Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1955 Nr. 4

Spalte:

226-227

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hutten, Kurt

Titel/Untertitel:

Seher, Grübler, Enthusiasten 1955

Rezensent:

Fendt, Leonhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

225

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 4

226

befinden. Es werden vielmehr lediglich ein paar Länder ausgewählt,
Italien, Spanien, Portugal und solche in Lateinamerika; also die
Lage des Protestantismus in romanischen Ländern, aber auch nicht
in allen (Frankreich;), wird uns vorgeführt. Polen, die Tschechoslowakei
und viele andere katholische Länder sind nicht mit herangezogen
.

Herausgeber des Buches ist der Verlag. Die einzelnen Abschnitte
sind von jeweils verschiedenen Mitarbeitern geschrieben.
So stammt der über Italien von Pfarrer Rudolf Hardmeier in Cur-
cach, der über Spanien von Pfarrer Charles Brutsch in Bern, der
über die südamerikanischen Staaten von Marcel Pradervand, dem
bekannten Generalsekretär des Reformierten Weltbundes. Das
hat natürlich den Vorteil, daß jeweils wirkliche Sachkenner die
Feder führen. Aber der Nachteil, der damit für das Buch verbunden
ist, scheint mir größer zu sein als der Gewinn.

Das Buch will vor allem eine Dokumenten-Sammlung sein,
bietet die Dokumente allerdings nicht nackt, sondern bettet sie
ein in einen gebundenen Text. Schon die Dokumente kann man
verschieden auswählen, und die Umrankung kann dürre Umflech-
tung sein, aber auch in die Tiefe gehen und Wesentliches geben.
Weitaus am besten geglückt scheint mir der Abschnitt über Italien
. Da ist bewußtes und energisches Streben am Werke, vor
allem gesetzgeberisches Material darzubieten und nicht nur Berichte
über Übergriffe u. ä. zu bringen. Gut kommen heraus die
Spannungen im Verhältnis des Staates zu den Protestanten (völlig
verschiedene Haltung von Verwaltung und Justiz). Die geschichtliche
Linie von 1848 her über die Lateran-Verträge bis zur Gegenwart
ist klar gezogen. Vor aHem aber bekommt man ein deutliches
Bild von der Differenzierung des Protestantismus in Italien.
Regelrecht enttäuschend ist der Artikel über den Protestantismus
in Spanien. Daß viel mehr Greuelberichte gegeben werden müssen
, als gesetzliche Anordnungen, Verwaltungsanordnungen usw.
bekanntgegeben werden können, ist gewiß in der Sache begründet
. Aber wenn es am Schluß heißt: „Es ist erfreulich, daß die
spanischen Evangelischen in dieser schweren Zeit immer bewußter

.Spanischen Evangelischen Kirche' werden, die seit 1948 im
Ökumenischen Weltbund aufgenommen worden ist", so stimmt
das einfach nicht. Die Iglesia Evangelica Espanola ist eine bedeutsame
Kraft im spanischen Protestantismus. Aber neben ihr
existiert nicht nur die Iglesia Espandla Reformada, sondern ist
genau so wie in Italien und anderswo eine Fülle weiterer protestantischer
Gruppen vorhanden. Im übrigen ist der Artikel, was
nicht Schuld des Verfassers ist, dadurch etwas veraltet, daß am
27-August 1953 ein neues Konkordat zwischen der Kurie und
Spanien unterzeichnet worden ist. Die Diskussionen, die seitdem
im spanischen Protestantismus im Gange sind, beziehen sich begreiflicherweise
insbesondere auf dieses neue Konkordat (vgl.
etwa Martin Lagois: Das neue spanische Konkordat und die evangelische
Kirche in Spanien. Nachrichten der Ev.-Luth. Kirche in
Bayern, 8. Jhg., Heft 20 vom 26.10.1953). In dem Abschnitt
über die lateinamerikanischen Staaten wird die Differenzierung des
Protestantismus wieder deutlicher. Freilich ist den presbyteriani-
schen Kirchengemeinschaften s o viel Aufmerksamkeit gewidmet
(begreiflich angesichts des Erscheinungsortes des Buches und des
Verfassers des lateinamerikanischen Abschnittes), daß andere Kirchen
wider Gebühr etwas in den Schatten treten.

Daß das Buch erschienen ist, ist auf alle Fälle gut, und es
lst eine sehr anschauliche Warnung, bei der Bestimmung des gegenwärtigen
Verhältnisses der beiden großen abendländischen
Konfessionen zueinander lediglich auf die europäischen Länder
zu blicken, in denen der Katholizismus Diaspora in evangelischer
"mwelt ist. Die Welt, in der die Dinge umgekehrt liegen und da
das Verhältnis der katholischen Mehrheit zur protestantischen
Minderheit alles andere als freundlich ist, darf keinesfalls übersehen
werden. Wenn man im Auge behält, daß das vorliegende
Buch keinen eigentlich wissenschaftlichen Charakter trägt, sondern
eine Darstellung für ein breiteres Leserpublikum ist, wird
man sagen dürfen, daß die Einwände, die erhoben werden mußten
, nicht zu schwer wiegen und daß im allgemeinen solides und
aufschlußreiches Material geboten ist, und man wird vieles mit
Gewinn lesen.

Leipzig Franz Lau

Hutten, Kurt: Seher, Grübler, Enthusiasten. Sekten und religiöse
Sondergemeinschaften der Gegenwart. 3., umgearb. u. erweit. Aufl.
Stuttgart: Quell-Verlag [1953]. 608 S., 13 Abb. auf 8 Taf. 8°. Kart.
DM 17.50; Lw. DM 19.50.

