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Ausgabe:

1955 Nr. 9

Spalte:

521-526

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Zur Johannensischen Tradition 1955

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 9

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sind, die aber bei den verschiedenen Menschen so variieren, daß
sie auf zwei große Erbfunktionsgruppen zurückgeführt werden
können, die von Pfahler mit den Kennworten „fest" und „fließend
" versehen werden. Was sie bedeuten und was mit ihnen
erfaßt ist, wird an den Folge eigenschaften deutlich, die sich
nun in der Entfaltung der Anlage in der Begegnung mit der Umwelt
entwickeln müssen. Die Menschen von festen inneren Gehalten
werden zu Genauigkeit, Folgerichtigkeit und festen Grundsätzen
geführt, lieben das Abstrakte, finden schwer zur Gemeinschaft
usw., während die Menschen von fließenden inneren Gehalten
Sowohlalsauchnaturen sind, Verbindlichkeit und Einfühlungsgabe
besitzen, leicht den Anschluß an die Gemeinschaft
finden und wie geschaffen für Ausgleichs- und Vermittlerrollen
sind usw. Durch differenzierende Analysen werden reiche Cha-
raktergefüge herausgehoben, als die Ganzheit von Folgeeigenschaften
aus dem Reaktionsvorgang der Einverseelung, der schicksalhaft
, weil ererbt so und nicht anders sich in den „Fließenden"
und „Festen" in der Begegnung mit der Welt vollziehen muß.
Die endliche Folge muß die Konstanz von Charakterbildungen
sein, mit allen Vorzügen, aber auch mit der Begrenzung und der
Gefahr alles Ererbten, wie am Leben vieler Versuchspersonen,
aber auch einiger Dichter (Schiller, Goethe, Hebbel, Rilke) aufgewiesen
wird.

Der Ertrag solcher Arbeit dürfte beträchtlich sein, — zunächst
für den Pädagogen. Denn was überhaupt ererbbar sein
kann, ist eingegrenzt auf formale Funktionen, denen nun die den
Pädagogen aufs höchste interessierenden Folgeeigenschaften sich
zugesellen, deren Spielraum zwar nicht unbegrenzt, aber auch
nicht eng, sondern weit ist. So bleibt trotz der seelischen Vererbung
der Erziehung ein weites Feld, deren Meister — symbolisch
geredet — nicht Töpfer, sondern Gärtner genannt werden,
die das Geschaffene und Berufene seiner Bestimmung zuzuführen
helfen. Die Problematik des Klassenunterrichtes wird nicht von
der Seite des Schülers, sondern des erbbestimmten „festen" oder
„fließenden" Lehrers her beleuchtet, indem Vorzüge und Grenzen
beider Typen aufgewiesen und Fingerzeige für ihren sinnvollen
Einsatz im Lauf eines vieljährigen Schülerlebens gegeben
werden. Auch der Ertrag für den Seelsorger ist beträchtlich. Kein
Menschenleben ist psychisch so determiniert, daß es der eigenen
Verantwortung auf irgendeiner späteren Lebensstufe entzogen
wäre, denn das „Lebenswerkzeug" ist nur ein formales Funk-
tionsgefüge, das die Lebensbewältigung ermöglicht, und zwar in
mannigfacher und freier Weise, ohne daß es an Spielraum fehlte.
Gut wird auf das Verhältnis von religiösem Leben und Erbcharakter
eingegangen. Das Gerede von einer religiösen oder areligiösen
Veranlagung wird geradezu ironisch abgewiesen. Gott ruft
jeden an, und jeder kann ihm antworten und hat ihm zu antworten
. „Noch keiner hat ein Funktionsgefüge benannt, das für
die inhaltlichen Anrufe von Gott her echolos ist" (216). Wohl
gibt es ein Schweigen Gottes und ein menschliches Versagen; beides
aber hat mit dem Erbcharakter nichts zu tun!

Das letzte Drittel des Buches ist der Frage „Erbcharakter und
Rasse" gewidmet und dürfte als Nachhall und Schlußpunkt der
bewegten Verhandlungen der dreißiger Jahre zu werten sein, an
denen Pfahler und seine Schule sich lebhaft beteiligten, wie sie
auch große Kriegsverluste an Mitarbeitern, Büchern und Manuskripten
beklagen. War das Leibproblem aus den ersten Teilen als
geradezu störend ausgeklammert, so kommt es nun um so kräftiger
zur Verhandlung, denn „Psyche und Sorna sind immer in-
eins und aufeinander zu" (281). Im Ergebnis kommen Arteigen-
sein und Artgefahr der rassischen Typen so heraus, daß man oft
an Wohlbekanntes von früjier erinnert wird, allerdings mit dem
grundlegenden Unterschied, daß alle verletzende Wertung und
Rangordnung unterbleibt und das Geheimnis der Schöpfung geehrt
wird. Nur dadurch wird eine Rückkehr zu dem verfemten
Thema möglich, das im übrigen weithin die Anwendung der errungenen
grundlegenden Erkenntnisse am konkreten Fall zeigt.

Besonders erwähnt sei noch die sympathische Art, in der die
Mitarbeit der schon toten und der noch lebenden Mitarbeiter
und Schüler geehrt wird, und das erfreuliche Bemühen, Polemik
zu meiden.

