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1955 Nr. 9

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543

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 9

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Luther Ausdruck des theozentrischen Charakters der Religion ist.
Es herrscht die Tendenz, die Rechtfertigung in der Befreiung des
Gewissens aufgehen zu lassen. Der theozentrische Ansatz wird
durch einen egozentrischen verdrängt. Der Glaube wird freie Entscheidung
, was zum Synergismus führt. Die Heiligung wird von
der Rechtfertigung getrennt. Bei Melanchthon „müssen" die guten
Werke dem Glauben folgen; bei Luther sind sie mit dem
Glauben gegeben wie der Schein der Sonne mit ihrer Existenz.
Religion und Sittlichkeit treten als zwei Gebiete auseinander.
Die Sittlichkeit untersteht dem Gesetz. Die lex naturae wird zu
einem selbständigen theoretischen Prinzip.

Die Rechtfertigung wird zur empirischen Bekehrung. Melanchthon
verwechselt die theologische Beurteilung des freien
Willens mit der psychologischen Frage nach seinem Vermögen.
Die iustitia civilis wird an die iustitia actualis herangerückt. Der
ordo ist für Luther etwas Faktisches, für Melanchthon ein Ideal.
Auch die Gnesiolutheraner sind von der Fragestellung Melan-
chthons beeinflußt; der Unterschied zwischen ihnen und den
Philippisten ist nur relativ. Es handelt sich in beiden Gruppen um
Rückfall in das scholastische Denken. Zu diesem grundsätzlichen
Mißverständnis Luthers konnte es kommen wegen der Sorglosigkeit
seiner Ausdrucksweise, wie sie etwa besonders verhängnisvoll
in seiner Schrift ,,De libertate christiana" hervortritt
; scheinbar hat dort Luther einfach die scholastische Unterscheidung
zwischen „äußerem" und „inneren" Menschen übernommen
. Man muß bei Luther stets zwischen seiner Absicht und
seiner Ausdrucksweise unterscheiden, wenn man ihn richtig interpretieren
will.

Diese Interpretation schließt eine vernichtende Kritik des
Luthertums in sich; das Luthertum ist ein Mißverständnis von
Luthers Anschauung von der Rechtfertigung. Ein solch radikales
Urteil muß nachdenklich stimmen. Sollte vielleicht die hier entwickelte
Lutherinterpretation doch einseitig sein? Bring selbst
weist auf die sorglose Ausdrucksweise bei Luther hin. An diesem
Punkt setzen unsere Fragen ein. Kann man es Luther wirklich
zutrauen, daß er sich derart sorglos geäußert hätte, wenn es sich
um so entscheidende Gegensätze handelte? Oder muß die Kritik
Luthers am Luthertum zu einer vernichtenden Kritik an dem
„Theologen" Luther werden, der sich der Konsequenzen seiner
eigenen Theologie nicht bewußt war? Da liegt es doch wohl näher
, vor der eigenen Systematisierung Luthers ein wenig bange
zu werden. Die Grundanschauung Luthers ist zwar m. E. völlig
richtig wiedergegeben: Es gibt überhaupt keinen Heilsweg des
Menschen zu Gott, sondern nur den Heilsweg Gottes zum Menschen
. Weder ist der Glaube ein Werk, noch die Rechtfertigung
eine empirische Bekehrung. Rechtfertigung und Heiligung sind
nur für abstraktes Denken Gegensätze. Daß diese Grundthesen
so klar herausgestellt sind, ist das große Verdienst des Buches.
Sie sind in der Tat im „Luthertum" in ihrer großartigen Einfältigkeit
wieder leicht verdunkelt worden. Aber ergibt sich das nicht
zwangsläufig, sobald man dazu übergeht, derartige Grundwahrheiten
zu systematisieren? Und ist insofern die „sorglose" Ausdrucksweise
Luthers nicht gerade eine echt theologische Leistung?
Sollte sie nicht den Interpreten darauf aufmerksam machen, daß
er Luthers Theologie nicht systematisch überfordern darf? Wo
es um die Grundwahrheiten unserer Existenz geht, hört das Systematisieren
auf. Die konkrete Wirklichkeit läßt sich nicht auf
einen Nenner bringen. Darum kann derselbe Luther, für den die
Liebe einfach im Glauben enthalten ist, die Liebe fordern und das
Gesetz predigen. Darum kann er das Wesen des Christentums
trotz des sola fide getrost auf die Formel „Glaube plus Liebe"
bringen. Das ist nicht einfach „Sorglosigkeit", sondern hier setzt
die unaufgebbare „Realdialektik" (Joest) ein. Auch die Entpsy-
chologisierung des Glaubens dürfte nicht völlig geklärt sein. Ist
nicht manches bei Luther aus der Antithese zu begreifen? Hat das
Problem Gnade und freier Wille in „De servo arbitrio" eine vollgültige
Antwort erhalten? Ist die Alternative „theologische oder
psychologische Betrachtung" bis zur letzten Konsequenz durchführbar
? In dieser Richtung glaube ich, einige Reserven gegenüber
dem Buch von Bring anbringen zu müssen, dessen Grundthesen
ich dankbar unterschreibe.

