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Ausgabe:

1955 Nr. 1

Spalte:

33-35

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Geiselmann, Josef Rupert

Titel/Untertitel:

Von lebendiger Religiosität zum Leben der Kirche 1955

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 1

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wird. Würde sie ausführlicher behandelt sein, so würde die charaktervolle
Art H. M.s, mit der auch die leiseste Unwahrhaftigkeit
unverträglich war, noch schärfer heraustreten. Ich selbst habe
mich über H. M. in der ThLZ 1949, Sp. 50 f. und ausführlicher -
nach seinem Ableben — im Deutschen Pfarrerblatt 1950 geäußert.
Beigegeben ist dem kleinen Bande eine Wiedergabe einer künstlerisch
wertvollen Plakette, die — was hätte gesagt v/erden können
— von Gisela Mulert geschaffen worden ist.

Jena Karl Heussi

Geiselmann, Josef Rupert: Von lebendiger Religiosität zum Leben
der Kirche. Johann Michael Sailcrs Verständnis der Kirche geistesgeschichtlich
gedeutet. Stuttgart: Schwabcnverlag 1952. 285 S. 8°.
Lw. DM 12.—.

Fischer, Gerard, Dr. thcol., Dr. phil.: Johann Michael Sailcr und
Immanuel Kant. Eine moralpädagogische Untersuchung zu den geistigen
Grundlagen der Erziehungslehre Sailers. Freiburg: Herder 1953.
XVI, 2 59 S. gr. 8° = Unters, z. Theologie der Seelsorge Bd. V.
Kart. DM 17.—.

Geiselmann und Fischer haben darin ihr Gemeinsames, daß
sie ex professo die Sailer-Forschung auf bestimmte loci lenken,
von denen aus es möglich wird, Sailers Theologie und Sailers Philosophie
in die Theologie- oder die Philosophie-Geschichte einzuordnen
. So greift Geiselmann den Kirchenbegriff Sailers auf,
Fischer die kantische Philosophie in Sailers Ethik. Und beide isolieren
ihre Themata so wenig, daß der Leser jedesmal doch den
ganzen Sailcr zu sehen bekommt. Oder besser gesagt: Bei Sailer
sind diese Themata tief in die Theologie und Philosophie eingesenkt
.

Geiselmann kam zu Sailers Kirchentheologie durch die
Arbeit am Kirchendenken Möhlers; denn Möhler geht von jener
Auffassung der Kirche aus, zu welcher, nach Geiselmann, Sailer
erst kommen mußte. So ist es Geiselmanns Absicht, den „Kirchenweg
" Sailers Stück für Stück zu zeichnen, Ausgangs- und Endpunkt
, Zwischenstationen — die Abhängigkeit jeder Stufe vom
geistesgcschichtlichen Wollen der Zeit — die Zusammenhänge mit
der Theologie und Philosophie — die Selbständigkeit Sailers und
die Assimilationskraft dieses spät anerkannten Genius — die kritische
Leistung Sailcrs aufgrund seiner wesentlich christlichen, ja
absichtlich katholischen Überzeugung — das Sendungsbewußtsein
gerade für die Nöte der Gcistcswclt zwischen dem Tode Lcssings
und dem Ableben Hegels. Es muß aber angemerkt werden, daß
Sailer, ob nun in Ingolstadt oder in Dillingcn oder in Landshut,
immerfort mit nie unterbrochener Selbstverständlichkeit in der
katholischen Kirche lebte, wohnte, daheim war und blieb — und
daß seine Kirchenbegriffe nur den jeweiligen Aspekt wiedergeben,
unter welchem er als Denker und Professor das tatsächlich mit-
gelebtc katholische Kirchenlcben betrachtete! Dennoch: diese
Aspekte bilden die Kirchentheologie Sailers, und tatsächlich steckt
in dieser Kirchentheologie Sailcrs ein starkes Entwicklungsmoment
, und hier ist Ingolstadt nicht Dillingen und Dillingen nicht
Landshut. Darum geht Geiselmann der Entwicklung nach, welche
der Ekklcsiolog Sailer aufweist — von dem Jugendwerk „Theo-
logiae christianae cum philosophia nexus" (1779) über die Religionskollegien
in Dillingen (1793), das „Gebetbuch" (1783 und
1785), die „Grundlehren der Religion" (1805 und 1814). die
„Neuen Beiträge zur Bildung der Geistlichen" (1805—1819), bis
zu den „Vorlesungen aus der Pastoraltheologie" (1788—1789).

