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Ausgabe:

1955 Nr. 10

Spalte:

563-564

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wyder, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Heidenpredigt 1955

Rezensent:

Melzer, Friso

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 10

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Blindgeborenen und der Auferweckung des Lazarus. Der Lahme vom
Teich Bethcsda ist ein Typus, die symbolische Gestalt Israels. Die Frau
am Jakobsbrunnen ist überhaupt keine Gestalt von Fleisch und Blut;
sie ist ein Typus, ein Symbol des Samaritertums. Der Blindgeborene
ist das Symbol des Menschen schlechthin, wie er von Natur ist. Bei der
Auferweckung des Lazarus liegt eine unter Verwendung und Ausgestaltung
synoptischer, insbesondere lukanischer Überlieferungselemente
freigestaltete symbolische Erzählung vor, die mit Hilfe dieses einzigartigen
„Zeichens" die Wahrheit des die exklusive Heilsbedeutung Jesu
auf knappsten Ausdruck bringenden Verheißungswortes an Martha
(V. 25.27) noch einmal einprägen will. „Die sinnbildliche Erzählung
predigt den Glauben an die Lebensmacht des Christus" (S. 181).
Also: Nicht Geschichte, sondern freigeschaffene, zum Teil an die synoptische
Überlieferung anknüpfende, sie aber überbietende Erzählungen
im Dienste der Verkündigung! Der Begriff des Kerygmas beherrscht die
Exegese St.s voll und ganz.

Zu dieser Skepsis der Geschichte gegenüber tragen Beobachtungen
bei, die St. an dem Stil der Erzählungen macht. Der Schilderung des
Weinwunders haftet eine „merkwürdig schemenhafte Unanschaulichkeit,
ja Unwirklichkeit" an, dem Bericht von der Heilung des Lahmen „ein
Mangel an konkreter Lebendigkeit", den Ausführungen der Himmelsbrotrede
„etwas Unbegreifbar-Schwebendes", der Erzählung von der
Auferweckung des Lazarus „etwas Konstruiertes, Inadäquates und Künstlich
-Unwirkliches". Die mehr oder weniger freigeschaffenen Szenen dienen
nur als Hintergrund für das Selbstzeugnis Jesu.

2. Ähnlich beurteilt St. das Verhältnis des Joh.-Ev. zu der synoptischen
Überlieferung. Joh. ist mit der synoptischen Tradition vertraut.
Der Gedanke, daß der Evangelist einer Überlieferung gefolgt sein
könnte, die ihren literarischen Niederschlag nicht bei den Synoptikern
gefunden hat, findet sich bei St. nicht; ebensowenig erwägt er die Möglichkeit
, daß Johannes eine den Synoptikern verwandte, aber mit dieser
nicht völlig übereinstimmende Überlieferungsform gekannt habe. Er
setzt nur die uns bekannte Tradition voraus. So taucht auch hier wieder
der für St. charakteristische Begriff der Stilisierung auf. In Joh. 4,
43—54 haben wir eine Variante der synoptischen Erzählung vom Hauptmann
von Kapernaum vor uns. Johannes hat den Bericht für seine
Zwecke „möglichst wirkungsvoll" umgeformt. Joh. 6, 1—21 liegt eine
„UmStilisierung des synoptischen Traditionsstückes zu einem demonstrativen
Akt vor, die aber nur den Zweck hat, „der nachfolgenden
Rede über Jesus als das himmlische Lebensbrot als Ausgangspunkt zu
dienen" (S. 115). In Kap. 9 hat der Evangelist das Motiv der Blinden-
heilung aus der alten Überlieferung entnommen, aber er hat die Geschichte
„zum Zweck der symbolischen Veranschaulichung des ihm vorschwebenden
Gedankens „Jesus, das Licht der Welt, zum Gericht in die
Welt gekommen, damit die Blinden sehend und die Sehenden blind
werden" mit großer Freiheit umgestaltet". Es handelt sich audi hier um
„kerygmatische Stilisierung" (S. 161). Am stärksten ist die „Stilisierung
" in der Passionsgeschichte, vor allem in der Szene zwischen Jesus
und Pilatus und in der Kreuzigungsszene. Auch hier liegen die
Dinge nach St. so, daß der Evangelist eine große Freiheit in der Gestaltung
der Überlieferung in Anspruch nimmt, „um die überlegene Hoheit
, die Herrlichkeit Jesu, herauszuarbeiten" (S. 23 5).

