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1955 Nr. 9

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Psychologie und Religionspsychologie

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 9

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frage folgt aus alledem nichts. Daß die erzählenden Abschnitte
im 4. Evg. reicher mit Worten Jesu ausgestattet sind als bei den
Synopt., ist nichts spezifisch „Johanneisches", d. h. für den Evangelisten
Charakteristisches, sondern ist ein Zeichen entwickelteren
Stiles (vgl. meine Gesch. d. synop. Trad.2 S. 340 f.). Und träfe
es zu, daß die häufigere Verwendung der direkten Rede ein Zeichen
dafür ist, daß der Erzähler nicht aus einer schriftlichen
Quelle, sondern aus der mündlichen Tradition geschöpft hat, so
könnte das ja genau so gut von der Quelle gelten. Aber trifft
es zu?

Richtig ist beobachtet, daß sich in den joh. Wundergeschichten
bestimmte Wendungen wiederholen (z.B. 5,8.10.11.12),
aber die Beobachtung scheint mir falsch gedeutet zu sein; die Wiederholungen
sind nicht für den Evangelisten, sondern für den
entwickelteren Stil charakteristisch. Etwas anderes sind die Wiederholungen
betonter Jesus-Worte in den Reden und Gesprächen;
sie sind in der Tat charakteristisch für den Evangelisten, der durch
diese Wiederholungen die Pointen betont und das für die Hörer
Anstößige hervorhebt. (Für Wiederholungen in Worten des Täufers
und der Juden gilt Entsprechendes.) Natürlich ist dadurch für
die Quellenfrage nichts bewiesen, so wenig wie durch die Tat- !
sache, daß solche Wiederholungen manchmal keine wörtlichen
sind. Warum sie beweisen sollen, daß der Erzähler nicht aus I

schriftlicher, sondern aus mündlicher Überlieferung schöpft, sehe
ich nicht ein; erst recht nicht, daß 20, 30 f. dafür sprechen soll.
Auch, daß die Zusammenstellung der „Logien" vielfach durch
Stichwort-Verbindung veranlaßt worden sei, leuchtet nicht ein.
Von Stichwort-Verbindung (für die manche Partien der alttest.
Spruchweisheit und im NT etwa Mk. 9, 48—51; Jak. 1,2—8 Beispiele
sind) kann im 4. Evg. fast nirgends die Rede sein (höchstens
1, 50 f.; 3, 5 f.; 12, 24—26), da seine Reden nicht wie die
der Synopt. Logiensammlungen sind, sondern zusammenhängende
Reden bzw. Diskussionen, in denen die scheinbaren „Stichwörter"
die Themen sind und deshalb durch Wiederaufnahme hervorgehoben
werden.

Zum Schluß bringt der Verf. noch einige allgemeine Erwägungen
, die als solche ganz zutreffend sind, aber für die in Frage
stehende Sache nichts beweisen; nämlich, daß es auch nach der
Abfassung der Synopt. noch eine mündliche Tradition gab, und
daß kein Evangelist verpflichtet sein konnte, schriftliche Quellen
zu benutzen; ferner, daß die Verbindung verschiedener religionsgeschichtlicher
Elemente nicht auf der Benutzung verschiedener
Quellen zu beruhen braucht. Die „Schwierigkeiten kompositio-
neller Art", die, wie der Verf. zugibt, auch bei seiner Auffassung
bestehen, seien nicht durch Quellenscheidung, sondern durch die
Annahme einer Redaktion des 4. Evg.s zu lösen.

Um Herkunft und Frühgeschichte des Christentums

Von Siegfried M o r e n z, Leipzig

Indem und solange theologische Fakultäten sich aus historischen
und systematischen Disziplinen aufbauen, haben dort die
Historiker das Recht, die Welt der Bibel und der Kirche mit den
Mitteln der Geschichtswissenschaft zu erforschen und darzustellen
, und haben die Systematiker die Pflicht, die Ergebnisse der
historischen Forschung im Prinzip und in den großen Linien als
wesentliche Voraussetzungen ihrer Arbeit gedanklich zu bewältigen
. Es haben aber auch umgekehrt die Systematiker das Recht,
von den Historikern zu erwarten, daß sie, ebenfalls im Prinzip
und in den großen Linien, die Welt der Bibel und der Kirche als
ein Herzstück der Geschichte Gottes mit den Menschen zu sehen
imstande sind, und die Historiker haben die Pflicht, solcher Erwartung
soweit zu entsprechen, wie es ohne Trübung der intellektuellen
Redlichkeit möglich ist. Daß ein echter Ausgleich
dieser reziproken Rechte und Pflichten nur ganz selten erfolgt,
wird nicht zuletzt von den Akteuren selbst schmerzlich empfunden
und als eine der größten Gefahren für das Weiterschreiten
des Christenrums auf seinem Gange durch die Welt gefürchtet.
Es wäre töricht oder vermessen, zur Überwindung dieser Krise
eine Patentlösung anzubieten. Doch sei eine schlichte und sicher
nichts weniger als originelle Erwägung ausgesprochen, die mir
heilsam zu sein scheint: Wenn Gott geschichtlich handelt, und
diese Setzung ist das Hauptaxiom beider Testamente, so tut er
das zwangsläufig in Formen, die bei aller Mannigfaltigkeit und
mitunter bis zum Abnormen reichenden Fremdartigkeit doch historische
sind und als solche der historischen Betrachtung im
wahren Sinne des Wortes zu-stehen. Wenn dann der Historiker,
zur Betrachtung aufgerufen, feststellt, daß sich Gott bei der geschichtlichen
Verwirklichung des Christentums gewisser in Zeit
und Raum bereitliegenden Bausteine bedient habe, so mag man
über Charakter und Ausmaß solcher göttlichen Ökonomie streiten
, mag über die Herkunft gewisser Elemente, über die Intensität
ihrer Wirksamkeit oder auch über ihre mögliche Umfunktio-
nierung im neuen Ganzen verschiedener Meinung sein — die Tatsache
der Ökonomie als eines Prinzips historischer Gestaltung
durch Gott hat ein kategorisches Recht auf Anerkennung. In diesem
einfachen Sinne können und sollen Geschichte und Systematik
sich zur Theologie vereinen, indem die Historiker, die sich
der göttlichen Ökonomie bewußt sind, zu Systematikern und die
Systematiker, die sich die Konsequenzen aus Gottes geschichtlichem
Handeln gegenwärtig halten, zu Historikern werden.

