Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1955 Nr. 10

Spalte:

585-592

Autor/Hrsg.:

Jaenicke, Hans

Titel/Untertitel:

Die Kirche und die Welt der Arbeit 1955

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

625

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 10

626

zuleiten und angemessene Therapie zu fördern. Man ist mit diesem
Buch zu Gast bei einem gescheiten Mediziner, der über die
Maßen bescheiden ist. Gelegentlich wird das Wort des Theologen
Martin Kahler zitiert: „Bescheiden sein heißt Bescheid wissen."

Es ist aber sehr schwer zu sagen, worin nun Siebedc in besonderer
Weise Bescheid weiß. Deutlich zeigt sich seine Erkenntnis
von der „Ordnung". Sie wird nicht durch exakte Einzelheiten
erfaßt, sondern zeigt dem, der das Auge dafür bekommt, daß sie
gegeben ist. Also nicht daran allein lernen wir, daß wir Einzelfunktionen
studieren, wir müssen vielmehr erkennen, daß und
wie sie im großen Organismus zusammengehören, dessen Gesundheit
davon abhängt, daß das „Spiel der Ordnung" möglichst
wenig gestört wird. Darum ist auch wenig damit getan, „Stimmung
" und „Verstimmung" zu studieren und darüber und dazu
Ratschläge zu geben. Wohl kommt es darauf an, daß der Arzt
Leib und Seele zu erkennen vermag, aber darüber hinaus muß
er vom Geist wissen, auf daß der Mensch seine „Bestimmung"
lerne und für sie offen wird.

Siebeck ist, genauso wie er in den Naturwissenschaften daheim
ist, mit der Philosophie und der Dichtung vertraut. Man
begegnet in seinem Buch neben den exaktesten Methoden und
der Anweisung, zu ihnen zu gelangen, bis hinein in pedantische
Genauigkeit der Rezeptanweisung, den Erkenntnissen der Philosophie
und der das Leben der Menschheit erhebenden Dichtung.
So teilt er aus Goethe und Hölderlin mit, führt Jean Paul und
Fontane auf sein Katheder, vor allem den „unvergleichlichen,
vielleicht den besten Kenner der menschlichen Triebe und Schicksale
, Shakespeare" (S. 479). Dies alles dient dem Arzt; dem Arzt,
der kein Schulmeister und noch weniger ein Feldwebel des Staates
, der Gesellschaft oder des Betriebes ist, sondern ein dem
Kranken freundschaftlich, ja brüderlich zugewandter Helfer, kein
„magister naturae", sondern ein „minister", „zugleich auch
Zeuge des Geistes, der uns erfüllen möchte, damit wir aus der
Liebe Gottes uns untereinander in Liebe dienen" (S. 48 3).

Die Verwandtschaft dieses Buches mit dem Studium der
praktischen Theologie und der Übung des Seelsorgers wird am

deutlichsten offenbar an den sorgfältig, genau und individuell
gearbeiteten Krankengeschichten. Sie sind nicht Protokolle, begnügen
sich nicht, Vorgeschichte der Krankheiten zu geben, sondern
sind Beiträge zur Lebensgeschichte. An ihnen und ihrem
Zusammenhang mit der Darbietung der wissenschaftlichen Erkenntnisse
lernt man mehr als an manchem Lehrbuch der Psychologie
oder Soziologie. Man gewinnt das Buch lieb als ein
Gastgeschenk eines wahren Ehrendoktors der Theologie, nicht
nur wegen seines klaren Bekenntnisses zum Dienst in der Liebe
untereinander, nicht nur wegen seines entschiedenen Hinweises
auf die Offenheit für die Wirklichkeit, die aus dem Worte kommt,
das als Wort Gottes alle anruft, um den zu erkennen, der uns
zugute Mensch wurde.

Es ist ein theologisches Buch nicht wegen seines offenen
Dankes für die Dogmatik von Karl Barth. Die darin enthaltene
Würdigung der theologischen Arbeit ist auch deshalb bedeutsam,
weil sie eine durchaus selbständige und, wie mir scheint, wertvolle
Frucht der theologischen Arbeit ist, die nach dem ersten
Weltkrieg einsetzte. Die Selbständigkeit und Fruchtbarkeit gewinnt
noch dadurch an Gewicht, daß wir hier einem Forscher und
Arzt gegenüberstehen, der offenkundig immer zugleich waches,
beteiligtes, auf das Wort der Schrift hörendes Gemeindeglied ist
und sein will. So wird dieses wissenschaftliche Buch weit über das
Fachgebiet hinaus ein Zeugnis für das lebendige Ineinander von
Kirche und allgemeiner Geistesgeschichte, von Welt und Ewigkeit
, im Speziellen für das Wort, das in die Welt eingeht, zu rufen
und bereit zu machen für die Welt, der sich Gott selber hingab
. Darin liegt das Eigentümliche des Buches, das nirgends die
engste Nähe der medizinischen Forschung und der Vertrautheit
mit dem geistigen Ringen der Zeit verleugnet, das aber seinen
Verfasser als einen eigenartigen Mann zeigt, der die Nachbarschaft
zu den Männern des Faches ebensowenig verleugnet, wie
die Freudigkeit, mit den ihrer Verantwortung bewußten Ärzten
der Christenheit auf den für die gemeinsame Aufgabe offenen
Theologen zu achten.

