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Ausgabe:

1955 Nr. 10

Spalte:

558-559

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Müller-Eckhard, Hans

Titel/Untertitel:

Die Krankheit, nicht krank sein zu können 1955

Rezensent:

Siebeck, Richard

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 10

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wenigen anderen Gruppen, was Zufall ausschließt; für die durch
A geführte Majorität aber sind diese Ergänzungen bezeichnend,
und sie unterscheiden sich im Wortlaut von denen des Origenes.
In Num. und Deut, bewährt sich diese Gruppenscheidung als
durchgehend auch bei qualitativen und Wortstellungsvarianten.
Die Meisterfrage wird beantwortet durch die Beobachtung, daß
in Num. die Zahl der ganz offensichtlich sekundären Varianten,
manchmal in Übereinstimmung mit den jüngeren Ubersetzern,
am größten ist. Also ist der A-text in Num. viel schlechter als
in Deut, und das bestimmt das Verhältnis zu 963. Nimmt man
hinzu, daß B viele singuläre Flüchtigkeitsfehler hat, und läßt
man, wie schon ausgeführt, die Angleichungen an Parallelstellen,
als nicht bezeichnend, weil nicht zur Gruppenaufteilung dienlich,
weg, dann hat 963 in Deut, wie in Num. einen ausgeprägt der
B-Gruppe am nächsten stehenden Text. Einzelheiten, auch solche,
die viel Raum beanspruchen, wie der Nachweis, daß sich die HSS
und Gruppen zu den von Origenes ausdrücklich asterisierten oder
obelisierten Stellen anders verhalten als zu den sonstigen Weglassungen
und Zusätzen, kann ich hier nicht wiederholen, obwohl
sie zum Beweis der These entscheidend beitragen. Sie zeigen des
Verfassers Beobachtungsgabe und Fähigkeit zu konzentrisch auf
einen Punkt gesammelter Beweisführung in hellem Licht.

Außer der origenianischen und der nur in ihren Wirkungen
zu fassenden vororigenianischen Rezension, für die u. a. 967 in
Ezechiel und der oberägypt. Text der Zwölf Propheten Parallelen
bieten, bespricht G. kürzer die Catenenrezension und die
Lukians. Letztere hat in Genesis, wie bekannt, fast keine Spuren
hinterlassen. Für die übrigen Bücher des Pentateuchs führt nach
G. unsre bessere Kenntnis der Überlieferung zu einigen Modifikationen
von E. Hautschs klassischer Arbeit über den „Lukian-
text des Oktateuchs". Die beiden Gruppen, die sich um den lu-
kianischen Namen streiten, sind durch viele Einflüsse verwässert,
auch Atticisierungen sind schwerer zu finden als in andern Büchern
; „was in den MSS f) gn bw von Wert ist, teilen sie mit den
Nichtlukianern 963 B a2; was ihnen eigentümlich ist, ist wenig
wert". — S. 17—24 bieten »ehr willkommene ausgewählte Belege.

Das knappe Referat bestätigt wohl das Urteil, daß wir hier
die Probe einer Arbeit haben, die die Anregungen der Rahlfs-
schen Schule voll aufnimmt und mit ganz neuen Einsichten ani
entscheidenden Punkte weiterführt. Als eine Probe erweckt sie
den Wunsch, ausführlichere Arbeiten des Verfassers bald gedruckt
zu erhalten. Schon was wir hier haben, erweitert unsere
Kenntnisse ungemein und gibt eine Vorstellung, wie eine auf
diese Einsichten gebaute textkritische Ausgabe aussehen dürfte.

Cambridge Pcler Katz

Kraus, Hans-Joachim: Die Verkündigung der Weisheit. Eine Auslegung
des Kapitels Sprüche 8. Ncukirchen/Krs. Moers: Buchhdlg. d.
Erziehungsvereins [1951]. 48 S. 8° = Bibl. Studien, hrsg. v. O.Weber
, H. Gollwitzer u. H. J. Kraus. H. 2. Kart. DM 1.90.

Die Auslegung von Prov. 8 unter der Überschrift „Die Verkündigung
der Weisheit" will „die alttestamentlichen Worte in
ihrem besonderen Klang vernehmen lassen", „Voraussetzungen
des Verstehens klären", vor allem aber über Prov. 8 hinaus „in
die Weisheitstheologie des AT einführen" und „die Zusammenhänge
zum NT sichtbar machen" (Vorwort). Kraus legt dafür den
Grund in der Einleitung (S. 6—8), die Israels Spruchweisheit in
die Weisheit der Welt, besonders Ägyptens, einordnet und ihre
Besonderheit herausstellt, von der Bedeutung des Namens Salomo
für die Spruchsammlung handelt und schließlich die zeitliche An-
setzung von Prov. 1—9 (im 3. Jhdt.!) kurz begründet. Sie schließt
mit einem Zitat von Barth, das der Frage des Lesers begegnen
soll: „Kann man das biblische Wort denn in so bedenklicher
Weise an die Religionen und Kulturen der heidnischen Völker
heranrücken?"