3. Ein drittes Leitmotiv, das die Auslegung St.s durchzieht, ist das
dramatische. Zu den für St. maßgebenden Erkenntnissen gehört
der Satz, daß das Schaffen des Johannes „in manchen Beziehungen Merkmale
künstlerischen Gestaltens — nach Art des Dramatikers — erkennen
läßt" (S. 22). Zu Kap. 4, 1—7a erklärt St.: „Man ist versucht, geradezu
dramaturgisch von einer Art Exposition zu sprechen" (S. 85). Das ganze
4. Kapitel ist ein „vollendetes kleines Kunstwerk, in dem der Evangelist
seinen Glauben an Jesus den Christus und Weltheiland dargestellt
hat" (S. 91). In Kap. 6 wird „das Drama der galiläischen Wirksamkeit
Jesu" geschildert, das „am Messiasbegriff zur Tragödie wurde". Der
Evangelist „hat in einer eigenartigen, aber in ihrer Weise vollendeten
Kunst eine grundsätzliche geistige Entscheidung und Scheidung dramatisch
vorgeführt" (S. 128). Kap. 11 zeigt eine Reihe von Szenen „voller
dramatischer Spannung, die mit dem Kunstmittel immer neuer Verzögerung
des Erwarteten von Stufe zu Stufe gesteigert wird, bis endlich
das .Lazarus, komm heraus' die Lösung bringt". In Kap. 7 und 8 läßt
der Evangelist das Ringen Jesu mit seinen Gegnern in einer raschen Szenenfolge
vor dem Leser „abspielen". Joh. 18, 28—19, 16 (Jesus und Pilatus
) zeigt ein „dramatisches Ringen von höchster Bewegung und höchster
Spannung und mit einer unübertrefflich scharfen Charakterisierung
aller Beteiligten". „Es ist ein kleines Meisterwerk, in dem die dramatische
Ader des Evangelisten wieder deutlich hervortritt" (S. 242).
St. stellt die „dramatisch bewegte Szenenfolge" der Schilderung der älteren
Evangelien, besonders der des Markus und Lukas, gegenüber.

4. St. betont stark den sakramentalen Charakter des
J o h. - E v. Das Weinwunder zu Kana ist ein Hinweis auf die Spende
des eucharistischen Weines, die in einem „symbolischen Realismus" schon
vorweggenommen wird. Ja, man könne die Erzählung als eine Gleichniserzählung
verstehen, „die von der Bedeutung der Gabe des Gekreuzigten
und ihrer Vergegenwärtigung im Kelch des Herrenmahls im Gegensatz
zur jüdischen Religion handelt" (S. 60). Eine solche Deutung
ergibt sich aus dem Grundsatz der Auslegung St.s, daß das 4. Evangelium
nicht historisch, sondern kerygmatisch zu verstehen ist. Aus diesem
Grunde lehnt St. auch den Einwand ab, daß Jesus in Joh. 3, 5 noch
nicht von der christlichen Taufe gesprochen haben könnte. Hinter Joh. 3, 5
steht „das Pfingsterlebnis, die Praxis des Taufsakraments und die Erfahrung
der christlichen Gemeinde" (S. 69). Für die Gemeinde gehörten
Wassertaufe und Geistempfang zusammen. Dagegen findet St. überraschenderweise
in Joh. 6, 52—58 keine Belehrung über das Herrenmahl.
Das Herrenmahl hat nur das „Bildmaterial" geliefert für die Wahrheit,
um die es sich hier handelt. Aber bei der Erklärung von Joh. 13, 1—30
kommt St. zu dem Ergebnis, daß die Fußwaschung als eine symbolische
Sinndeutung des Todes Jesu und des Herrenmahles anzusehen sei. Auch
bei Joh. 16, 1—8 liege die Vermutung nahe, daß das Bild vom Weinstock
„durch Assoziationen veranlaßt sei, die sich an den zuvor genossenen
Wein anschlössen" (S. 217). Zu Joh. 18, 34 jedoch erklärt St.,
daß diese Stelle keine Anspielung auf die christlichen Sakramente enthalte
.

5. Zur Frage der Eschatologie betont St., daß im Joh.-Ev.
der Akzent auf der vergegenwärtigten Eschatologie liegt. „Johannes
atmet ganz in der Gewißheit gegenwärtigen Heilsbesitzes" (S. 18). Das
eschatologische Denken habe seinen „kirchlichen Beharrungszustand"
erreicht; gleichwohl schließe die in der Gestalt Jesu erfüllte Eschatologie
nicht aus, daß der Ausblick auf den abschließenden Tag Christi
einen integrierenden Teil seiner Botschaft bildet.