Diese 3. Auflage des Huttenschen Sektenbuches ist doppelt
so stark wie die 1. Auflage von 1950, und das gilt nicht nur
vom Umfang, sondern auch von der inneren Kraft. Ohne anderen
Büchern dieser Art ihren Ort oder ihre Bedeutung streitig zu
machen, darf man den „Hutten" doch als das eigentliche Handbuch
der Geschichte, Dogmen, Lebensgrundsätze, Missionsmethoden
, Statistik und Literatur der gegenwärtigen Sekten bezeichnen.
(Über Huttens Auffassung von „Sekte", „Sondergemeinschaft"
siehe die 1. Auflage, Vorwort.) Während aber z. B. Irenaeus.
Hippolyt, Epiphanius, Germanus von Konstantinopel — oder auch
noch das gar nicht zu verachtende „Kirchen- und Ketzerlexikon",
welches etwa 1732 Johann Gottfried Hering, Pfarrer zu Grünhayn
, nach einem Anonymus herausgab — hie die Kirche und
Christus, dort die Sekte und Satan am Werke sahen, gehören für
Hutten die Sekten nicht zum Bezirk „außerhalb des Etters", sondern
zu den Schicksalen der Christenheit selbst, und zwar nicht
bloß zu den Irrfahrten der Christen, sondern recht stark auch zu
den Entdeckungsfahrten. Die Abgrenzung zwischen Irrtum und
Entdeckung zwingt den Autor zu einer Kontroverstheologie, die
auf einer schönen Höhe steht und Schule machen sollte. Hauptziel
Huttens bleibt es dennoch, „eine möglichst lückenlose Orientierung
" zu geben; dazu halfen ihm dankenswerter Weise die
führenden Männer vieler dieser Sondergemeinschaften (sie sind
S. 7 der 3. Auflage genannt; vgl. auch Anhang I 578—583: Leitung
, Anschriften, Literatur). In einem Anhang II (584—596)
bietet Hutten außerdem noch „eine gedrängte Übersicht über die
weltanschaulichen und sonstigen Kreise, die im Hauptteil nicht
behandelt wurden". So können nun auch akademische Arbeiten
in dieses ebenso unwegsame wie lebenswichtige Gebiet vorstoßen
— das Material hat Hutten bereitgelegt und die Methode
gezeigt. (Selbst einige Bilder wurden beigegeben.)

Die Einteilung des Hauptteils ist originell und sachgemäß. 1. Kapitel
„Von dannen er wiederkommen wird. . ." (Die katholisch-apostolischen
Gemeinden — die Siebententags-Adventisten — Jehovas Zeugen
— Vereinigungen freier Bibelforscher — Kirche des Reiches Gottes —
Keller-Gemeinschaft — Philadelphia-Gemeinde — Judenchristliche Reichsbruderschaft
); 2. Kapitel „Der Ruf nach Heilung" (Die Christliche Wissenschaft
— die Bahai-Religion); 3. Kapitel „Die Geheimnisse hinter
dem Vorhang" (Die Neue Kirche — Lorber-Gesellschaft — Christengemeinschaft
); 4. Kapitel „Der Schritt über die Rechtfertigung hinaus '
(Die perfektionistischen Gemeinschaften — die Pfingstbewegung);
5. Kapitel „Unter den Fittichen des vollmächtigen Amtes" (Mormonen —
die Neuapostolische Kirche); 6. Kapitel „Fleischgewordene Götter und
Gottessöhne" (Die Nazarener — Hirt und Herde — die Evangelisch-
Johanneische Kirche — die Gralsbewegung — Father Divines Friedensmission
). — Im Anhang II: „Freigeistige und freichristliche Vereinigungen
" (Deutscher Freidenkerverband — Deutscher Monistenbund —
Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands, Freie Religionsgemeinschaft
— Deutsche Unitarier-Religionsgemeinschaft — Deutscher Unitarierbund
— Gemeinschaft der Gottgläubigen, Universal-Unitarier e. V.
— Vereinigung für freigläubige Feiergestaltung — Deutscher Volksbund
für Geistesfreiheit — Internationale Humanistische Union —
Volkskirchenbewegung Freie Christen — Freireligiöse Volkskirdie
„Christlicher Lebensglaube"); „Völkisch-Religiöse Gemeinschaften"
(Germanische Glaubensgemeinschaft — Bund für Gotterkenntnis —
Deutsdie Unitarier, Religionsgemeinschaft der Gottgläubigen in Dith-
marschen — Kreis der Freunde der „Klüter Blätter"); ..Esoterische und
spiritistische Gemeinschaften" (Theosophische Gesellschaft — Anthro-
posophische Gesellschaft — Die Rosenkreuzer — Bund der Kämpfer für
Glaube und Wahrheit (Horpeniten) — Gottesbund [Loge] Tanatra —
Gemeinschaft in Christo Jesu [Lorenzianer]); „Lebensreform-Bewegungen
" (Neugeist-Bewegung — Mazdaznan); „Auf der, Suche nnch einer
neuen Religion" (Bo Yin Ra — H. K. Iranschähr — Leonhard Stark —
Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie
[Hauer]).

Bei der Lektüre des Huttenschen Buches geht dem Leser das
rechte Verständnis dafür auf, 1.) welche Ordnungskraft über
das christliche Erbe wir doch in der Kirche zu verehren haben;
2.) wie die einzelnen Kirchen das Ganze des christlichen Erbes
festhalten, aber je nach ihrer Art dem Ganzen einen charakteristischen
Mittelpunkt gaben; 3.) wie groß angesichts der „Kirchenordnung
" des Erbes die Lockung sein muß, nicht bloß einmal
einen ganz anderen Mittelpunkt für das Ganze zu schaffen, son-