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1955 Nr. 9

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Praktische Theologie

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 9

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Zauber und Aberglaube. Dann wird die Gliederung des
Christentums beschrieben, und zwar nach Völkern oder Ländern,
nach Alter und Geschlecht, dann nach Stand und Beruf. Der
Blick greift weit und sondert vielfach: Griechen und Römer, die
verschiedenen Gruppen der Orientalen und der Afrikaner, schließlich
Südwesteuropäer — Kinder und alte Leute, Männer und
Frauen — Handwerker, Kaufleute, Landleute, Gebildete einschl.
der Hofkreise und Politiker, Sklaven. Ebenso gründlich differenzierend
werden die Mittel der Darstellung behandelt
: Wort und Schrift5, Kunst in allen Formen", gottesdienstliche
Prägungen7, endlich Organisation und Recht. Den Beschluß
bilden Untersuchungen über die Durchdringung (und z. T
gewaltsame Auseinandersetzung) von Antike und Christentum,
und als Ergebnis bietet sich „das Wunder der Synthese" dar.

Die These Schneiders fordert uns zunächst zum Nachdenken
über den Hellenismus auf. Wenn es notwendig ist, das Christentum
im Rahmen der hellenistischen Welt zu sehen, es aus ihr
herzuleiten und zu begreifen — und in der Anerkennung dieser
Notwendigkeit stimme ich mit dem Verfasser überein —, so hat
die Gewinnung eines Urteils über den Hellenismus als wesentlicher
, vielleicht entscheidender Teil der Erforschung christlicher
Frühgeschichte zu gelten. Der Hellenismus darf dabei nicht lediglich
als Phase der griechischen Geschichte betrachtet werden, als
griechische Spätzeit also, sondern ist seiner räumlichen Erstredcung
und ihren Folgen entsprechend als umfassende zivilisatorische Erscheinung
der östlichen Mittelmeerwelt ins Auge zu fassen. Hier
stellen sich aber, selbst bei möglichst weitgehender Beschränkung
auf die Religionsgeschichte dieser Zeit und Welt, sofort gefährliche
Schwierigkeiten ein, die in der Fülle und Heterogenität des
Stoffes und seiner historischen Komponenten liegen und erfahrungsgemäß
jeden Forscher zur Subjektivität zwingen, d. h. zur
Überschätzung derjenigen Quellen und Beiträge, die ihm selbst
vom Fache her geläufig sind. Da jeder nur einen Teil des
Ganzen selbständig zu beurteilen vermag, steht er in Gefahr, das
Übrige unscharf zu sehen, ja in seiner Wirkung zu unterschätzen.
Eine gewisse Hilfe dagegen bietet m. E. der Versuch, sich zunächst
über die dominanten Züge all der Hochreligionen klar zu werden
, deren Träger später von der hellenistischen Zivilisation erfaßt
wurden und die daher jedenfalls die Chance hatten, in die
Religionsgeschichte des Hellenismus als Elemente einzugehen.
Dabei kommen die Religionen Griechenlands, Kleinasiens, Syriens
und Palästinas, des Zweistromlandes, Persiens und Ägyptens
in Betracht; ich muß es mir freilich versagen, deren dominante
Züge hier aufzuzählen (einiges Wesentliche folgt unten).
Sodann muß man es sich zum Grundsatz machen, zunächst jedes
einzelne Phänomen für sich zu betrachten und auf seine Herkunft
oder Komposition hin zu befragen. Allgemeine Theorien, wie etwa
die, daß der Orient den Inhalt, Griechenland die Form zu den
meisten religionsgeschichtlichen Erscheinungen des Hellenismus
gegeben haben, sind vorläufig Zwangsjacken und führen fast immer
in die Irre; in der lebendigen Wirklichkeit schießen die Strahlen
verschiedener Herkunft in der mannigfaltigsten Weise zusammen
, und wenn ein Phänomen „hellenistisch" ist, so braucht es
damit in seiner Wesentlichkeit durchaus nicht „griechisch" zu
sein. Hinzu kommt ein Weiteres und höchst Bedeutendes: Der
Mensch des Hellenismus ist Bedingungen unterworfen, die
wenig oder nichts mit volklicher Eigenart, sehr viel aber mit
innerhistorischer Placierung zu tun haben, damit also, daß der
Hellenismus in bezug auf alle von ihm erfaßten Kulturen eine
Spätzeit ist. So haben die Menschen der hellenistischen Oikumene
alle mehr oder minder die Tendenzen einerseits zum Individualismus
(durch Heraustreten des Einzelnen aus alten sozialen Bindungen
, wie in Griechenland aus der n6hg), anderseits zum Uni-
versalismus( durch Überwindung alter Grenzen) an sich erfahren
und sind durch diese doppelte Sprengung der politisch-sozialen
Gefüge nach innen und nach außen zu den einsamen, in weiter
Welt verlorenen Wesen geworden, deren existentielle Situation

Christus, Geist, Natur, Mensch, aber auch Leid, Sünde, Tod, Erlösung
und Erlöser.

5) Missionsrede, Kultrede, Brief, Propaganda-, Wissenschafts- und
Erbauungs- bzw. Unterhaltungsliteratur.

6) Dichtung, Musik, bildende Künste, Kunsthandwerk.

