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Ausgabe:

1955 Nr. 6

Spalte:

366-368

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bartsch, Hans-Werner

Titel/Untertitel:

Die Anrede Gottes 1955

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 6

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ner, ja vielleicht sogar nur dem Spezialisten, in allen seinen Teilen
ohne weiteres verständlich. Wenn ich es trotzdem wage, darüber
für eine theologische Zeitschrift eine Besprechung zu schreiben
, so darum, weil das Werk seiner geistigen Haltung und seiner
grundsätzlichen Bedeutung nach weit über die engeren Fachkreise
hinaus Beachtung verdient. Armin Müller unternimmt es nämlich
hier, der unter den Namen Syphilis oder Lues bekannten
Krankheit eine Sinndeutung zu geben. Dabei wird das
Krankheitsgeschehen in allen seinen drei oder richtiger vier Stadien
als ein einheitliches in der Zeit entfaltetes Ganzes zusammengeschaut
, ähnlich etwa wie ein musikalisches Werk von der Introduktion
bis zum Finale.

Der Verfasser ist bemüht, durch den vordergründigen Schleier
der medizinisch-wissenschaftlich aufzeigbaren Symptome hindurch
die Syphilis als den Dämon des Hetärismus sichtbar
zu machen, wobei aber dieser Schleier keineswegs mit einer lässigen
und genialen Geste beiseite geschoben, sondern in allen
seinen Einzelheiten ganz ernst genommen wird. Auf ihm selber
sozusagen werden die Konturen der hinter ihm verborgenen unheimlichen
Gestalt minutiös nachgezeichnet. An Hand einer überreichen
, für den armen Leser sogar allzu überreichen Literatur
sucht A. Müller den spezifisch venerischen Charakter der Krankheit
nachzuweisen. Mag die Syphilis woher immer importiert sein
und von welcher ursprünglichen, vielleicht nicht venerischen Vorform
immer herstammen, in ihrer heutigen Gestalt hat sie sich
jedenfalls auf die Übertragung durch den geschlechtlichen Kontakt
spezialisiert, und zwar ist ihre Verbreitung durchaus an den
ungeregelten außerehelichen Geschlechtsverkehr gebunden. „Wichtigste
Voraussetzung... für ihre Übertragung ist Wechsel der
Sexualbeziehungen. Nur vagierende Sexualbetätigung vermag,
aufs Ganze gesehen, ein Blind-endigen der Infektionskette zu verhindern
" (47). Dieser Gefahr sucht sich der Lueserreger allerdings
dadurch zu entziehen, daß er, wohl als einziger überhaupt,
in der Regel auf die Nachkommenschaft der erkrankten Eltern
übergeht, und zwar bis ins dritte und vierte Geschlecht. Auch hier
zeigt sich übrigens sein ausgeprägt venerischer Charakter.

Der Krankheitsablauf gliedert sich deutlich in eine e x o-
t r o p e und eine endotrope Periode. In der ersten liegt der
Akzent auf der Infektionsmöglichkeit, in der zweiten, vor allem
in der Metalues, dem Endstadium, auf der Zerstörung des kranken
Organismus selbst. Zwischen der Ansteckung und dem Ausbruch
der Metalues liegt eine außerordentlich lange Inkubationszeit, bis
zu 20 Jahren, die sich aber mit dem zunehmenden Alter des Infizierten
merklich verkürzt. Die Erreger, heißt das, verschonen
den Wirt, solange dieser in voller Geschlechtskraft für ihre Weiterverbreitung
sorgen kann, um ihn nachher zu vernichten. Sie
machen es also ungefähr so wie der Teufel, der dem ihm Verschriebenen
zunächst ein vergnügliches Leben gewährt, solange er
seinen Zwecken dienlich sein kann. Dann aber fällt er plötzlich
über ihn her und holt sich ihn.

Was aber die Syphilis-Spirochäten gegenüber allen anderen
Parasiten des Menschen vor allem auszeichnet, ist das von
A. Müller sogenannte Prinzip der „Kreissotropi e", d. h.
der Tendenz, im Spät- und Endstadium die dominanten Zentralorgane
und hier wieder die eigentlich leitenden Zentren anzugreifen
. Es sind immer die „Spitzenfunktionen", die dem metaluetischen
Sturm zum Opfer fallen. Betroffen werden das Hirn
(Paralyse), die Spitzen der Energiegradienten des Rückenmarks
(Tabes) und der Anfang der Aorta über dem Diafragma (Mesa-
ortitis). Die metasyphilitischen Spirochäten setzen sich also in
den Regionen der menschlichen Autonomie fest und entmächtigen
sie. Wie der Mensch im regellosen Sexualleben sein persönliches
Selbst, seine Subjektivität an die Gattung verschwendet, so wird
er von der typischen Geschlechtskrankheit folgerichtig gerade in
dieser seiner Subjektivität getroffen. Die Spätphase der Krankheit
Vollstreckt gleichsam das Urteil, das der Kranke im Augenblick
des ihn infizierenden Sündenfalls selbst über sich gesprochen
hatte. „Rein erscheinungsmäßig stellt (die Kreissotropie) eine
Verneinung aller Kausalitäten jeweils höchster Ordnung dar und
bringt somit in der Erscheinungsreihe der Endotropie einen geradezu
bestimmenden Wesenszug der Exotropie, ihren venerischen
Charakter, zum symbolhaften Ausdruck" (138). Das Geschlecht

haßt das Gehirn wie die Mänade den Orpheus, und darum ist es
„die Negativbeziehung der Spirochäte zu aller wie feindliche Bedrohung
wirkenden höheren seelischen Dominanz, die eben als
dämonischer Charakter bezeichnet worden ist" (163).