Neuendettelsau Georg Merz

BERICHTE UND MITTEILUNGEN
Die 10. Tagung der Studioruin Novi Testamenti Societas

in Bangor, North Wales, vom 6 —9. September 1955

Diese 10. Tagung der SNTS erhielt zwar, von der Teilnehmerseite
aus gesehen, ihre Prägung durch die Engländer — ebenso deutlich
wurde aber, daß die SNTS für das Gebiet des Neuen Testaments jetzt
tatsächlich das darstellt, was die Old Testament Society für die alt-
testamentliche Wissenschaft schon lange bedeutet: die internationale,
von allen wissenschaftlich Arbeitenden aus allen Nationen anerkannte
zentrale Vereinigung. Das bewiesen die der Generalversammlung vorliegenden
Anträge auf Zuwahlen neuer Mitglieder ebenso wie der Bericht
, den M. Black, der Herausgeber der New Testament Studies, über
dieses Organ der SNTS gab. Es hat jetzt bereits 600 Abonnenten, d. h.
mehr als 5 mal so viel Abonnenten wie die Gesellschaft bisher Mitglieder
besaß, ein Spiegelbild der Autorität, welche die SNTS sich inzwischen
erworben hat. Und wenn die Gesellschaft im September 1956
in Utrecht zur nächsten Tagung zusammenkommen wird (die Jahrestagungen
finden abwechselnd in England und auf dem Kontinent statt),
wird auch das Bild der Teilnehmer wesentlich anders sein, genau so
wie das 1954 in Marburg der Fall war (vgl. den Bericht ThLZ 1954,
Sp. 757—764). Der Tagungsort bestimmt eben nun einmal aus technischen
, finanziellen usf. Gründen die Zusammensetzung der Versammlung.

Der Ertrag dieser Tagung kann nur als sehr erfreulich bezeichnet
werden. Die reibungslose Organisation des äußeren Ablaufes war wieder
das Verdienst (des leider nach vieljähriger Amtszeit zurückgetretenen
, aber daraufhin einmütig zum Mitglied des geschäftsführenden
Ausschusses gewählten) G. H. Boobyer, die Leitung der Tagung selbst
lag in den Händen von J. Jeremias, dessen Amtszeit als Präsident der
SNTS mit dieser Tagung begann. Er eröffnete sie mit seiner Presiden-
tial Address über 1. Kor. 15, 50. Sie wie die weiteren Vorträge der Tagung
werden in den nächsten Heften der New Testament Studies im
Wortlaut abgedruckt werden. Die ThLZ ist erfreulicherweise in der
Lage, mit Zustimmung der New Testament Studies und des geschäftsführenden
Ausschusses der SNTS, bereits jetzt Resumes über den Inhalt
der Vorträge abzudrucken, welche die Referenten entweder den
Teilnehmern der Tagung in die Hand gaben oder eigens für die ThLZ
verfaßten. Der Abdruck erfolgt in der Reihenfolge der Vorträge selbst,
ein Bericht über die jeweils anschließende Diskussion, deren Resultate
unterschiedlich waren, ist hier wohl nicht erforderlich, für alles weitere
muß auf den Abdruck des Wortlauts in den New Testament Studies
verwiesen werden.

Joachim Jeremias (Göttinnen): „Fleisch und Blut können das Reick
Gottes nicht ererben" l.Kpr. 15, 50

Das Anliegen des Vortrages ist der Versuch, die These zu begründen
, daß der in der Überschrift genannte Satz sich nicht auf die
Auferstehung der Toten bezieht, sondern anders zu verstehen ist.

Der erste Teil gibt eine kurze Exegese von 1. Kor. 15, 50 ff. mit
dem Ziel, den Parallelismus in 1. Kor. 15, 50b. c näher zu bestimmen;
die inhaltliche Wiederkehr dieses Parallelismus in den Versen 51—54
wird untersucht, wobei die Bedeutung des Chiasmus im paulinischen
Briefkorpus zur Sprache kommt.

Der zweite Teil geht aus von der Frage, ob V. 50 zum Vorhergehenden
oder zum Folgenden gehört, um dann in großen Zügen den
Gedankengang von l.Kor. 15 zu analysieren. Dabei wird in der ersten
Hälfte des Kapitels (V. 1—34) besonders V. 29 beachtet, in der zweiten
Hälfte (V. 3 5—58) die chiastische Anordnung der Antworten auf
die beiden in V. 3 5 gestellten Fragen.

Der dritte Teil zieht die Konsequenzen aus dem erarbeiteten Verständnis
von l.Kor. 15, 50. Es wird zu zeigen versucht, daß die verbreitete
Annahme, l.Kor. 15, 50 setze einen grundlegenden Wandel,
ja eine Preisgabe der Auferstehungs-Hoffnung voraus, unhaltbar ist.
Abschließend wird die Frage gestellt, welches das in V. 51 erwähnte
Mysterium sei.