Rostock O. Holtz

Müller-Eckhard, Hans: Die Krankheit, nicht krank sein zu können
. Stuttgart: Klett [1954]. 360 S. 8°. Lw. DM 14.80.

Es ist für mich nicht leicht, dieses Buch so zu besprechen,
wie es das sehr ernste Anliegen des Verfassers verdient, keineswegs
deshalb, weil voraussichtlich mit meinem Referat weder der
Verfasser selbst und seine begeisterten Anhänger (an denen es
gewiß nicht fehlen wird) noch seine entschiedenen und scharfen
Kritiker (vermutlich besonders unter den Fachpsychiatern) zufrieden
sein werden.

Auch schreibe ich als Internist, ich möchte lieber sagen als
„Arzt", und nicht als Psychiater und Psychotherapeut. Ich erinnere
mich dabei an ein Gespräch mit einem Freund, der lange
Zeit ferne von der inneren Medizin, hervorragend besonders
über Psychogenese und Psychotherapie arbeitete und dabei sehr
Bedeutendes für die allgemeine Medizin leistete; als ich ihm eine
„innere Abteilung" vorführte, sagte er, er habe gar nicht mehr
gewußt, daß es so viele Schwerkranke gäbe. Auch Müller-Eckhard
hat sich viel mehr um „Neurotische" und „Psychotische"
bemüht als um Kranke, wie sie in einer internistischen Klinik
liegen. Das Buch enthält sehr viele sehr ernst gemeinte und sehr
ernst zu nehmende Angriffe gegen die geltende Medizin, für die
jeder Arzt aufgeschlossen sein sollte. Vieles, was da gesagt wird,
ist einfach richtig, aber es wird doch lange nicht alles gesehen,
was in der Medizin wichtig ist. Ist es nicht merkwürdig, daß in
dem Augenblick, in dem weite Kreise der Ärzte für die Bedeutung
der psychosomatischen Zusammenhänge wieder aufgeschlossen
werden, wesentliche Fachvertreter der Psychotherapie und
der „anthropologischen Medizin" wieder zu einer Betrachtung
neigen, in der ein Widerspiel, ja, geradezu ein Gegensatz von
Leib und Seele vorausgesetzt wird.

M.-E., Psychiater und Psychotherapeut, beschäftigt sich mit
großem Ernst und mit viel Verständnis mit Menschen, die an
mehr oder weniger schweren seelischen Konflikten leiden, mit
denen sie nicht fertig werden. Sie sind dadurch in ihrem Wesen
bedrängt und bedroht. M.-E. geht aus von den Wegen, die
S. Freud eröffnet hat; aber er kennt nicht nur dessen überragende
Verdienste, sondern auch die Reichweite seiner Sicht und die
Grenze jedes Psychologismus. Er weiß, daß das Schicksal menschlicher
Existenz ein „unabweisbares Examen" bedeutet. Wenn der
Mensch seine Freiheit leugnet und vor der Entscheidung flieht,
gerät er in Schuld, und wer die Sühne dafür nicht zahlen will, ist
von der Wirklichkeit des Nichts bedroht.

Positivistische Wissenschaft, die Trennung von Sein und
Wissen, die Aufspaltung des Wissens in Vernehmen und Denken
hat nicht zuletzt in der Medizin zu einem „Objektivitätsdogma
" geführt, in dem die „göttliche Natur" des Menschen
(„Anima naturaliter christiana") nicht mehr gesehen und die
Ehrfurcht vor dem Geheimnis des verborgenen Lebens verloren
wurde. Die scharfe Kritik des Verfassers über die Methoden in
der inneren Medizin und in der Psychiatrie zwingen gewiß zu
sehr ernstem Nachdenken, aber können wir der Begründung und
dem Ausmaß dieser Kritik, so gewiß vieles berechtigt ist, zustimmen
?

M.-E. begründet seine wesentlichen Erkenntnisse durch die
Beobachtung, daß konfliktbeladene Menschen erleichtert werden,
wenn sie körperlich krank werden. Das kann man zweifellos nicht
selten in Krankengeschichten feststellen. Aber kann man daraus
so weitgehende und allgemeingültige Grundsätze ableiten, wie
es in diesem Buche geschieht? Kann man sagen, der Arzt verhindere
das „Heilwerden" des Kranken, indem er die Leibkrankheit
behandle, etwa Infektionskrankheiten mit der modernen
Therapie, oder wenn er eine Depression „wegschocke"? Hängt
„Heilwerden" überhaupt von gesund oder krank ab? Ist wirklich
der, der eine Leibkrankheit überwunden hat, damit dem schlimmsten
Unheil, „der Krankheit, nicht krank sein zu können", verfallen
? Verfasser nennt für die, die in der Gefahr sind, sich in
seelischen Nöten zu verlieren, die Asyle: Leibkrankheit, Beichtstuhl
, Psychose oder Tod. Ich rede nur von der Leibkrankheit.
In ihr trete der Leib „stellvertretend" für die
seelische Erkrankung ein, der Mensch „verarbeite" seine seelischen
Konflikte durch die körperliche Krankheit. Aber was heißt
hier „verarbeiten", was heißt die Leibkrankheit „trete stellver-