Erlangen Walther v. Lo cw e n ich

R i c h t e r, Friedrich: Martin Luther und Ignatius von Loyola. Repräsentanten
zweier Geisteswelten. Stuttgart-Degerloch: Schloz [1954].
288 S. 8°. Lw. DM 9.80. 1 I

Der Verfasser dieses Buches ist ein ehemaliger brandenbur-^/t--
gischer evangelischer Pfarrer (Finow i. d. Mark), der 1948 konvertiert
ist. Auf dem Umschlag des Buches gibt der Verleger bekannt
, daß die Arbeit nicht die Prägung einer Kampfschrift trage,
„vielmehr jedoch Zeichen zur Verständigung zwischen den christlichen
Religionen, ganz im Sinne der UNA SANCTA". Das ist
richtig, was den Ton betrifft, in dem das Buch geschrieben ist. Es
wird nicht in häßlicher und abfälliger, sondern vielfach in sehr
warmer und anerkennender Weise von Luther gesprochen, und
oft wird Gelegenheit genommen, etwas Gutes und Großes über
Luther als ganz und gar religiöse und von der Gottesfrage bewegte
Persönlichkeit zu sagen, wenn schon das Lob Luthers und
die Kritik an Luther stellenweise hart aufeinander stoßen. Insofern
gehört das Buch in die Reihe der katholischen Werke zum
Thema „Luther und die deutsche Reformation", die mit der
großen Reformationsgeschichte von Lortz begonnen und in so
wohltuender Weise die Atmosphäre zwischen den Konfessionen
entgiftet hat.

Wenn man nun aber mit dem Verfasser bei seinen Einzeldarlegungen
mitgeht, erlebt man — dem Rezensenten ist es jedenfalls
so gegangen — eine Enttäuschung nach der anderen. Der
Aufbau des Buches ist recht geschickt. Abschnittstitel heißen zum
Beispiel: Die natürlichen Wurzeln ihres Seins; die Zeitenwende als
gestaltende Macht; die Lebenswende bei Luther und Ignatius;
Luther und Ignatius als Erneuerer der Kirche. Aber die Nebeneinanderstellung
von Luther und Ignatius erfolgt im allgemeinen
in ziemlich äußerlicher Weise. Dabei wird wenig erzählt, sondern
die Kenntnis Luthers und Loyolas vorausgesetzt; man kann aber
mit Fug bezweifeln, ob der Verf. dem Leser, bei dem er das darf,
genug bietet.

Das eigentlich Unbefriedigende an dem Buch ist nicht so sehr
dies, daß Luther mit sehr kritischer Sonde untersucht, über Loyola
aber völlig kritiklos gesprochen wird. Das läßt sich aus der Situation
des Verfassers, der vor relativ kurzer Zeit erst konvertiert
ist, verstehen. Es ist vielmehr das, daß die Lutherabschnitte
aus einer Kette von Behauptungen bestehen, die nun so hingesezt
werden, ohne daß der Verfasser überhaupt den Versuch eines Beweises
anstellt. Um gleich das Wichtigste zu sagen: Die Behauptung
, daß Luther keine objektive Wahrheit gelten lasse und nur
vom subjektiven Erlebnis ausgehe, wird unermüdlich wiederholt.
Wenn Lortz so redet, ist das verständlich; er ist Katholik von
Kind auf. Ein ehemaliger evangelischer Theologe, der die Entstehung
einer „Theologie des Wortes Gottes" mit erlebt hat, dürfte
sich nicht dabei bescheiden, die Lortzsche Behauptung zu wiederholen
, sondern müßte sich schon auseinandersetzen mit der Frage,
ob nicht Luthers Glaube an die Macht und Eindeutigkeit des Wortes
das ist, was ihn zunächst erklärt. Das Wort Gottes, wie es
Luther versteht, ist etwas ganz anderes als subjektives religiöses
Erleben. Und wenn man es doch so glaubt verstehen zu müssen,
muß man es sorgfältig begründen. Es wird behauptet, daß Luther
in ganz hohem Maße Spiritualist sei. daß Luther bei seiner Rechtfertigungslehre
den Menschen und nicht Gott in den Mittelpunkt
stelle, daß er der religiöse Genius der Renaissance sei und eine
Frömmigkeit der autonomen Persönlichkeit vertrete, daß er an der
altkirchlichen Zweinaturenlehre nicht interessiert sei, daß die Wurzeln
der Christologie des 19. Jahrhunderts bei ihm lägen, daß er
stark die Existenzphilosophie vorbereite, daß die Clausula Petri
Apg. 5, 29 für ihn keine Rolle spiele, daß Luther der Mensch des
Glaubens sei und Ignatius der der Liebe usw. usw.. Aber Beweise
werden nirgends versucht, nicht einmal so, daß charakteristische
Lutherzitate angeführt werden. Daß es beinahe eine ganze Literatur
über Luther und das 1. Gebot gibt (als Beitrag zur Rechtfertigungslehre
Luthers), ist auch nicht angedeutet. Behauptungen von dem
Gewichte (S. 90), daß durch die Ausgrabungen unter der Peterskirche
in Rom bestätigt sei, daß Petrus der erste Bischof von Rom
und damit das Haupt der entstehenden Weltkirche gewesen ist,
sind nicht nur vereinzelt aufgestellt. Luthers Stellung in der
Willensfrage soll trotz De servo arbitrio zweideutig gewesen sein,