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Ausgabe:

1955 Nr. 5

Spalte:

265-270

Autor/Hrsg.:

Mehl, Oskar Johannes

Titel/Untertitel:

Das "Vesperale et Matutinale" des Matthaeus Ludecus (1589) 1955

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 5

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evolutionistischen Fortschrittsglauben huldigend, die seelischen j

Gegebenheiten wie körperliche Objekte und deren Funktionen, I

und es macht dann keinen allzu großen Unterschied mehr aus. j

ob man von Triebmechanismen wie in der Psychoanalyse oder von 1
Reflexmechanismen wie im P a w 1 o w' sehen Nervismus spricht.
In beiden Fällen aber wird dem Menschen als geistbestimmtem

Wesen und damit dem Geheimnis seiner Leiblichkeit Gewalt an- i

getan, welches nicht anders als mit dem Begriff der I n k a r n a- I

t i o n richtig zu beschreiben ist. Denn es geht um nicht mehr und
nicht weniger als um die Spontaneität des Körperlichen, um die
Ursprünglichkeit des Leiblichen, um die Geistträchtigkeit der Materie
.

Und es geht aber auch darum, ob wir von der Heilsamkeit
der Wahrheit nur in geistig-metaphorischem Sinne
reden dürfen.

Das „Vesperale et Matulinale" des Malthaeus Ludecus (1589)

Von Oskar Joh. Mehl, Mörtitz über Eilenburg

In der Kirchenbibliothek zu Querfurt entdeckte ich unter
gewaltigen Folianten das oben genannte Werk, das ich schon vor
Jahrzehnten im Dom zu Havelberg gesehen und seitdem in verschiedenen
Universitätsbibliotheken vergeblich gesucht hatte.

Ehe ich mir dieses, schon äußerlich Ehrfurcht gebietende Buch erbat
, um es gegebenfalls zu bearbeiten, fragte ich einen namhaften Musikgelehrten
, der gerade auf dem Gebiet der alten Kirchenmusik bewandert
ist, ob sich wohl jemand im Lauf der Jahrhunderte an eine
Neuausgabe oder einen Auszug aus Ludecus herangewagt habe. Er
schrieb mir: „Matthaeus Ludecus ist eine ziemlich unbekannte Größe.
Etwas Spezielles ist über ihn m. W. noch nicht gearbeitet worden." Er
nannte mir dann Schriften, in denen er erwähnt wird: Jöcher, C. F.
Becker, Schoeberlein, Die ADB, Kümmerle, Eitner, Blume, und das
Handbuch der deutschen evangelischen Kirchenmusik. Ich habe diese
oft nur sehr kurzen Notizen eingesehen, aber sie beziehen sich ausschließlich
auf biographische Notizen. Das Handbuch zitiert Ludecus an
zwölf Stellen und zieht ihn einige Male zur Vergleichung heran. Bei
weiterem Nachforschen mußte ich feststellen, daß unser Havelberger
Dekan in den Encyklopaedien etc. sehr schlecht weggekommen ist:
er wird gar nicht erwähnt im Großen Brockhaus, Meyers Lexikon, in
Haucks Realencyklopaedie, dem Kalwer Kirchenlexicon, in Religion in
Geschichte und Gegenwart, in Aberts Illustriertem Musik-Lexikon, im
deutschen Musik-Lexikon von E. H. Müller, auch nicht bei Riemann und
Moser; — Im Biographisch-Bibliographischen Quellen-Lexikon von
Robert Eitner finden sich nur wenige Zeilen über Ludecus; in der
Allgemeinen Deutschen Biographie wird er (Band 19, S. 369) auf einer
halben Seite abgefertigt und vor allem seine Schrift über die „heutige
Blutverehrung" zu Wilsnack (1586) erwähnt. Kümmerle (Encyklopädie
der evangelischen Kirchenmusik, Band 2, 1890) geht kurz auf seine
musikalischen Leistungen ein: „Ludecus, Bischof zu Havelberg, Kanonikus
und Dekan des dortigen Kapitels, war um 1540 zu Wilsnach
in der Mark Brandenburg geboren, und stirbt 1606 zu Havelberg. Die
folgenden liturgischen Gesangwerke, die er mit fleißiger Hand zur Förderung
des evangelischen Gottesdienstes seinerzeit gesammelt hat, sind
für die Gegenwart wichtige Quellen zur Herstellung der lange verwüsteten
Liturgie geworden." Man merkt aber heutzutage kaum etwas
davon. Hermann E. Koch hat vor etwa 30 Jahren bei Breitkopf und
Härtel eine verdeutschte Messe von Ludecus herausgegeben, und es
war vielleicht der schönste Gottesdienst, den ich je erlebt habe, als
nun in dem unvergleichlichen Havelberger Dom, wo Ludecus gewirkt
hatte, diese Klänge wie aus einer oberen Welt an unser Herz drangen.

Wie kommt es nur, daß dieser Musikmeister von Gottes
Gnaden so in Vergessenheit geraten ist? Es gibt da nur zwei
Möglichkeiten: Unkenntnis oder Geringschätzung. So habe ich
mir das riesige Buch des Ludecus vorgenommen und umfangreiche
Auszüge (über 130 große Notenblätter) davon gemacht.
Das Buch ist ganz lateinisch geschrieben — so mußte die deutsche
Übersetzung beigefügt werden; und selbstverständlich wurden
die Choralnoten in die jetzige Notenschrift umgeändert.

