festschrift für E. Brunner, 1950,
S. 45 f.; vgl. auch: Die lutherische Rechtfertigungslehre und ihre
heutigen Kritiker, Evang. Verlagsanstalt Berlin, 1951, S. 33).
Joest übt zwar, wie ich, bestimmte Kritik an Lackmanns
Sola fide, der Studie über Jak. 2 zur reformatorischen Rechtfertigungslehre
, 1949 („ ... so ist damit nicht nur der Theologie Luthers
das Herzstück ausgebrochen. Es ist auch Paulus getroffen
...", 231, A. 50). Aber er äußert doch zugleich Bedenken
gegen eine immanente Kanonskritik, wie ich sie im Blicke auf
Jak. 2 gefordert und geübt habe (237, A. 88 und 90). Gerade
„die Einsicht in den realdialektischen Charakter des neutest. Wortes
" zwinge hier zu großer Vorsicht. Aber ist Jak. nicht, wie bei
Joest selber klar herauskommt (187), dadurch von den anderen
neutest. Schriften unterschieden, daß diese, auch Matthäus (161),
die reale Dialektik in sich selbst haben, Jak. aber nicht, denn ich
kann nicht zugeben, daß der Ruf des Jak. Briefes zu unbedingtem
Glauben (1, 5 ff.) eine solche Dialektik bei ihm selber begründet;
denn dieser unbedingte Glaube kommt eben im Zusammenhange
der Frage nach der Rechtfertigung nicht vor. Aber da
soll nun noch Joest geltend gemacht werden, daß der Brief „ein
Glied im Ganzen des NT" ist. Das soll eine „isolierte Auseinandersetzung
" mit ihm verbieten. Aber bedeutet es nicht ein
Stück durch das vorgegebene Ja zum Kanon geleiteter Harmonisierung
, wenn Joest auch Jak. mit seiner ganz eindeutigen, durch
keinen anderen Pol in dialektische Bewegung aufgenommenen
These in die neutest. Dialektik mit einbeziehen will? Muß man
nicht doch mit Luther namens eben jener echten Dialektik gegen
Jak. polemisieren, Schriftkritik üben?

Für die neue Auflage, die man nicht nur wünschen muß, sondern
voraussagen kann, wäre zu wünschen, daß die Stellen aus Luthers Römerbriefvorlesung
nicht nur nach Fidcer, sondern auch nach der Weimarana
angegeben würden. — Sehe ich recht, so wird die schöne Studie
von W. L ü t g e r t, Die Furcht Gottes (zuerst in der Festschrift für
M. Kahler, 1905) nicht erwähnt. Joest wird Freude an ihr haben. —
An Druckfehlern notiere ich: S. 221 Z. 9 lies „Thieme" statt „Thiele";
S. 238 muß es in Anm. 93 statt „Anm. 307" vielmehr heißen:
„Anm. 306".

Erlangen Paul Althaus

Wingrcn, Gustaf, Prof.: Gott und Mensch bei Karl Barth. Berlin:
Lutherisches Verlagshaus 1951. 31 S. 8°. DM 1.90.

E b n e t e r. Albert: Der Mensch in der Theologie Karl Barths. Zürich:
Verlag „Orientierung" [1952]. 47 S. 8°. sfr. 2.20.

Dijk, M. P. van: Existentie en genade. Grondgedachten en samen-
hangen in de Kirchliche Dogmatik van Karl Barth. Franeker: T. Weyer
1952. 191 S. gr. 8°. Lw. hfl. 7.90.

Seit der weit ausgreifenden und in die Tiefe dringenden kritischen
Würdigung, die Barth 1951 durch H.Urs von Balthasar
erfahren hat, ist es nicht mehr besonders leicht, etwas Ähnliches
zu versuchen, es sei denn vom Standpunkt der Konzeption Bult-