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1955 Nr. 9

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Ethik

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 9

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wußte, im Bewußtsein befindliche Geschichte, und es schwingt in
ihr Bild alles das mit ein, was wir als heute Lebende eben sind.

III.

Um das Problem des geschichtlichen Denkens in der Theologie
zur äußersten Zuspitzung zu bringen, wird es gut sein, in
diesem Abschnitt auf die Konsequenzen der historischen Methode
kurz einzugehen, ohne sofort auf die theologische Anwendung
zu reflektieren. Der theologische Aspekt muß einen Augenblick
aus dem Spiel bleiben, um die ganze Härte des Problems
fühlbar zu machen, vor das wir auch in der Theologie gestellt
sind.

1. Historisches Erkennen muß sich darin als wissenschaftlich
erweisen, daß es bei aller Respektierung des Individuellen
doch keine Ausnahmen in der Methode zuläßt. Solche Ausnahmen
könnten sich aus Gründen der Pietät nahelegen. Man könnte aus
gewissen Rücksichten etwa Motive verschweigen, gewisse Personen
, Zeiträume oder Textgruppen, ja ganze Geschichtsträger nach
anderen als den allenthalben gültigen Kriterien behandeln. Das
historische Erkennen läßt keine Inseln, keine Ausnahmen zu.
Alles Geschehen ist für das historische Erkennen ,,nur geschichtlich
". Es ist Geschehen auf der Erde, menschliches Geschehen.
Daraus erklärt es sich, daß die jeweils natürlichste Erklärungsform
vor allen anderen Erklärungen einen höheren Grad der Wahrscheinlichkeit
in Anspruch zu nehmen vermag. Das bedeutet, daß
das historisdie Erkennen in grundsätzlicher Profanität verläuft.
Das schließt nicht aus, daß es noch andere Aspekte der Geschichte
gibt. Wir werden davon noch zu sprechen haben. Man wird ganz
allgemein sagen können, daß überall dort, wo Geschichte wirkt,
wo sich am Bild geschichtlicher Ersdieinungen Leben entzündet,
wo Geschichte leuchtet oder wo Geschichte weckt, noch andere
Aspekte wirksam sind, die ihrerseits wieder von höchstem historischen
Interesse sind. Das historische Erkennen selbst aber bedeutet
in sich einen profanen Aspekt, der keine Ausnahmen duldet
. Die Historie hat insofern in der Tat einen Spannungscharakter
zum ,,Leben". Wie Nietzsche richtig erkannt hat, der „über
den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" nachgedacht
hat und in jener unzeitgemäßen Betrachtung die Vielzahl der
möglichen Aspekte des Geschichtlichen geradezu als zum Wesen
der Geschichte selbst gehörig sichtbar gemacht hat. Das alles hebt
aber den geschilderten Zwang des Historischen nicht auf.

2. Nun dringt freilich alles Geschichtliche in unserem Bewußtsein
zur Formung. Wir können das Geschichtliche nicht wissen
, ohne die gewußte Geschichte zu gestalten, zu Einheiten, zu
Epochen zu ordnen. Wir können nicht historisch denken, ohne
der einen Erscheinung besondere Beachtung zu schenken und andere
Dinge wegzulassen, ja geradezu aus unserem Bewußtsein zu
verdrängen. Alle Geschichte gestaltet sich in unserem Bewußtsein
zum Bild. Alle Geschichte ist Abstraktion, angefangen damit,
daß wir Geschichtsträger abstrahieren, etwa ein Volk, einen Staat,
eine Persönlichkeit, etwa die Kirche oder auch nur eine Konfession
, um alles andere, was sonst noch gleichzeitig war, wegzulassen
. Jeder Historiker erzählt Geschichte unter gewollter Weglassung
der benachbarten Geschichte. Damit kommt alles Historische
mit sich selbst in Widerspruch; denn es möchte ja das Gewesene
so real, so wahr wie möglich erzählen, in dem Sinn, wie es Ranke
als höchsten Begriff von Geschichte ausgesprochen hat: Erzählen,
wie es eigentlich gewesen ist!

3. Aber wie ist es eigentlich damals gewesen? Das wird immer
nur annäherungsweise gewußt werden können. Wie unzureichend
sind alle Quellen! Wie sehr ist alle Überlieferung schon
ein gestaltetes Bild! Immer wieder spielt uns die Pragmatik aller
ursprünglich naiven Geschichtsdarstellung einen Streich. Nicht
nur wir selber sind geneigt, alle Ereignisse von ihrem Ergebnis,
von ihrer Bedeutung für uns und unsere Gegenwart her zu betrachten
. Die alten Historiographen waren es noch viel mehr.
Alles geschichtliche Erkennen und Denken ist darin vom naturwissenschaftlichen
Erkennen grundsätzlich unterschieden, daß es
sich aus der Verklammerung aller möglichen Subjektivitäten kaum
zu lösen vermag. Es muß in einem viel höheren Maß, als das
beim naturwissenschaftlichen Erkennen der Fall ist, von der steten
selbstkritischen Bereitschaft zum Abbruch der systematischen |

