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Ausgabe:

1955 Nr. 4

Spalte:

215-218

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schmaltz, Karl

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte Mecklenburgs 1955

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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215

Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 4

216

Schmaltz, Karl: Kirchengeschichte Mecklenburgs. Bd. III. Berlin:
Evang. Verlagsanstalt 1952. 518 S.gr. 8°. DM13.—.

Das Erscheinen des 3. Bandes mag zur Veranlassung werden,
des gesamten Werkes zu gedenken.

Bd. 1 Mittelalter, 1935. Sein wichtigster Teil ist der
zweite, der die Begründung und den Ausbau der mecklenburgischen
Kirche behandelt. Da Schmaltz mit Sicherheit die Quellen beherrscht,
vor allem die Werke der bekannten Chronisten (Adam von Bremen,
Helmold, Thietmar, Saxo), an die dann die Urkundenbücher (besonders
das Mecklenburgische, Pommersche und Hamburgische) anschließen,
entsteht eine fundierte Ursprungs- und Frühgeschichte der Bistümer
Lübeck, Ratzeburg und Schwerin und eine hervorragende, materialgesättigte
Darstellung der Begründung der Pfarreien im Zusammenhang
mit der deutschen Ostwanderung. Befremdlich kann wirken, daß die
Bedeutung der Klöster für die Geschichte der Kirchenbegründung zunächst
nicht genügend hervortritt, obgleich Ratzeburg als ein Prämon-
stratenserstift entstand und der erste Bischof von Schwerin (Berno) ein
Zisterzienser war. Um die Geschichte der Klöster im Zusammenhang erzählen
zu können, erscheint sie erst in dem dritten Teil des Bandes,
welcher die Höhe der mittelalterlichen Entwicklung behandelt und in
dem die Geschichte der Klostergründungen und ihrer Frühentwicklung
nachgeholt werden muß. Der vierte Teil („Mecklenburg vor der Reformation
") fördert vor allem dadurch die Forschung, daß die frühen
Anfänge des landesherrlichen Kirchenregimentes herausgearbeitet werden.

Bd. 2 Reformation und Gegenreformation,
1936. Die evangelische Bewegung erfaßt am nachhaltigsten die Städte
Rostock und Wismar, später die kleinen Landstädte, die Fürstenhöfe,
die Bauern und den Adel. Der erste Teil schildert die Anfänge der Reformation
, der zweite den Ausbau der Landeskirche, der dritte das Zeitalter
der Gegenreformation. Höhepunkte der Darstellung sind die Reformationsgeschichte
Rostocks, die Geschichte des kirchlichen Lebens
im 16. Jahrhundert und der Verlauf des dreißigjährigen Krieges.

Bd. 3, dem ein Untertitel nicht gegeben ist, 19 52 erschienen, ist
in 6 Teile gegliedert: Orthodoxie (ihr wird der Rostocker Frühpietismus
vorangestellt, wodurch der ganze erste Teil mitgeprägt wird), Pietismus
, Rationalismus, Erweckung, lutherische Restauration, Epigonen.

Es ist das besondere Anliegen dieser Rezension, auf die spezielle
Bedeutung des 3. Bandes aufmerksam zu machen. Wenn
das oft zu lesende Urteil zu Recht besteht, daß der Zeitraum vom
17—19. Jahrhundert eine dunkle Epoche der Kirchengeschichte
sei, so hat Schmaltz mit ihrer Erhellung im Gebiet eines kleinen
Territoriums der gesamten Forschung einen Dienst erwiesen.

1. Die historische Entwicklung der kirchlichen Sitte in Mecklenburg
tritt mit einer Deutlichkeit hervor, die erleuchtend genannt
werden darf, — es sei dem Vertreter der Praktischen Theologie
gestattet, diesen kirchenkundlichen Gesichtspunkt an die
Spitze zu stellen. Mecklenburg, ein Bauern- und Agrarland, gehörte
in neuerer Zeit zu den unkirchlichsten Gebieten des evangelischen
Deutschland, worüber im vorliegenden Werke u. a. Zahlenangaben
über den absinkenden Abendmahlsgang und den zurückgehenden
sonntäglichen Kirchenbesuch berichten. Andererseits ist
seine Bevölkerung durch eine auffallend konservative Geisteshaltung
geprägt, die kirchlichen Verfallstendenzen entgegenstand.
„Kaum in einem Lande ist die Zivilgesetzgebung so völlig ohne
üble Wirkung geblieben wie in Mecklenburg" (452); von der
Kirchenaustrittsbewegung 1922 heißt es, daß sie sich „in sehr
engen Grenzen hielt" (48 5). Die historischen Entwicklungen, die
zu so widerspruchsvollen Zielen strebten, werden aufgewiesen.

