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Ausgabe:

1955 Nr. 11

Spalte:

611-613

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Dumontier, Pierre

Titel/Untertitel:

Saint Bernard et la Bible 1955

Rezensent:

Andersen, Carl

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 11

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gehens spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß dabei die literarischen
Methoden des Mt und Lk und die theologischen Interessen, von
denen sich jeder in seiner Weise leiten läßt, sichtbar werden.

Den Schematismus der Reden sucht V. durch eine Analyse der
fünf matthäischen Redekompositionen, die in ihrem Grundbestand
angeblich der triple tradition angehören, zu erhellen (Exkurs IV
bringt eine eingehende Untersuchung von Mt 18) und ihn als
Charakteristikum von M zu erweisen. — Es ist nicht möglich, hier
eine detaillierte Kritik zu geben; ich kann nur ihr Ergebnis nennen:
Bewiesen ist lediglich — noch einmal mehr —, daß die Synoptiker
aus einer Überlieferung der Worte Jesu schöpfen; V.s Rekonstruktion
dieser Überlieferung ist sehr problematisch. Das Entscheidende
aber, diesen Redestoff in die Vorlage auch des Mk einzu-
schwärzen und nachzuweisen, daß Mk große Teile „ausgelassen"
oder „unterdrückt" hat, ist hier ebensowenig gelungen wie in den
früheren Abschnitten. Die Zwei-Quellen-Theorie erklärt den Sachverhalt
einfacher und überzeugender.

3. Die Semitismen (Hebraismen und Aramaismen), die sich
bei Mt und Lk gegen Mk oder bei einem der beiden gegen die
andern zwei finden, sollen schließlich beweisen, daß die postulierte
Quelle aramäisch abgefaßt war. — V. macht in diesem Abschnitt
mehr prinzipiell methodologische als praktisch argumentierende
Ausführungen; er notiert ein paar Fälle, in denen sich die semitische
Parataxe und der unpersönliche Plural bei Mt oder Lk, aber
nicht in den Mk-Parallelen finden — aber das Umgekehrte kommt
auch vor, und die Übersetzung einer ganzen Quellenschrift aus
dem Aramäischen ist damit ebensowenig erwiesen wie die Existenz
dieser Quelle.

Für die Abfassung dieser postulierten aramäischen Quelle
durch den Apostel Matthäus macht V. den Namen in Mt 9, 9 geltend
(mit der Skizze einer sehr komplizierten Überlieferungsgeschichte
, weil Mk und Lk ja den Levi nennen) und argumentiert
sehr hübsch: „Ein an die Feder gewöhnter Sekretär vom Zollbüro
war unter den Aposteln am meisten geeignet, die Jerusalemer Katechese
des Petrus zusammenzustellen" (83); infolge seiner Kompetenz
im Steuerwesen benutzt er die entsprechende Terminologie
und hat er ,,un certain goüt pour la mystique des nombres" (84);
als ehemaliger Zollsekretär ist er stramm antipharisäisch. Interessant
ist, daß V. nebenbei die Autorität des Petrus auch für den
aramäischen Urmatthäus reklamiert, wie ehedem Papias für das
Mk-Evangelium.

Die „Observations complementaires" gelten der griechischen
Übersetzung dieses aramäischen Evangeliums (Mg); sie bringen
zuerst die äußeren Zeugnisse, bes. die Notiz des Papias über die
verschiedenen Mt-Übersetzungen (weiteres Material in Exkurs II.
AB), und dann die inneren Indizien aus den Synoptikern selbst:
gewisse Eigentümlichkeiten literarischer Art (Übereinstimmungen
von Mt-Lk gegen Mk im griechischen Ausdruck, die Eigenart der
at.lichen Zitate u. a. m.) fordern die Existenz von Mg als Bindeglied
zwischen M und den Synoptikern. Gegen die Folgerungen
aus einer kritischen Nachprüfung sucht V. seine These durch die
Vermutung zu schützen, daß Mg den drei Evangelisten in leicht
differierenden Exemplaren vorgelegen habe. Ich will darauf nicht
näher eingehen.

Die kritische Prüfung des entscheidenden Kapitels ergibt ein
völlig negatives Urteil: der Beweis für eine dem Mt, Mk und Lk
gemeinsame aramäische Quelle ist nicht erbracht; sie ist nur
Postulat.

Die zweite synoptische Quelle S ist aus der „double tradition
" von Mt-Lk zu erschließen (Definition oben im 2. Absatz).
Sie umfaßt den Teil des üblicherweise der Quelle Q zugeschriebenen
Spruchgutes, den V. nicht in der triple tradition untergebracht
hat. S ist eine Sammlung von Herrenworten, die zur Ergänzung
von M (Mg) veranstaltet wurde. — Die critique externe
strapaziert den Lk-Prolog und die Papiasnotiz, bis sie „une dis-
crete allusion" (102) auch auf diese Quelle hergeben. Die critique
interne führt den Beweis für die Existenz von S aus Lk 9, 51-18,
14, dem „livret hors de serie". Dieser Komplex — das Sondergut
bleibt unberücksichtigt — enthält keine Elemente der triple tradition
— was so aussieht, seien Dubletten —, wohl aber Stücke, die

