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Ausgabe:

1955 Nr. 10

Spalte:

551-553

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Liturgisches Jahrbuch. IV. 1954 1955

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 10

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Selbstvernichtung der Menschheit und verzichtet von vornherein
auf ernsthafte Ansätze zur Hilfe. Es ist befreiend, daß von solchem
Ton eines christlich getarnten Pessimismus hier nichts zu
spüren ist. Er bedeutet ja praktisch eine Verneinung des Regimentes
Gottes über die Welt und gibt diese grundsätzlich als Domäne
des Bösen preis. Demgegenüber wird ausdrücklich festgestellt
, wie die Technik auf vielen Lebensgebieten Hilfe und Erleichterung
für den Menschen bedeutet.

Es muß aber erkannt werden, wie anders der Raum geworden
ist, in den die christliche Kirche heute ihre Botschaft hineinspricht
. Die moderne industrielle Arbeitswelt ist unser Schicksal
geworden. Es gilt weithin als ausgemacht, daß das menschliche
Leben der ,,Eigengesetzlichkeit" dieser Entwicklung unterworfen
sei. Neigte gerade der Deutsche schon immer zu einem Kult der
Arbeit, so führt Lilje aus, — das bekannte Lob: „Er kannte nur
seine Pflicht," nennt er mit Recht eine „Proklamation einer grotesken
Verarmung des Lebens," — so ist das aus den persönlichen
Bereichen heute in die Dimensionen des gesamten Lebens hinein
gewachsen. Der Mensch scheint der Eigengesetzlichkeit von Wirtschaft
und Technik widerstandslos unterworfen zu sein. Der
Rhythmus des natürlichen Lebens wird an entscheidenden Stellen
immer wieder notgedrungen dem Rhythmus der modernen Arbeit
ein- und untergeordnet. Was es für das kirchliche Leben bedeutet
, wenn die alten Ordnungen von Arbeits- und Feiertagen,
von Tag und Nacht, von gemeinschaftlichem Leben und Erleben
in der Zugehörigkeit zur Familie, den Gesetzen der modernen
Arbeit unterworfen werden, die diese Ordnungen nicht kennen,
ist oft genug schon ausgesprochen worden.

Im Zuge dieser Entwicklung liegt die Kollektivierung, Mechanisierung
und Spezialisierung der menschlichen Arbeit. Es ist
vor Augen, wie sich diese Entwicklung bis in den Agrarbereich,
der sich ihr noch am längsten zu entziehen schien, in steigendem
Maße auswirkt. Dem Menschen kommt mehr und mehr nur noch
die Rolle des „Einstellers" zu, der den Apparat in Gang setzt
und nach den ihm eigenen Gesetzen ablaufen lassen muß. Weithin
aber ist er im Arbeitsprozeß nur noch eine „anonyme und
auswechselbare Einheit" geworden. Darüber ist der persönliche
Sektor seines Lebens, zu dem man nach überkommenen Begriffen
auch seine religiöse Haltung und kirchliche Betätigung zu rechnen
pflegte, erschreckend klein geworden. Vor allem gibt es so gut
wie gar keine Verbindung mehr zwischen seiner Arbeitswelt und
den persönlichen Bereichen seines Lebens. Wohl versucht der
Mensch immer wieder, sich demgegenüber eine private Sphäre zu
retten, er sucht sie z. B. in der Traumwelt des Kinos, und auch
die Familie behauptet dieser Entwicklung gegenüber immer noch
ein nicht geringes Recht. Aber es ist nicht zu verkennen, mit welcher
Macht die Entwicklung der Kollektivierung und Entpersönlichung
den ganzen Menschen bis in seine privaten Bezirke hinein
prägt und verändert. Wer etwa einmal den Einbruch der Industrialisierung
in rein ländliche Bezirke miterlebt hat, wird nicht
mehr bestreiten können, daß die wirtschaftlichen und industriellen
Verhältnisse das menschliche Bewußtsein prägen und verändern
. Die Kirche sollte sich dieser Erfahrung nicht verschließen,
wie sie es allzu lange getan hat. Wie ohnmächtig sind dieser Entwicklung
gegenüber doch immer wieder moralische Appelle oder
gar die oft gehörten Klagen über die „Lauheit so vieler Gemeindeglieder
" oder über die allzu schnelle „Akklimatisierung"
früher kirchlicher Umsiedler aus östlichen Gebieten in die unkirchlich
gewordene Welt unserer Industriegemeinden!

