Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1955 Nr. 10

Spalte:

561-562

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wasse, Günter

Titel/Untertitel:

Die Werke und Einrichtungen der evangelischen Kirche 1955

Rezensent:

Frick, Robert

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

601

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 10

602

nicht an eine selbständig entstandene. Nur durch sie könne der
besonders in alten Lesarten vorliegende starke Parallelen-Einfluß
und die häufige Übereinstimmung von „Itala" und Syrer befriedigend
erklärt werden. Wie aber dieser „lateinische Tatian" Einfluß
auf die gesamte altlateinische Überlieferung aller Bereiche
gewonnen haben kann, wird nicht gesagt. Einzelfälle, die sich mit
dieser These erstaunlich leicht lösen lassen, sollten jedoch nicht
von der Frage nach dem „Sitz im Leben" eines „lateinischen Ta-
tians" ablenken. Während diese Frage für das Diatessaron im
syrischen Bereich durch vielfache literarische Belege als gelöst zu
betrachten ist, findet sich in der westlichen Literatur nicht der geringste
Anhaltspunkt dafür, daß eine Harmonie jemals kanonisches
Ansehen genoß. Im Gegenteil, mit Beginn der Kanonsbildung
ist dort die Vierzahl der Evangelisten fester Bestandteil des
Kanons (vgl. Kanon Muratori), alle Abweichungen davon werden
als häretisch gebrandmarkt (vgl. Irenäus adv. haer. III 11, 8). Wohl
hauptsächlich für Missions- und Erbauungszwecke bestehende
Harmonien konnten somit kaum Einfluß auf den kanonischen
Text ausüben.

Natürlich kann auf dem begrenzten Raum einer solchen Edition
ein Problem nicht endgültig gelöst werden, für das die Basis
einer Handschriften-Kollation an sich schon zu schmal ist, und
das Fragen auftauchen läßt, die nur im Rahmen einer Behandlung
des gesamten „westlichen" Textes erwogen werden können.
Dennoch bleibt zu begrüßen, daß neben einer exakten Darbietung
einer bisher vernachlässigten Handschrift der Versuch unternommen
wurde, ihren Eigenarten gerecht zu werden und dabei vom
Einzelfall ausgehend Wege zu beschreiten, die bisher nur selten
begangen wurden. Eine überzeugende Klärung der Sachlage ist
m. E. jedoch auf der Grundlage des heute Bekannten kaum möglich
. Es bleibt dabei nur die Frage, ob der Nutzen nicht ein größerer
gewesen wäre, wenn der vorhandene Raum anders genutzt
und der Beschreibung dieser Handschrift, der schon Belsheim nur
zwei Seiten widmete, mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden
wäre.

Berlin K. Ju n ack

Str,ithmann. Hermann: Das Evangelium nach Johannes. Übers, u.
erkl. Göttingen: Vandenhoeck k Ruprecht 1951. III. 285 S. gr. 8° =
Das Neue Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk, hrsg. v.
Paul Althaus. Teilbd. 4, 6. Aufl. kart. DM 12.80.

St. gibt nach einer Einführung in Geist und Gestalt des vierten
Evangeliums eine sorgsame Exegese, in der er auch in allgemein
verständlicher Form zu den Problemen und Ergebnissen der
wissenschaftlichen Forschung Stellung nimmt. Bei der schematischen
Inhaltsübersicht unterscheidet er drei Teile: 1. Grundlegung
(l, 1—4, 54), 2. die Selbstoffenbarung Jesu, des Sohnes Gottes
, inmitten seines feindseligen, im Unglauben sich verhärtenden
Volkes (5, 1—11, 54), 3. die Verherrlichung des Menschensohnes
(11, 55—20, 31). Nachtrag: die Erscheinung am See Tiberias
(21, 1-25).

In dem Prolog sieht St. die konzentrierte Zusammenfassung
des Inhaltes des nachfolgenden Evangeliums. Die ersten vier Kapitel
enthalten insofern die Grundlegung, als sie zeigen, wer Jesus
ist, wie in Jesus die Unzulänglichkeit des gesetzlichen Ritualismus
und des Tempelkultes überwunden ist, wie der Heilsweg
aussiebt, der beschritten werden muß. um zum Glauben an
den Christus Jesus zu kommen, wie der Glaube nicht Wunderglaube
, sondern Glaube „aufs Wort" ist, und wie Jesus diesen
Glauben nur vereinzelt in Jerusalem und Judäa, in verstärktem
Maße aber in Samaria und Galiläa findet.

Die ersten grundlegenden Kapitel haben zugleich den Charakter
einer Exposition für die Auseinandersetzung Jesu mit seinem
Volk, die in Galiläa begann und dort bereits zu einer schweren
Krise führte, die dann aber in Jerusalem die erbittertsten
und bedrohlichsten Formen annahm, zum förmlichen Todesbeschluß
des Synedriums führte und Jesus schließlich zwang, seine
öffentliche Wirksamkeit abzubrechen. Den Höhepunkt des
12. Kapitels bildet die Begegnung Jesu mit den Griechen. Der
Abschnitt 13, 1—17, 26 enthält das Vermächtnis Jesu an die Jünger
. Hier ist das Verständnis der Gestalt Jesu im Lichte der Erfahrungen
der apostolischen Zeit niedergelegt. In 18,1—20,28

mündet die Darstellung des Evangelisten, die sich bis dahin, von
einzelnen Abschnitten im 2., 6. und 12. Kapitel abgesehen, kaum
mit dem synoptischen Bericht berührte, in diesen ein, obwohl
sich auch hier eine große Freiheit in der Gestaltung der Überlieferung
zeigt. Der Bericht über die Auferstehung Jesu in
Kap. 20 ist die letzte Demonstration der Herrlichkeit Jesu, während
das 21. Kapitel mit den vorausgehenden Berichten über die
Wirksamkeit Jesu nicht organisch ausgeglichen ist.