Geiselmann ordnet die Kirchenaspekte Sailers so: In Ingolstadt
bekennt sich Sailer zu dem Kirdicnbcgriff seines Lehrers Benedikt Stattler
, der den Kirchenbegriff Bellarmins hatte, also einen kontrovers-
theologisch gewendeten Kirdicnbcgriff; sein Inhalt: sozialcthische und
naturrechtliche Schau der Kirche als der durch das positive Gesetz Christi
gegründeten Gesellschaft; erkenntnistheoretisch: die Kirche als das einzig
hinreichende Kriterium der durch Christus in die Welt gegebenen
Wahrheiten (Traditionen). In den Dillinger Religionskollegien: Die
Kirche ist das lebendige Sprachorgan Gottes, gegründet durch Überlieferung
der Tradition von den Aposteln her, und die Kirche ist mit
der Tradition die Norm des Glaubens. Es folgt die Kirchenauffassung
aus Sailcrs „Mystik": die Kirche als die lebendige Vermittlerin lebendigen
Christentums im Sinne der Erlebnistheologie, im Gegensatz zur
mcdianischcn Kirchlichkeit. Die nächste Stufe bildet dann die Zusam-
menbindung dieses „lebendigen Christentums" mit dem „historischen"
oder „positiven" Kirchentum; die Kirche ist hier das göttlich-menschliche
Organ zur Fortpflanzung und Bewahrung des apostolischen Erbes
— und hier gehört die Cathedra Petri und das Kirchenrecht dazu. Die

Hl. Schrift aber wird als die kristallgewordene Überlieferung gesehen!
Damit erreichte Sailer eine neue Stufe, auf der die Kirche als autoritative
Heilsanstalt sowohl das innerliche wie das äußerliche Kirchenleben
(also Kirche und Kirchentum!) zur Vermittclung des Heiles handhabt.
Den Gipfel aber stellt Geiselmann bei Sailer dort fest, wo der Begriff
des „Organismus" die lebendige Einheit von sichtbarer und unsichtbarer
Gemeinschaft ermöglicht und dieser „Organismus" identifiziert wird
mit dem paulinischen Corpus Christi mysticum, und wo diese mystische
Gemeinschaft auch die sichtbare hierarchische Gliederung mitsamt dem
Kirchenrecht verinnerlicht. Geiselmann betont: Sailer war der erste,
der das paulinische „Corpus Christi" mit dem (romantisdien) „Organismus
" gleichsetzte, die Priorität kommt nicht Schlciermacher zu! Im Ganzen
gesehen bedeutet das im Katholizismus: dem juridischen Kontro-
vcrs-Kirchenbegriff den mystischen Kirchenbegriff übergestülpt zu haben
, und im Katholizismus verdankt man das Sailer, und nicht erst den
Möhler und Scheeben — konstatiert Geisclmann.

Die jeweils fälligen Einwendungen von „protestantischer" Seite
kennt Geisclmann zur Genüge; aber vielleicht darf man sie in der Weise
vorbringen: Uns, und recht vielen auch im katholischen Volksteil, ist
die wichtigste Stufe der Sailcrschen Kirchenschau die aus seiner „Mystik
" abgeleitete: die Kirche als die lebendige Vermittlerin lebendigen
Christscins im Durchbruch durch die äußerliche Kirchlichkeit!

