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Ausgabe:

1955 Nr. 1

Spalte:

23-24

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Leipoldt, Johannes

Titel/Untertitel:

Heilige Schriften 1955

Rezensent:

Fascher, Erich

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 1

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gewiesen sei. Wenn wir sie als Existentialisierung oder Personalisierung
des Amts bezeichnen, so soll damit nichts anderes gesagt
sein, als daß die ganze Fülle der neutestamentlich-reforma-
torischen Aussagen über das Amt wirklich vom „Herzen", statt
nur vom Intellekt oder vom Gefühl oder vom Willen des Amtsträgers
, aufgenommen und verarbeitet werden müssen, bevor sie
an einer Gemeinde wirksam werden können. „Cum verbum
Christi, cum sacramenta porrigunt, Christi vice et loco porri-
gunt." Es gilt, das tiefgreifende Lebens- und Charakterproblem
zu sehen, das hier vorliegt. Ist mit diesem ungeheuren Anspruch
der Mensch — und nun zumal der Mensch der Gegenwart — nicht
vielleicht überhaupt überfordert? Muß es hier nicht zu Verlegungen
, Verkrampfungen, Gewolltheiten, Unnatürlichkeiten,
Künstlichkeiten, zur Unechtheit — zur „heiligen Maskerade"
kommen? Und wenn, wie große Priestergestalten aller Jahrhunderte
und aller Konfessionen beweisen, dies nicht der Fall ist —
welche Hilfe muß dem normalen Gegenwartsmenschen, der der
Pfarrer doch auch ist, geboten werden, um Botschaft und Person
in das richtige Verhältnis zu setzen? Es ist gewöhnlich so, daß
wenn eine Not nur wirklich erkannt und beim Namen genannt
ist, die Hilfe auch schon vor der Tür liegt. Hier würde es sidi
darum handeln, vor allem das, was Otto Haendler in seiner Predigtlehre
für die Predigt — namentlich in dem Kapitel „Die
Bedeutung des Subjekts für die Predigt" — erarbeitet hat, unter
ständiger Wachsamkeit gegenüber der Gefahr der Psychologisierung
auf die ganze Breite der Amtsführung zu übertragen.

Die andere Aufgabe einer so verstandenen Pastoraltheologie
, die hier kurz bezeichnet sei, liegt in der Besinnung auf die
weitgreifenden Realisierungsprobleme, die in der
lutherischen Amtsauffassung beschlossen liegen. Die Welt ist ja
wirklich von Grund aus anders geworden. Und es geht hier um
die Frage: Was bedeutet handeln „an Christi statt" in dieser
gegenüber dem 16. Jahrhundert so von Grund aus veränderten
Welt von heute? Was bedeutet es in der persönlichen Lebensführung
, in der Ehe, im Pfarrhaus, im Umgang mit der Gemeinde,
im Eingehen auf die Fragen der sozialen und politischen Neuordnung
der Welt? Welcher Lebensstil entspricht dem amtlichen
Auftrag in all diesen Beziehungen, in der durch Technik,
Weltverkehr, Kollektivierung revolutionierten Welt von heute?
Es läßt sich ja nicht verkennen, daß alle diese äußeren Veränderungen
einen ungeheuren Tiefgang im Ursprung und in der
Wirkung haben.

Die entscheidende Wandlung kommt darin zum Ausdruck,
daß der Wirklichkeitsbegriff von Grund aus anders geworden
ist. Was der Bibel und noch dem Menschen des 16. Jahrhunderts
letzte, unumstößliche Wirklichkeit war, gilt dem Menschen der
Gegenwart weithin bis zum Erweis des Gegenteils, als mehr oder
weniger verständliche und mehr oder weniger willig hingenommene
Illusion. Damit hängt das abgrundtiefe Mißtreuen und im
günstigen Fall die tiefe Verschämtheit des Menschen der Gegenwart
in bezug auf das religiöse Wort zusammen, in dem er so
lange abstrakte Theorie, Schwindel, Selbstbetrug oder Irrtum
sieht, bis er vom Gegenteil überzeugt und vom Bann des metaphysischen
Schweigens gelöst wird, der auf ihm liegt. Ist es verwunderlich
, wenn es einer von daher geprägten Welthaltung so
vorkommt, als würden in einer „Kirche des Wortes" nur Worte
gemacht? Das ist es, was jeder geistliche Amtsträger in tausend
bitteren Einzelerfahrungen zu spüren bekommt. Wie soll er sich
hier behaupten, wie soll er dieser Welt glaubhaft machen, daß
jede Art von repraesentatio Christi es mit der Wirklichkeit und
nur mit der Wirklichkeit zu tun hat? Das ist die Frage, die in
einer Pastoraltheologie der Zukunft an der ganzen Breite der
Amtsführung zu erläutern und für sie zu beantworten wäre. Und
es scheint mir, daß es sinnvoll wäre, den Begriff der Pastoraltheologie
dieser Aufgabe der Existentialisierung und Realisierung
des neutestamentlich-reformatorischen Amtsverständnisses
vorzubehalten und so das Bewußtsein der Selbständigkeit einer
Aufgabe wieder zu erwecken, die nicht nebenbei in der Lehre
von der Seelsorge gelöst werden und die auch nur in solcher
Selbständigkeit der Durchführung in ihrer ganzen Bedeutung für
die theologische Zurüstung, namentlich im Predigerseminar, zur
Geltung kommen kann.