Es wäre nur zu wünschen, daß die Gedanken dieses in jahrzehntelanger
Arbeit entstandenen, gründlichen, tiefsinnigen und
geradezu erschütternden Buches in einer auch dem medizinischen
Laien verständlichen und weniger mit Literaturhinweisen überladenen
Form einem weiteren Leserkreis zugänglich gemacht werden
. Warum sollte man nicht auch heute noch so schreiben können
, wie das vor mehr als hundert Jahren so viele Ärzte der Romantik
taten, wie Carus, Schubert, Hufeland usw.?

Berlin Erwin Reis ner

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Bartsch, Hans-Werner: Die Anrede Gottes. Das biblische Wort
dem modernen Menschen dargeboten. Hamburg: Herbert Reich [19531.
90 S. 8°. Lw. DM 3.85.

In der 12. Nummer des Jahrgangs 1954 der ThLZ wurde
versucht, der von Hans-Werner Bartsch in seiner Schrift „Christus
ohne Mythos" (Evangelisches Verlagswerk Stuttgart 195 3)
vertretenen Hermeneutik ihren Platz in der Homiletik anzuweisen
. Bartsch hatte aber 1953 eine kleine Sammlung von Predigten
dieser Art erscheinen lassen, die er der ThLZ erst jetzt vorlegt
, eben „Die Anrede Gottes". (Darin steht auch die Predigt
über Lk. 5, 1—11 nochmal). Im Vorwort zu der „Anrede Gottes"
wiederholt Bartsch seine These, daß das NT schlechthin Verkündigungscharakter
habe, und dieser Verkündigungscharakter
komme eben durch das Unternehmen der Entmythologisierung
so recht zur Geltung. Das Kerygma des NT werde durch die Entmythologisierung
nicht verletzt, „sondern in Wahrheit erst aus
der Vielfalt scheinbar historischer Berichte zutage gefördert". Der
„anderen Seite", welche darauf besteht, daß das Kerygma des
NT stets auf Geschichte als Tatsächliches bezogen sei, gibt
Bartsch zu: Wo nachweislich Geschichtliches berichtet wird,
braucht man es nicht aufzulösen; nur wo Mythos vorliegt, steht
die Sache anders. Aber ob nun Geschichte oder Mythos — beides
habe nie begründende, stets dienende Funktion, sowohl im NT als
auch in der Predigt. Denn es sei ja das NT selbst Anrede, Predigt
, nicht Geschichte. Darum brauche der Prediger der Bartsch-
Homiletik nicht mehr zu fragen: Welche Bedeutung hat nun diese
Geschichte des NT für den Menschen der Gegenwart? — sondern
„die Anrede an den Hörer darf er im Texte selbst finden, da er
die Perikope nicht als Geschichte, sondern als Predigt selbst versteht
". Freilich hat nach Bartsch „die erste Predigt", also das
NT, vielfach „mythologische Form" — diese braucht der Prediger
nicht unbedingt als solche aufzugeben, wenn er sie nur als solche
erkennt und wertet. „Der Prediger weiß, daß er nicht zum Glauben
an irgendwelche in den Predigten berichteten Tatsachen zu
rufen hat, sondern an die dort hörbare Anrede. Allein darum
geht es in der Predigt, daß diese Anrede heute wieder in gleicher
Weise hörbar werde."

Mutig eröffnet Bartsch die Reihe der Predigten mit einer
Osterpredigt 1953 über I. Kor. 15, 12—19, in welcher er den
Christen von Sahms im Herzogtum Lauenburg sagte: „Es nützt
gar nichts, wenn die Korinther gehorsam und gläubig annehmen,
daß Christus auferstanden ist. Es nützt nichts, wenn sie das Glaubensbekenntnis
sprechen und es wirklich gläubig sprechen, wenn
es nicht für ihr Leben und für ihren Tod diese letzte und endgültige
Befreiung von aller Knechtschaft bedeutet... Es hängt
wirklich nichts daran, daß dort einmal einer vom Tode erstanden
ist... es hängt vielmehr alles daran, daß wir hören, was Gott in
dieser Geschichte uns, dir und mir sagen will"! (Was Bartsch will,
ist klar; aber ob er nach I. Kor. 15 so formulieren darf, ist eine
andere Frage). — Die Neujahrspredigt in Davos über Ps. 37, 5
geht natürlich ohne Schwierigkeit in das Genus „Anrede an uns"
ein. — Die Predigt über die Hochzeit von Kana (Joh. 2, 1—ll)
schließt mit dem Satze: „So ruft uns der Evangelist, durch Jesus
Christus die Liebe Gottes in den kleinen Dingen unseres Alltags
zu erkennen". (Wirklich der Evangelist?) — Die Predigt über