St. kommt zu dem Ergebnis, daß der Aufbau des Evangeliums
im Großen von einem überlegenen Geist kunstvoll gestaltet
ist. Es trägt den Charakter eines einheitlichen Kunstwerkes.
Das zeigt sich auch in dem szenischen Aufbau der einzelnen Kapitel
, auf den St. immer wieder bei der Einzelexegese hinweist.
Dabei gibt St. durchaus zu, daß es im 4. Evangelium eine Fülle
von Anstößen und Aporien gibt, die den Eindruck der Unordnung
, ja zuweilen den der Verworrenheit machen. Er glaubt aber
nicht, daß man die damit für das Verständnis des Evangeliums
gegebenen Schwierigkeiten durch die Annahme von Quellenschriften
, Grundschriften, zufälligen oder beabsichtigten Umstellungen
oder durch die Hypothese einer kirchlichen Redaktion
lösen kann. St. ist vielmehr der Meinung, daß das Evangelium
in einer über längere Zeit sich hinziehenden Produktion entstanden
ist, und daß das sich sammelnde Material von dem Evangelisten
nicht mehr zum letzten redaktionellen Abschluß gebracht
worden ist. Das Evangelium ist von den Freunden des Evangelisten
herausgegeben worden, die nicht mehr als unbedingt nötig
in den ihnen vorliegenden Text eingegriffen haben. Das zeigt
sich besonders deutlich bei den Abschiedsreden, wo die Kapitel
15 und 16 eine Variante des ersten Teils der Abschiedsreden
darstellen. Beide Fassungen der Reden stammen von dem Evangelisten
selbst, und die Herausgeber des Evangeliums haben sie
unverändert stehen lassen. Wie stark St. sich gegen die Versuche
Bultmanns, den Text in einzelne Teile zu zerlegen und dann neu
zu ordnen, wendet, geht aus seinen Bemerkungen zu Kapitel 10
hervor: „Welcher Tor von Bearbeiter soll es denn für sinnvoll
gehalten haben, aus dieser erkennbaren Ordnung die gegenwärtige
Unordnung herzustellen? Was das Kapitel bietet, sind Gedankenmaterialien
zu dem Thema Hirt und Herde, das sich ja in
der verschiedensten Weise wenden ließ, Stichworte und Sentenzen
, die nicht zu einer letzten redaktionellen Bearbeitung gelangt
sind" (S. 9). Nur bei den Kapiteln 5 und 6 gesteht St. zu,
daß die ursprüngliche oder doch die geplante Ordnung gestört
ist. Kapitel 5 sei nach 7, 13 einzusetzen. Auch sonst zeigen sich
Unebenheiten, aber aufs Ganze gesehen müsse festgestellt werden
, daß eine wohlüberdachte Planmäßigkeit der Anlage im Großen
und vielfach auch in den einzelnen Abschnitten gewahrt ist.

Die charakteristische Eigenart der Auslegung von St. liegt
jedoch woanders.

1. St. erklärt, daß der 4. Evangelist ganz und gar Prediger und Deuter
ist, dem es um die Wesenserkenntnis Christi geht. Die Exegese St.s
ist durch den Satz bestimmt: Das Evangelium ist nicht historisch, sondern
kerygmatisch. Nicht nur die Reden Jesu, sondern auch die Berichte
über die Begebenheiten des Wirkens Jesu sind „kerygmatisch stilisiert".
Der Begriff der kerygmatischen Stilisierung ist geradezu das entscheidende
Leitmotiv für die Exegese St.s. Es sei falsch, nach der äußer n
Geschichtlichkeit der einzelnen Vorgänge, Reden oder Gespräche zu
fragen. Sie sind alle nur Abwandlungen von Predigtformen des Evangelisten
. „Sie mögen an einzelne auch im äußeren Sinne historische
Vorgänge anknüpfen, aber nur, um dann in erstaunlich freier Stoffgestaltung
das innerlich erschaute Wesensbild Christi darzustellen. Die
Frage nach der Geschichtlichkeit kann nur in dem höheren Sinn gestellt
werden, ob der Christusglaube, der sich hier ausspricht, dem Wesen des
geschichtlichen Jesus gerecht wurde, in ihm begründet war. Die Frage
der Geschichtlichkeit im äußeren Sinn verwandelt sich dann in eine
Frage des Stils der Darstellung" (S. 67). Szenen, Figuren und Gespräche
sind Darstellungsmittel religiöser Wahrheiten. Der Evangelist „predigt
in der Form des frei schaffenden Schriftstellers" (S. 85), vom Standort
„der im Glauben an den Gekreuzigten und durch Leiden und Sterben
Erhöhten befestigten Gemeinde aus" (S. 130); er läßt Jesus so reden,
wie es „der vollendeten Erkenntnis und Erfahrung der christlichen Gemeinde
" entspricht (S. 69).

Die Wundererzählungen sind „demonstrative Akte von symbolischer
Bedeutung", bei denen es sich nicht um geschichtliche Begebenheiten
im buchstäblichen Sinn handelt. Das gilt von dem Wunder zu Kana
genau so wie von der Erzählung über die Samariterin, der Heilung des