7) Liturgie, Sakramente, Feste, Umdeutungen des Kultes.

nach einer persönlichen Heilsgarantie schreit — Wesen, die
folglich wir Heutigen besser verstehen als Generationen in Jahr-
hunderten vor uns. Individualismus und Universalismus der hellenistischen
Zeit haben aber auch die Art der Gottheit entscheidend
bestimmt, und es dominiert jetzt der an kein begrenztes
irdisch-politisches Pendant gebundene Allgott, von dem in erster
Linie eine Befriedigung des persönlichen Heilsbedürfnisses Einzelner
(oder Gemeinden von Einzelnen) erwartet und erfleht wird.
Neben diesen allgemeinen und auch allgemein beachteten Tendenzen
oder Strukturlinien Individualismus und Universalismus
darf man eine dritte nicht übersehen, die mir für die Religionsgeschichte
des Hellenismus nicht weniger bedeutend scheint: Es
ist eine Art „Historismus", der freilich in zwei völlig verschiedenen
Formen auftritt, und zwar so, daß sich in diesem Falle
Griechenland und der Orient gegenüberstehen. Griechen lieben
es, die Götterwelt in ihrer Genesis historisch zu erklären und
damit e i n z u e b n e n (z. B. im Euhemerismus), Orientalen (in
erster Linie die luden) leiten in charakteristischer Weise aus historischen
Ereignissen der Vergangenheit solche der Gegenwart oder
Zukunft ab, und insofern die Gottheit Herr oder Träger der Ereignisse
ist, erscheinen geschichtliche Fakten als göttliche Garantie
gegenwärtigen oder künftigen Geschehens; hier hat die
Welt der historisch verankerten und beurkundeten Verheißungen
ihren Platz. Für die Folgezeit, d. h. aber in erster Linie für das
Christentum wurde diese orientalische, insonderheit jüdische Form
des Historismus schicksalhaft, und man darf sagen, daß sie die
Religion als solche überhaupt bewahrt und einer neuen Jugend
entgegengeführt hat. So ist schon etwas tief Wahres an der Meinung
jener Wolke von Zeugen, daß die „Barbaren" frömmer seien
als die Griechen, und religiöse Güter stehen nicht in der ersten
Reihe derer, die Christentum und Abendland den Hellenen verdanken
.

Diese knappen Darlegungen eines ungewöhnlich komplizierten
Sachverhaltes sollen nichts weiter als deutlich machen, daß
und warum ich von der Religionsgeschichte des Hellenismus oder,
um es ehrlicher und bescheidener auszudrücken, von meiner Ansicht
dieser so faszinierenden und folgenreichen Erscheinungswelt
her gegen die Ordnung der Bausteine Bedenken hege, in der
Schneider so ziemlich alles Wesentliche an Herkunft und Frühgeschichte
des Christentums auf die Griechen zurückführt. Ich
halte diese These Schneiders für groß und der groß angelegten
Durchführung wert, die er ihr gewidmet hat. Ich halte seine
Bände für notwendig, aber zugleich für einseitig; vielleicht muß
man sagen, daß sie notwendig einseitig sind. Eine Kritik von
Einzelheiten darf ich mir sparen. Wenn einzelne Sachverhalte oder
Zitate nicht stimmen8, so ist dem Verfasser, einst Ordinarius für
Neues Testament in Königsberg, zugute zu halten, daß er ein
Jahrzehnt lang gesammelte Aufzeichnungen durch Kriegseinwirkung
verlor, und man muß den Autor bewundern, daß er das
Werk dennoch gewagt und vollbracht hat. Auch bedarf es bei der
Vielfalt des Gebotenen kaum besonderer Erwähnung, daß die Kapitel
und Abschnitte nicht alle von gleichem Werte sind8, ebenso
wie sich sehr glückliche Formulierungen neben recht anfechtbaren
finden10. Vielmehr möchte ich mich nach meinem prinzipiellen
Einwand einer Trennung von Griechisch und Hellenistisch darauf
beschränken, wenigstens zwei Bereiche zu nennen, die für das
Christentum zentrale Bedeutung erlangten und deren Heimat in

8) So weiß ich z. B. nicht, wie Schneider auf die „griechische Inschrift
" am Grab des Kopten Sdienute kommt; der Berliner Grabstein,
auf den er sidier anspielt, nennt nur Titel und Namen „Apa Schenute"
— in den für das Koptische gebräuchlichen griechischen Buchstaben,
unter denen sich aber der aus der ägyptischen Schrift herübergenommene
Buchstabe Schai befindet; die Inschrift ist also koptisch: I, S. 619 f.

9) Der Abschnitt über das koptische Ägypten, Nubien und Äthiopien
, über den mir am ehesten ein Urteil zusteht, gehört zu den schwachen
Teilen: I, S. 614/31; dem stehen Beiträge von monographischer
Dichte und entsprechendem Wert gegenüber, wie der zur Welt der Gefühle
: I, S. 159/98.

10) Trefflich z. B. Sätze von geistiger Durchdringung antiken Gutes
mit christlichem (II, S. 279): „Christus . . . hat die anderen Götter wirklich
im doppelten Sinne in sich aufgehoben. Alles, was der Antike an
Dionysos, Isis, Herakles, Mithras heilig war, ging in das Christusbild
ein, aber es entstand immer wieder ein Christusbild, nicht ein Mischgebilde
."