RELIGIONSWISSENSCHAFT

L e i po 1 d t, Johannes, u. Siegfried Morenz: Heilige Schriften. Betrachtungen
zur Religionsgeschichte der antiken Mittelmeerwelt. Leipzig
: Harrassowitz 19 53. 217 S., 14Taf. gr. 8°. Lw. DM 11.—.

In ihrem Vorwort erklären die beiden Verfasser, daß sie
nicht die Absicht haben, dogmatische Gedanken zu entwickeln,
sondern sie erstreben mit den Mitteln der vergleichenden Religionswissenschaft
eine Phänomenologie der Heiligen Schriften,
wie sie bei den Völkern der als Kulturzusammenhang zu fassenden
Mittelmeerwelt aufgrund der Kenntnis der Urtexte zu erheben
ist. Ägypter, Israeliten, Griechen, Christen und Römer
treten nebeneinander in Verwandtschaft und Unterschied hinsichtlich
der Bewertung, Deutung und Verwendung ihrer heiligen
Schriften. Der Ursprung und die Textüberlieferung dieser
Schriften werden dabei in einer die alt- und neutestamentlichen
Einleitungen ergänzenden Weise mit behandelt. Besonders wertvoll
erscheint mir das ausführliche Kapitel 10 über die Deutung
heiliger Schriften (S. 123-160).

Es bringt wertvolle Hinweise zur Geschichte allegorischer
Schriftauslegung. Aber die Hervorhebung dieses Kapitels soll ausdrücklich
mit dem Bemerken erfolgen, daß auch alle übrigen von
den 13 Kapiteln eine bewundernswerte Quellenkenntnis und Belesenheit
in antiker und moderner (in- und ausländischer) Literatur
verraten, so daß der Fachmann wie der interessierte Laie
aus diesem in flüssigem, klaren Stil geschriebenen Werk — seine
Verfasser, die 10 Jahre zusammen an diesem Stoff arbeiteten, vermögen
nicht mehr zu sagen, wie bei den oft miteinander verhandelten
Gegenständen „eine Gütertrennung" vorzunehmen
sei — eine Menge zu lernen vermag. Der Dank für diese Belehrung
mag aber auch darin zum Ausdruck kommen, daß einige Fragen
und kritische Anmerkungen beigefügt werden, die vielleicht für
eine sicher zu erwartende zweite Auflage Berücksichtigung finden
könnten.

Die Frage der schriftlichen Fixierung priesterlicher Weisungen oder
prophetischer Sprüche erscheint etwas summarisch behandelt (S. 9).
Wenn auch der Zeitpunkt des Beginnes nicht zu ermitteln ist, so sollte
man doch neben dem Deuteronium nicht übersehen, daß ein Jeremias
einen Schreiber hat, der seine Aussprüche festhalten muß (Jer. 45), und
sich obendrein auf schriftlich fixierte Aussprüche Michas beruft (Jer.
26, 18). Und, daß die Grundgebote Jahwes von ihm diktiert oder
selbst geschrieben sein sollen (Ex. 34« 24u 3h« 32is—10), zeigt doch,
daß man sie nicht dem Zufall mündlicher Überlieferung überlassen sehen
wollte. (Vgl. dazu S. 53 u. 57).

Der auf S. 57 zitierte Wortlaut von Deut. 4,2 u. 13,1 bezieht
sich wohl nicht darauf, daß an den einzelnen Geboten nicht gerüttelt
werden solle, sondern — laut Textzusammenhang — daß durch Zusätze
kein Götzendienst hineingebracht werde.

Der Leser von S. 17 erkennt nicht, daß die Vorlesung der Paulusbriefe
auf des Apostels eigene Anweisung erfolgt. Erst auf S. 107 ist
das klar gesagt.

Kann man wirklich sagen, der Autor der Apok. Joh. biete absichtlich
holpriges Griechisch? Das scheine bewußte „Kunst", das angemessene
Kleid echter Offenbarung? fS. 81). Kann man aus 1. Kor. 14, 26 (f.
mit Sicherheit entnehmen, im Wortgottesdienst der Korinther
werde das AT nicht vorgelesen angesichts der vielen at.liehen Zitate
(1. Kor. 1, 19 + 31; 2,9; 3,19; 6,17; 9,9; 10,7; 14,21), die auch
bei ehemaligen Heiden eine erhebliche Kenntnis und Anerkennung des
AT als Autorität voraussetzen? Und darf man aus 1. Thess. 5, 19—21
u. Rom. 8, 26 ohne Weiteres schließen, daß eine ähnliche gottesdienstliche
Form auch in Thessalonich und Rom üblich war? Die Warnung
in 1. Thess. 5, 19—21, Geist nicht zu dämpfen und Prophetie nicht zu
verachten, ließe mit gleichem Recht den gegenteiligen Schluß zu. Auch
die Darstellung der Einstellung Jesu zum AT (S. 8) und die Vermutung,
Mt. 5, 17—19 gehöre in die Linie von Apok. 22, 18 f. (S. 58 Anm. 20),
vermögen Bedenken zu erwecken.

Diese Fragen sollen dazu helfen, die in den einzelnen Kapiteln
etwas locker gebotenen „Betrachtungen" durch Bezugnahme
(bei verwandten Gedankengängen) aufeinander etwas zu festigen,
ohne deshalb einer „Dogmatik" das Wort reden zu wollen.

Berlin (Oretfswald) Erich l ascher