Gerard Fischer ist uns bekannt durch seinen schönen Aufsatz
über „das Bischofsamt Sailers in der Kulturkrise" (in der
Faulhabcr-Festschrift „Episcopus" 1949), mit welchem er eine
bemerkenswerte Einführung zum Gesamtthema „Sailer" gab.
Schon dort wies er auf die Bedeutung Kants für Sailer hin, die er
in einer (damals nur in Maschinenschrift vorhandenen) Würzburger
Dissertation („Der Einfluß Kants auf J. M. Sailer im Handbuch
der christlichen Moral", 1945) untersucht hatte. Jetzt kann
er diese Dissertation als Buch vorlegen unter dem Titel: „Johann
Michael Sailer und Immanuel Kant. Eine moralpädagogische Untersuchung
zu den geistigen Grundlagen der Erziehungsichre Sailers
." (Vgl. Fischers andere Dissertation: „Das Quellenproblcm
in der Philosophie J. M. Sailers unter besonderer Berücksichtigung
des Einflusses Fr. H. Jacobis und seines Kreises", 1946, und Fischers
Münchener Habilitationsschrift: „Sailer und Pestalozzi",
1947 — beide maschinenschriftlich vorhanden). In diesem Buche
nun führt Fischer den bündigen Beweis für die Fruchtbarkeit der
Philosophie Immanuel Kants in Sailers Ethik. Ich fasse Fischers
Ergebnisse so zusammen:

1. Sailcr studierte die Schriften Kants und assimilierte sie in Sai-
lerischer Art; 2. Er zitierte diese Schriften ausgiebig, aber gewöhnlich
in verdeckter Weise; 3. Gerade das „Handbuch der christlidicn Moral"
(3 Bände, München 1817) „ ist in wesentlichen Teilen in Hinsicht auf
Kant und seine Schule geschrieben", ja „Sailers grundlegende Moral im
Handbuch ist ohne Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Kant und
dessen Wirken gar nicht voll zu verstehen " „Dabei ist dieses Gerichtetsein
auf Kant kein bloß negatives, sondern teilweise ein sehr positives,
ja Sailcr steht in manchen Teilen durch Übernahme kantischen Gedankenguts
und Einbau desselben in sein System förmlich im Verhältnis
der Abhängigkeit von Kant"; 4. Sailers leidenschaftliche Ablehnung
Kants in der ersten Dillingcr Zeit darf also nicht auf später ausgedehnt
werden; doch übersah Sailer nie die Grenzen, welche ihn von
Kant trennten. Kant hörig, wie in Dillingen Weber und Zimmer, ist
Sailer nie geworden, Fischer weiß nicht eine Stelle, „in der Sailer
Kant hörig geworden wäre, wo er es hätte nie werden dürfen". Doch
darf Sailer nicht einfach als antikantisch bezeichnet werden, „wie es
bisher großenteils geschehen ist", aber freilich auch nicht als Kantianer.
..Es muß viel differenzierter davon gesprochen werden"; 5. Die „Kritik
der reinen Vernunft" hat im Handbuch keine Spuren hinterlassen; aber
von anderen Kantschriften nimmt Fischer mit Gründen an, daß Sailer
sie neben sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, z. B. die „Kritik der
praktischen Vernunft" („Kritik der Sittenlehre" pflegt Sailcr zu sagen)
bei Ausarbeitung der Prinzipien der Moral, und etwa auch die „Grundlegung
der Metaphysik der Sitten"; für die Lehre vom Bösen und von
der „Regeneration": „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft"; für die Tugendlehre: Die „Metaphysik der Sitten". Von
allen Schriften Kants hat Sailer die „Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft" am tiefsten beeinflußt, am wenigsten die „Kritik der
reinen Vernunft"; gelegentlich kommen zum Schlag auch die „Kritik
der Urteilskraft" und der „Streit der Fakultäten"; 6. Sailer hätte nach
der „Glückseligkcitslchre" (1787), argumentiert Fischer, nicht nochmal
eine Ethik geschrieben (eben das „Handbuch") — wenn er nicht auf
Kant gestoßen wäre. Nun wurde das „Handbuch" eben nötig, nicht bloß
zur Abwehr der kantischen Anthropozcntrität in der Ethik, sondern in
Anerkennung des Umstandes: Kant hat den ethischen Menschen besser
als je erforscht und gezeichnet! In der Anthropozentrität hat er den
Anthropos klassisch dargestellt. 7. Hingegen verwehrte Sailer in seinem
pädagogischen Hauptwerk „Über Erziehung für Erzieher" (1807) der