6. Für das Gesamtverständnis des 4. Evangeliums grundlegend ist
die Erkenntnis, daß Johannes ein Palästinenser war. Von überragender
Bedeutung war sein Verhältnis zum Judentum. Zahlreiche Aussagen
erhalten ihre „aktuelle Lebendigkeit" erst durch den Gegensatz
zur rabbinischen Theologie. „Das Verhältnis zum Judentum, seiner Religion
und Theologie, ist für die religionsgeschichtliche Ortsbestimmung
des Evangeliums von entscheidender Bedeutung" (S. 12). Daneben
erkennt St. den „stillen Einfluß" der Gnosis an, aber die Abhängigkeit
von der Gnosis, die sich aus einer „gemeinsamen Atmosphäre" erkläre,
gehe nicht über die Wahl der Ausdrucksmittel, d. h. der dem Joh.-Ev.
eigentümlichen Bildworte hinaus, von einem positiven inhaltlichen Einfluß
der Gnosis auf Johannes könne man nicht sprechen, auch nicht im
Hinblick auf den Logosbegriff des Prologs. Der gnostischen Erklärung
des johanneischen Logos stehe das schwere Bedenken entgegen, „daß sie
erst aus relativ späten nachjohanneischen und von Johannes offensichtlich
vielfach abhängigen Quellen eine vorjohanneische Gnosis rekonstruieren
muß, aus der dann Johannes erklärt werden soll" (S. 41).

Da auch von keinem Einfluß der paulinischen Theologie auf das
4. Evangelium die Rede sein könne, kommt St. zu dem Ergebnis: „Das
Joh.-Ev. ist als eine auf dem Boden des durch die Gestalt Jesu geweckten
urchristlichen Glaubens, aus langer innerer Erfahrung und langem Sinnen
entstandene eigenwüchsige Schöpfung anzusehen" (S. 16).

St. nimmt als Verfasser des 4. Evangeliums den Apostel Johannes
an. Dann kann er aber nicht der Frage ausweichen, wie es zu erklären
ist, daß der Evangelist in einer so freien Weise mit der geschichtlichen
Überlieferung umgeht. Auf diese Frage gibt St. die uns schon bekannte,
verblüffend einfache Antwort: „Johannes huldigt in seiner Darstellung
nicht dem Historismus, sondern dem Prinzip der kerygmatischen Stilisierung
" (S. 22). Aber das ist keine befriedigende Antwort. Zum mindesten
wird dadurch nicht die Autorschaft des Zebedaiden Johannes gesichert
, im Gegenteil, sie wird dadurch erschwert. Warum sollte gerade
der Apostel Johannes, der nach der synoptischen Tradition keine wirklich
hervorragende Stellung unter den Jüngern Jesu einnahm, anders berichtet
haben als die sonstigen Augenzeugen des Lebens Jesu? Daß sich
ihm „in langen Jahrzehnten innigsten geistigen Umgangs" das Glaubensbild
von der Gestalt Christi „herausgeklärt" hat, ist eine Annahme, für
die St. keinen zwingenden Beweis erbringen kann.

Es kam uns darauf an, die Grundmotive der St.schen Auffassung
des Joh.-Ev. aufzuzeigen. Zur Exegese einzelner Abschnitte
wären noch eine Reihe kritischer Bemerkungen zu machen
. Wir wollen davon absehen, um uns noch kurz der Beurteilung
der entscheidenden Konzeptionen St.s zuzuwenden.

Es steht außer Zweifel, daß St. einen durchaus eigenartigen
und in seiner Art bedeutsamen Beitrag zur Erforschung des
Joh.-Ev. geliefert hat. Aber kann man seine Lösung der johanneischen
Probleme ohne weiteres annehmen? Diese Frage wird man
nicht mit einem voll überzeugten Ja beantworten können.

Der Hinweis auf die dramatische Art der Darstellung des
Evangelisten ist sicher richtig. Hier ist eine Aufgabe in Angriff
genommen, die noch eingehenderer Untersuchungen bedarf. Auch
die These, daß das 4. Evangelium im Dienst des Kerygmas steht,
ist nicht zu bestreiten. Darauf weist der Evangelist selber, vor
allem in 20, 30. 31 hin. Ebenso ist nicht zu leugnen, daß die Re-