Gebäude und zum Ausstreichen des eigenen Geschichtsbildes begleitet
sein. Das kommt darin zum Ausdruck, daß der Ausweis
echter historischer Methode der Wille zur historischen Kritik ist.
Historisch im vollen Sinn kann daher nur historische Kritik bedeuten
. Diese Kritik ist mit Quellenkritik etwa nur unzureichend
bezeichnet. Natürlich gehört das dazu. In einem viel tieferen
Sinn aber bedeutet historische Kritik Selbstkritik, d. h. ein stetes
, die historische Arbeit begleitendes Mißtrauen gegen vorzeitige
Ausformungen und Verfestigungen von Geschichtsbildern
, die doch immer wieder der Probe auf die Wahrheit unterworfen
werden müssen.

Es mag mit diesen wenigen Andeutungen genug sein. Sie
sollen nur die Voraussetzungen bilden, um zu verstehen, vor
welcher Frage die heutige Theologie steht, wenn sie der geschichtlichen
Frage, dem geschichtlichen Ansatz, zu dem sie sidi
nach dem Gesetz der Moderne bekannt hat, standhalten will.

IV.

Wir sind an das Geschichtliche gebunden. Auch die christliche
Offenbarung, die christlichen Urkunden, das christliche
Zeugnis sind in der Geschichte; das Geschichtliche ist unsere
Welt. Wir können uns keine andere Art des menschlichen Selbstbewußtseins
denken als das geschichtliche; denn dieses Bewußtsein
entsteht nur in der Begegnung mit geschichtlichem Leben.
Auge in Auge mit der Vergangenheit, Auge in Auge mit unserer
Verantwortung für die Zukunft kommen wir zu uns selbst. Wir
kommen von der Geschichte nicht los. Die Geschichte macht es
uns schwer, sie legt uns Lasten auf und zwingt uns zur intellektuellen
Redlichkeit.

Was bedeutet das nun alles, wenn auch die „Offenbarung"
an einem Punkt der Vergangenheit fixiert ist, wenn sie vollends
ihren Niederschlag erst nach Generationen in bestimmten Urkunden
gefunden hat, die selbst schon geschichtliche Zeugnisse
sind und den Gesetzen historischer Kritik unterliegen? Was bedeutet
ferner unsere Feststellung über das Geschichtliche, wenn
auch die heilige Geschichte daran teilhat, daß alle Geschichte
eine phänomenale Gegebenheit des Vergangenen ist? Immer wieder
stoßen wir bei der Erforschung der Geschichte auf die Tatsache
, daß die „Vergangenheit an sich" ebenso unerkennbar ist
wie das Ding an sich. Für die historische Forschung ist die Geschichte
jedenfalls immer eine sehr belastete und unzureichende
Gegebenheitsweise vergangener Tatbestände. Historische Forschung
zwingt uns zur Rechenschaft darüber, wie fern das Gewesene
von uns ist, wie wenig wir davon wissen, und sie zwingt
uns gleichzeitig, überall nach den natürlichen Zusammenhängen
des Gewesenen zu fragen. Jedes Ausweichen vor diesem Zwang
ist kein historisches Denken im strengen Sinn mehr. Darüber
hinaus aber steht die Theologie insonderheit nun vor der unausweichlichen
Aufgabe, daß sie, die sich doch auf die Geschichte
stützt, angeben soll, was dieses Geschichtliche für uns bedeutet.
Inwiefern kann Gewesenes unser Heil sein? Wie kann Ferngerücktes
Gegenwart werden? Denn Gottes Heil ist Gegenwart und
Zukunft oder es ist nicht. Die Frage der Theologie ist die der
Vergegenwärtigung, ist die Gegenwart!

Wir kennen aus der Theologiegeschichte vier Wege, auf denen
man versucht hat, den christlichen Glauben doch von der
Geschichte her zu Lehen zu nehmen. Es sind vier Formen, in denen
man das ganze Gewicht des Glaubens auf den Grund der
Geschichte glaubte verlagern zu können bei gleichzeitiger Hoffnung
, der geschilderten Erschütterung durch die historisdie Konsequenz
doch zu entrinnen'1.

1. Die älteste Form, von der Geschichtlichkeit des Gewesenen
zur Gegenwart durchzustoßen, war das Festhalten an der
Tradition. Man kann es am kürzesten wohl so ausdrücken: das
Gewesene besteht historifii fort. Diese Tradition ist ebenso ein
Werk der Kirche, die zur Tradition — das Wort im aktiven Sinn
verstanden — verpflichtet ist, wie es zugleich ein Wunder darstellt
, wenn die Qffenbarung von Generation zu Generation geschichtlich
weitergegeben wird und sich doch nicht verändert.

4) Ich sehe hier von dem oben schon berührten Problem der Heils-
gesdiidite ab.