sich nur bei Mt, und zwar in anderem Kontext, finden und die
nicht von Mk ausgelassen sein können. Der Vergleich der so
charakterisierten Mt-Lk-Parallelen zeigt eine frappante Verwandtschaft
der einzelnen Stücke, die sich am besten durch die Annahme
einer gemeinsamen Quelle erklärt; V. führt die geringeren Differenzen
auf „les reactions personelles des deux auteurs" (116), die
stärkeren auf den Einfluß mündlicher Tradition zurück. Noch größere
Beweiskraft mißt er den Elementen des luk. Reiseberichtes
bei. die bei Mt u n d Mk Parallelen haben: wenn Mt und Lk dasselbe
Logion nicht nur im Kontext von M, sondern, leicht variiert,
noch einmal in anderem Zusammenhang, d. h. also als Dubletten
bringen, dann müssen sie aus einer schriftlichen Quelle geschöpft
haben. — In den ..observations complementaires" sucht V. Umfang
. Ordnung und literarischen Charakter von S zu bestimmen;
der Autor ist unbekannt, aber sicher ein Mann des apostolischen
Milieus, vielleicht Matthäus selbst, die Ursprache ist aramäisch,
Abfassungsort Jerusalem, Abfassungszeit 55-65.

Die Beobachtungen, die V. in der critique interne macht,
haben die Forschung bekanntlich zu der Annahme von Q geführt
und sie die Existenz von Dubletten so erklären lassen, daß Mt
und Lk dasselbe Logion einmal nach Mk und einmal nach Q bringen
. Die Tatsache, daß Mk die „Lehre" Jesu, d. h. Q oder eine
verwandte Spruchtradition, gekannt hat und aus ihr Beispiele
bringt; die Manier des Mt, Reden zu komponieren, die Technik
dieser Komposition und die Art der Einfügung dieser Komplexe
in den Mk-Rahmen; das „Zersägen" einzelner Logien, bes. der
Bildworte: dies alles läßt die Besonderheit, die Geschichte und den
gegenwärtigen Zustand der Wortüberlieferung besser verstehn, als
es durch die rein literarkritische Methode V.s möglich ist. Die
spezielle, reduzierte Gestalt, die V. dem Redestoffe in seiner
Quelle S gegeben hat, hängt an der Existenz des aramäischen Urmatthäus
; mit diesem fällt auch die „zweite synoptische Quelle S"
dahin.

Ich verzichte auf einen kritischen Bericht über die drei letzten
Etappen. — Was wäre mit der Annahme dieser neuen Hypothese
gewonnen? Eine rein ouellenkritische Auffassung vom Werden der
Svnoptiker und die AuthrntiTität des ersten Evangeliums, gewiß.
Aber was leistet diese Theorie als Arbeitshvpothese? Man hätte
statt mit einer relativ Unbekannten. Q. (relativ unbekannt nach
Umfang, Ordnung und Wortlaut") mit vier völlig Unbekannten zu
rechnen, dem verlorenen aramäischen Urmatthäus, der verlorenen
aramäischen Quelle S und ihren ebenfalls verlorenen griechischen
Übersetzungen. Man könnte die einzelnen Elemente nun auf M
und Mg. S und Sg statt auf Mk und Q verteilen; inwiefern dies
kein „procede enfantin" (444) wäre, müßte der Vf. noch einsichtig
machen. Für die Erkenntnis der Geschichte Jesu ist bei der „ordonnance
systematique des materiaux" in M trotz apostolischer Herkunft
nicht gewonnen: man steht bei dieser neuesten wie bei
jeder andern Quellenscheidung doch wieder dem Einzelbericht und
dem Einzelwort gegenüber und muß ihre ursprüngliche Form und
ihren ursprünglichen Sinn zu rekonstruieren versuchen — man steht
mit dieser neuen Arbeitshypothese vor denselben Aufgaben, vor
denen die Formgeschichte schon vor 3 5 Jahren stand. Für die Erkenntnis
des Werdens der Synoptiker und für das Verständnis des
einzelnen Textes dürfte die formgeschichtliche Methode, der V.
eine ebenso kurze wie heftige Kritik widmet (48-50), brauchbarer
sein.

Ich will auf diese Kritik nicht eingehen, da der Vf. sich vor
allem die Destruktion der Zwei-Quellen-Theorie zur Aufgabe
gemacht hat. Nur dies sei noch bemerkt: Die lose Verknüpfung
des synoptischen Stoffes verführt immer wieder zu neuen Quellenhypothesen
und beschert der Wissenschaft ein Kaleidoskop von
„Lösungen", die außer ihrem jeweiligen Schöpfer niemanden überzeugen
. Die quellenkritische Arbeit an den Synoptikern hat, wie
die neusten Versuche von Hirsch, Helmbold und nun Vaganay
zeigen, mit der Zwei-Quellen-Theorie tatsächlich ihr Ende erreicht.
Von all diesen fruchtlosen Versuchen gilt das Urteil, mit dem
Vaganay die Zwei-Quellen-Theorie bedacht hat: „En somme on
n'echappe ä l'invraisemblance que pour tomber dans l'arbitraire"
(127).