Die Kürze der Einleitung entspricht dem Zweck der Bibelstudien
, die den Nachdruck auf die Einzelerklärung legen. Dennoch
hätte der Verfasser nicht auf eine etwas breitere Vorführung
der Spruchweisheit verzichten sollen, die auch die Fülle der Klugheitsregeln
und Erfahrungssätze beachtet. Angesichts dieser
Proverbien wäre der Satz schwerlich aufrechtzuerhalten: „Die
Quelle aller Lebensklugheit ist demnach nicht eine selbst gebildete

Erfahrung vom rechten Leben, sondern die vor dem offenbaren
und lebendigen Gott Israels gewonnene Erkenntnis dessen, was
recht und angemessen ist" (S. 6 f.). Ich kann auch dem Satz nicht
zustimmen, daß die kanonische (!) Weisheit die Weisheit derer
sei, „die im Bunde (!) und unter dem Gesetz des Gottes Israels
stehen" (S. 7), wenn damit mehr als eine allgemeine „Ortsbestimmung
" gegeben werden soll. Hier liegt doch eben das Problem
der Chokma, das man getrost vor der Gemeinde entfalten
sollte! Die Weisheit kommt aus der „Welt" und trägt daher auch
noch weithin „weltlichen Charakter", wird aber im Räume des
Gottesvolkes immer stärker in den Bereich der Offenbarung
hineingezogen und von ihr überprägt. Gerade an der Chokma
kann man beobachten, wie alles, was von außen an Israels Ufer
brandet, in den Strom der Offenbarung hineingerissen und schließlich
ganz von ihm aufgesogen wird. Das hätte deutlich ausgeführt
werden sollen!

Kraus gibt eine gründliche Einzelauslegung, in der es ihm
besonders um Begriffsbestimmungen, theologische Deutung und
die Aufweisung des Zusammenhangs mit dem Neuen Testament
zu tun ist. Daß sie versweise gegeben wird, ist nicht immer förderlich
; es wäre wohl geraten, etwas größere Einheiten zusammenzufassen
. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser
geistvollen, an theologischen Aussagen reichen Exegese, wäre
eine reizvolle Aufgabe. Sie würde freilich den Umfang einer Besprechung
überschreiten; wir müssen uns daher mit einigen Hinweisen
begnügen.

Es geht dem Verfasser besonders um die Deutung der Gestalt
der Weisheit, wie sie in Prov. 8 begegnet, und um eine Erklärung
der „Weisheit als solcher in ihrem offenbarungsgeschichtlichen
Zusammenhang innerhalb des Alten Testaments". Auf
beide Probleme verwendet er viel Scharfsinn und geht an ihre
Lösung mit dem ganzen Rüstzeug der dialektischen Theologie
heran, wobei er die Schwere der Probleme nicht unterschätzt
(S. 26). Ich kann mich trotzdem des Eindrucks nicht erwehren,
daß es dem Verfasser nicht gelungen ist, die Aussagen von
Prov. 8, 22—31 zu einem einheitlichen Bild von der Weisheit zusammenzufassen
und der Chokma die rechte Stelle im alttestamentlichen
Offenbarungsgeschehen anzuweisen.

Die Weisheit ist ihm einerseits ein „v o r geschöpfliches Wesen
. . . bei dem Wirken Gottes mitbeteiligt" (S. 39), andererseits
„das erste Geschöpf", mit dem Gott „in die Welt Kräfte des
Guten und Ordnenden hineingegeben hat" (S. 36). Sie ist „eine
Machtgröße, die in objektiver Gestalt (was heißt das?) von der
Vollkommenheit der Werke Gottes redet und die sinnvolle Ordnung
alles Geschaffenen offenbart" (S. 40), und andererseits „ein
Wesen voller Anmut und Güte, das in der Welt spielend einhergeht
" (S. 42), womit auf „ihre unbeschreibliche Leichtigkeit und
Selbstverständlichkeit (?!) hingewiesen" werde (ebd.), während
das Spielen anderwärts — im Anschluß an Sir. 24, 12 f. (wo nicht
vom Spielen die Rede ist!) — als ein rastloses Suchen beschrieben
wird, das sein Ziel in Israel findet (S. 44). Kraus erhebt bei der
Auslegung von Prov. 8,22—31 zunächst die Textaussagen des
Alten Testaments und will dann „mit schnellen Schritten in das
Neue Testament eilen, um dort die Enthüllung der bis zum Bersten
gespannten Prophetien des Alten Testaments wahrzunehmen
" (S. 35). Seine These, daß „die mit dem Namen Weisheit
genannte Person auf den, der von Anbeginn war, Jesus Christus
hinweist" (S. 44), erhärtet Kraus auch mit dem Verweis auf
Prov. 8, 35, wo die Weisheit sagt: „Wer mich findet, findet das
Leben." So rede kein Prophet, so rede nur Gott selbst, „sagen
wir es noch genauer: so spricht Jesus Christus, der. . . der Welt
das Leben gebracht hat" (S. 13). Später erklärt Kraus allerdings
die Weisheit doch wieder für eine Prophetin, während mit
Christus das Leben erschienen sei (S. 47).

Auch den Versuch, die Weisheit offcnbarangsgeschichtlich
einzuordnen, kann ich nicht als gelungen bezeichnen. Kraus formuliert
: „Ist das Gesetz die große objektive Heilsgabe Gottes,
so könnte man die Weisheit als die dem Menschen geschenkte
subjektive Verwirklichung des Heilswillens Gottes bezeichnen"
(S. 26). Was bedeutet das? Gibt die Weisheit die Kraft, Gott
wohlgefällig zu leben? Was bedeutet es, daß das Weisheitswort
den „dem Tode preisgegebenen Kindern Adams . . . helfen will"