II. Was ist dann aber die Aufgabe der Kirche in dieser veränderten
Welt? Wo hat sie hier ihren Platz? Das ist das eigentliche
Thema, um das es hier geht. Die Frage wäre zu eng gefaßt,
wenn es allein darum ginge, dem Einzelnen in den besonderen
Nöten der Gegenwart von Seiten der Kirche etwas Lebenshilfe
zu bringen. Es geht auch nicht in erster Linie um das, was wir die
soziale Frage zu nennen gewohnt sind. Erst recht soll hier nicht
zunächst nach den Bemühungen um Verbreiterung des kirchlichen
Sektors beim Menschen von heute gefragt werden. Es wird in
der vorliegenden Veröffentlichung all das wohl mit berührt, aber
die entscheidende Frage ist viel radikaler: Kann heute, angesichts
der modernen Welt der industriellen Arbeit, das Evangelium
von Jesus Christus neu Gestalt gewinnen? Glaube und Alltagswelt
gehören doch wohl zusammen! (Lilje zitiert in diesem
Zusammenhang das apokryphe Jesuswort: „Wenn du das Holz
spaltest, bin ich dabei.") Wir dürfen uns doch nicht mit der unheilvollen
Trennung: hier Welt Gottes, Kirche, dort Alltagswelt
des Menschen der Arbeit, einfach abfinden. Die Tatsache der
Menschwerdung Jesu Christi im Fleische, in der Alltagswelt, muß
in der Situation des modernen Lebens aufs neue ernst genommen
werden. Sie sollte es unmöglich machen, daß die Kirche Jesu
Christi sich im wesentlichen auf kleine Kreise stützt, deren soziale
Struktur für eine kirchliche Betätigung noch Raum läßt,
während die große Masse der anderen der „Eigengesetzlichkeit"
des industriellen Arbeitslebens unterworfen bleibt. Statistische
Erhebungen über die soziale Struktur der kirchlichen Kreise sprechen
hier eine erschütternde Sprache. Aber ist denn die Welt der
industriellen Arbeit etwa nicht in das Heilswerk Gottes eingeschlossen
? „Christus ist gekommen, um in der Welt zu leben
und für sie sich hinzugeben." (Entschließung zum Hauptthema.)
Sollte da seine Kirche die weiten Gebiete der modernen Entwicklung
industrieller Arbeit abschreiben und sich selbst überlassen
dürfen?

Die vorliegende Veröffentlichung ist ein Zeichen dafür, daß
hier das Gewissen erwacht ist und nicht mehr zur Ruhe kommen
wird. Die Frage nach dem Menschen ist neu gestellt, nun aber
gerade nicht nach dem Menschen mit einem noch vorhandenen
religiösen Bedürfnis, auch nicht nur nach dem Menschen in gewissen
Grenzsituationen, in denen er dann doch vielleicht noch
einmal ausnahmsweise nach dem Dienst der Kirche verlangt, sondern
gerade die Frage nach dem Menschen in seiner Arbeitssitua-
tion, nach dem säkularisierten, der modernen Entwicklung ohne
Gegenwehr preisgegebenen Menschen.

Denn der Mensch ist hier in einer tödlichen Gefahr. Wo die
Gottesfrage schwindet, wo der Mensch und seine Arbeit ihren
Sinn allein in sich selbst zu finden meinen, ist sein Menschliches
bedroht. Hier besteht dann die Gefahr, daß ihm die Arbeit, die
seinem Leben dienen soll, in ihrer unendlichen Leistunessteige-
rung um ihrer selbst willen, anstatt zum Leben schließlich zum
Tode wird. Gott will aber nicht, daß er sich an seiner Arbeit den
Tod hole, sondern daß er vor ihm als sein Geschöpf lebe. Das
ist die beunruhigende Frage: was angesichts dieser Bedrohung des
Menschen heute das Wort und die Tat der Kirche sei?

III. Bei dieser radikalen Fragestellung wird man den Mut
haben müssen zu radikalen Antworten. Die Kirche wird angesichts
des Strukturwandels des modernen Lebens der Forderung
nach ihrem eigenen Strukturwandel sich nicht verschließen dürfen
. Eberhard Müller sieht in der Kirche in ihrer gegenwärtigen
Struktur selbst Hemmungen, um deren Überwindung wir uns mühen
müssen, wenn anders das Evangelium in der Welt der Arbeit
heute neu Bedeutung gewinnen soll. Als solche Hemmungen bezeichnet
er den Individualismus, Konservativismus und Parochia-
lismus der Kirche. Der Individualismus verkennt, daß er hier um
gesellschaftliche Probleme geht, die nicht allein durch die Sorge
für die Seele des Einzelnen gelöst werden können. Der Konservativismus
beharrt in kirchlichen Formen, die in der vorindustriellen
Welt entstanden sind und sich bewährt haben, die aber den Lebensformen
der Gegenwart nicht mehr gerecht werden. Man kann
ja beobachten, daß selbst Menschen, die durch die moderne Arbeitswelt
geprägt sind, sich ein Stück guter, alter Vergangenheit
in der Kirche gern gefallen lassen. Man liebt solch ein „Schrebergartenidyll
zwischen Fabrikschornsteinen" geradezu und findet es
gut und sdiön, daß es so etwas „noch" gibt, aber es besteht im
Grunde zwischen diesen beiden Welten keine Verbindung. Der
Parochialismus verkennt, daß Wohnortgemeinde und Arbeitsplatz
heute weithin zwei so getrennte Bereiche sind, daß der Mensch
der industriellen Arbeit vom Leben der heimatlichen Kirchengemeinde
überhaupt nicht mehr erreicht wird.

Aus der Erkenntnis, daß die Kirche den ihr entfremdeten
Arbeiter weithin nicht mehr an ihren Ort zu rufen vermag,
kommt nun der von Horst Symanowski und anderen unternommene
Versuch, aus der kirchlichen Existenz fort und dorthin zu
gehen, wo der entkirchlichte Arbeiter lebt, und seine Existenz zu
teilen. Mitarbeiterinnen des Burdchardthauses, selbst einzelne
kirchliche Amtsträger im Osten, sind den gleichen Weg gegangen,