Gedanken solcher Art können einen Maßstab bilden, wenn
man sich dem Versuch einer neuen Gesamtdarstellung der Herkunft
und Werdezeit des Christentums gegenübersieht1, bei dem

') S c h n e i d e r, Carl: Geistcsgcschichtc des antiken Christentums.

also der Gegenstand selbst all die Empfindlichkeiten birgt, die
sich durch den krisenhaften Antagonismus zwischen Geschichtswissenschaft
und Glauben herausgebildet haben. Der Maßstab
räumt zunächst dem Verfasser, auch vom Theologen her gesehen,
das Recht auf eine Betrachtung ein, die alle Mittel der historischen
Wissenschaften auf Erforschung und Darstellung von Herkunft
und Werdezeit des Christentums anwendet — ein Recht,
das noch immer mindestens auf gefühlsmäßige Hemmungen trifft.
Ich komme darauf nicht wieder zurück. Er erwartet, wiederum
vom Theologen her gesehen, freilich anderseits eine Einsicht in
das Wie der historischen Handlungsweise Gottes, in letzter Linie
vielleicht gar die Hilfe des Historikers bei dem Bemühen, eine
postulierte Einzigartigkeit des Christentums aus besonderer historischer
Situation zu erweisen oder wenigstens faßlich zu machen
. Das wird uns am Ende noch einmal beschäftigen. Er gibt
uns endlich drittens Freiheit und Pflicht, die vom Verfasser vorgenommene
Ordnung der Bausteine nachzuprüfen. Hier liegt unsere
Hauptaufgabe, und damit wollen wir beginnen, nachdem wir
Art und Inhalt des Werkes kurz skizziert haben. Schneiders
Bände sind von einer These beherrscht, die ihnen Gestalt gibt
und damit zugleich Möglichkeiten und Grenzen setzt. Sie lautet,
das Christentum habe durch seine Herkunft aus dem Hellenismus,
ja seine Zugehörigkeit zu ihm2, alles Wesentliche dem Griechentum
und darin besonders dem Piatonismus zu verdanken, abgerechnet
einiges Eigene, wie in erster Linie den von Jesus verkündeten
sünderliebenden Gott'1. Diese These zieht sich wie ein
roter Faden durch die gut tausend Seiten des Werkes, das im
übrigen durch eine primär sachliche, nicht chronologische Gliederung
gekennzeichnet ist und auch darin seine Eigenart, d. h.
seine Stärke und seine Schwäche, besitzt. Einer Einleitung,
die die religiöse Lage des Menschen der alten Mittelmeerwelt in
der Zeit um Christi Geburt schildert und dann speziell auf jüdische
Besonderheiten innerhalb der hellenistischen Welt hinzielt, folgt
eine Darstellung der Grundlagen, die sich in Jesus, seinen
Jüngern, Paulus und Johannes personifizieren. Der Entfaltung
des Keimes zur großen Gestalt wird in einer .Strukturanalyse"
der geistigen und emotionalen Lebensäußerungen nachgespürt. Es
folgen sich dabei die Welt der Gefühle, Mystik und Enthusiasmus,
Mythos und Gnosis, Lehre und Dogma4, endlich Ethos sowie

Bei I u. II. München: Beck 1954. LI, 743 S„ u. XI, 424 S. gr. 8°. Lw.
DM 65.-.

2) Sch. faßt ihn im weitestmöglichen Sinne und läßt ihn mit Ju-
stinian enden: I, S. 1.

3) Vgl. namentlich Luk. 15, 11 ff.: Sch. I, S. 30 f. im Anschluß an
eine zugespitzte Formulierung A. v. Harnacks.

*) Diese ihrerseits unterteilt nach ihren Gegenständen, z. B. Gott,