Am eingehendsten hat sich bisher — soweit meine Kenntnis
reicht — mit Matthaeus Ludecus und seinen liturgischen Werken
(er hat auch ein ebenso umfangreiches „Missale" verfaßt) beschäftigt
: Theobald Schreins, Domkapellmeister in Regensburg,
in seiner fleißigen und gelehrten Doktorarbeit (Freiburg/Schweiz
1930) „Die Geschichte des gregorianischen Gesangs in den protestantischen
Gottesdiensten." Er bespricht hier die großen maßgebenden
Werke eines Lucas Lossius (Psalmodia sacra, Lüneburg
155 3), Johann Spangenberg (Cantiones ecclesiasticae la-
tinae, Magdeburg 1545), Johann Keuchenthal (Kirchengesänge,
lateinisch und deutsch, Wittenberg 1573), Franciscus Eier (Can-
tica sacra, Hamburg 1 588), und vor allem auch unseres Ludecus
„Missale" und „Vesperale et Matutinale". Uns interessiert hier
das zuletztgenannte Werk. Spangenberg und Keuchenthal bringen
diese sogenannten „Nebengottesdienste" (ein wunderlicher Ausdruck
!) nicht; nur Lossius, Eier und Ludecus. Aber Ludecus ist
der reichste und konservativste. „Beide Bände enthalten alle soeben
genannten Gesänge, nur noch in größerer Auswahl, und
zwar in engstem Anschluß an die katholische Zeit", sagt Schrems.
In der VorTede des David Chytraeus zu Ludecus „Missale" wird
ein Loblied angestimmt auf diese „puldierrimi hymni". Die solche
herrlichen Gesänge abschaffen wollten, werden als „deformatores
ecclesiarum" gebrandmarkt, „quorum insaniam nequaquam
imitemur".

Im Vergleich zu den genannten großen Liturgikern bietet
also Ludecus die reichste Fülle dar. Nur er hat auch den alten
Horenanfang: Domine, labia mea aperies bei der Matutin beibehalten
. Die ganze Mette mußte ja im Luthertum umgestaltet
werden. Rom hat da 3 Nokturnen mit je 3 Psalmen und 3 Lektionen
. Auf diese umfangreiche Matutin folgen dann noch die
Laudes (die Thomas Müntzer in seinen Deutschen Kirchenämtern
beibehalten hat!) mit 4 Psalmen, Hymnus, Benedicta« etc. Hier
mußten die Evangelischen neu ordnen, streichen und kombinieren
. Die kleinen Gebetszeiten (horae minores) ließ man ganz
weg — erst in neuester Zeit glauben gewisse evangelische Beterkreise
sie wieder hervorholen zu müssen. — So hat denn das
Morgengebet bei Ludecus folgende Form erhalten: Eingang, In-
vitatorium, 3 Psalmen mit je einer Antiphon, Lektion, Respon-
sorium, Te Deum, Kollekte mit Salutatio, Benedicamus mit Sa-
lutatio. — Zum Vergleich das Thomas Müntzersche Schema: Eingang
, Invitatorium, 3 Psalmen mit Antiphonen, Versikel, Vater
unser und Gebet, 3 Lektionen mit je einem Responsum, Te
Deum. — Seine Laudes haben diesen Verlauf: Eingang, 5 Psalmen
mit ihrer Antiphon, Capitel, Hymnus, Versikel, Benedictus mit
Antiphon, Kollekte, Benedicamus. Müntzer ist also noch vollständiger
: der konservativste und reichste aller evangelischen
Liturgiker!

Der Titel des „Vesperale" lautet: Vesperale et Matutinale,
hoc est: Cantica, Hymni, et Collectae, sive Precationes ecclesiasticae
, quae in primis et secundis Vesperis, itemque Matutinis
preeibus, per totius anni circulum, in Ecclesiis et religionis pio-
rum congressibus cantari usitate solent, notis rite applicatae, et
in duas partes ordine digesta a M. L. etc. Prior pars: de tempore.
Col. 3. Anno dhristianae epochae MDLXXXIX. — Die Posterior
pars handelt De sanetis. Hier werden jene Feste berücksichtigt
, von denen sich auch 17 in Luthers „Hauspostille" finden,
also die Apostel- und Marientage etc. Darüber hinaus finden
wir bei Ludecus noch folgende Feste: Inventio crucis, Divisio
Apostolorum, Laurentius Martyr, Assumptio B. Mariae virginis,
Nativitas B. Mariae virginis, Omnium sanetorum, Martini Epis-
copi, Catharinae virginis. — Ludecus hat vielleicht noch die katholischen
Weihen empfangen, ist dann aber strenger Lutheraner
geworden. Hier aber scheint sich noch etwas römisches Heimweh
zu regen; und vielleicht ist dies auch der Hauptgrund gewesen,
weshalb man ihn mehr und mehr unbeobachtet gelassen hat, als
„katholisierend". Aber auch den Consensus der oben genannten
großen Verfasser von Missalen hat man nicht geachtet; und erst
neuerdings zeigt sich wieder hie und da Leben auf diesem Gebiet,
nachdem die Stimmen einzelner Propheten im vergangenen Jahrhundert
wie in einer Wüste verhallt sind. Weite Kreise der
evangelischen Christenheit sehnen sich nun nach hochfeierlichen
Gottesdiensten, nach „Fülle und Konsequenz", die schon Goethe
im protestantischen Kultus vermißte. Und er hat das scharfe
Wort gesprochen: „Es gibt nur zwei wahre Religionen — die eine,
die das Heilige, das in und um uns wohnt, ganz formlos; die