Wir nennen die Herabdrückung des Bauernstandes zum fast rechtlosen
ländlichen Proletariat, die noch im 19. Jahrhundert zu schweren
Entladungen führte (1848 Tagelöhnerunruhen im Osten des Landes und
18 50 Wiederherstellung des Rechtes der kleinen Patrimonialherrn auf
Züchtigung ihrer Untertanen durch Stockschläge); viele Versuche des
Landadels, auch die Pastoren in die Stellung von privaten Dienstleuten
zu stoßen; die gewaltsame Zerstörung der Sonntagssitte durch Überbeanspruchung
der Fronarbeit; den Zerfall der Kirchenzucht, den gemein-
schaftszerstörenden Brauch der Privatkommunionen; über ganze Gebiete
gehende jahrelange Vakanzen (in Einzelfällen bis zu 10 Jahren reichend,
in denen weder Gottesdienste noch Taufen, christliche Jugendlehre,
Trauungen, Krankenkommunionen stattfanden, s.S. 13 8); Verfall des
liturgischen Lebens; Entkirchlichung der Städte (in Rostock fielen 1807
fast alle Nebengottesdienste; in Güstrow waren sie seit 1799 kaum
noch zu halten; in Neubrandenburg — 5000 Einwohner — gehen 1816
am Sonntag noch keine 100 Menschen zur Kirche; um dieselbe Zeit
klagt man in dem viel größeren Wismar, daß im Hauptgottesdienst gelegentlich
nicht 10 Besucher erschienen).

Solche Daten werden nicht nur mitgeteilt, sondern aus den
zeitgeschichtlichen Bewegungen und den kritischen Reformschriften
der Theologen im Lande, über die wir eingehende Referate
empfangen, zu verstehen gelehrt. Ein naturhafter Konservativismus
hemmt bis zu einem gewissen Zeitpunkt und bis zu einem
gewissen Grade sogar in absoluter Weise die auflösenden Bewegungen
und hält nach Erreichung des Neuen wieder konservativ
an der Kirchenfremdheit fest, ohne die letzten Folgerungen
der Gottlosigkeit oder des Kirchenaustrittes zu ziehen. Die Entwicklung
der kirchlichen Landessitte ist nie so gründlich dargestellt
wie hier. Es versteht sich von selbst, daß die Zeitgeschichte
(Kriege, Geschichte der fürstlichen Häuser und ihrer markanten
Vertreter, Wirtschafts- und Verfassungskämpfe sowie Revolutionen
) in vollem Umfang herangezogen wird.

2. Neben der Entwicklung der kirchlichen Sitte dürfte die
Geschichte des Kirchenrechtes die Struktur des mecklenburgischen
Kirchentums am stärksten bestimmt haben. Es geschieht u. W-
zum erstenmal, daß dieser Komplex einer gründlichen historischen
Untersuchung unterzogen wird, die sich durch das Ganze des
Werkes hinzieht. Die Entwicklung geht im Anfang — wie anderwärts
— über das Institut der Superintendenturen, des Konsistoriums
, der Visitationen, zeitigt dann aber den Versuch eines
regelrechten Kirchenregimentes, den der Güstrower Herzog
Gustav Adolf nach 1661 mit einem „Geistlichen Rat" unternimmt
, dem 5 Theologen unter seinem Vorsitz angehören.
Während diese Entwicklung folgerichtig aus dem Summepiskopat
fließt, erstrebt der Absolutismus die Verstaatlichung der Kirche
von Grund aus, wenn auch die Entwicklung in Mecklenburg getarnt
ist. Denn der fürstliche Absolutismus scheitert, und
der „Landesgrundgesetzliche Erbvergleich" vom 18.4.1755,
der den Ausgleich mit den Ständen brachte, wird zur Grundlage
auch des neueren Kirchenrechtes. Nach ihm behalten alte kirchliche
Reservalien ihre Gültigkeit, aber die Ritterschaft behauptet
nicht nur siegreich weitgehende Patronatsredite (Präsentationsrecht
, Einflußnahme auf die Visitationen, die kirchliche Rechnungsführung
und die Bewirtschaftung der Kapitalien u. a.), sondern
erringt noch die Kontrolle über die kirchliche Gesamtverwaltung
über mehr als eineinhalb Jahrhunderte, die auf den Landtagen
ausgeübt wurde. Als 1848 der Großherzog ein Kirchenregiment
schuf, das die oberbischöflichen Rechte hinfort unter Trennung
von der Staatsregierung wahrnehmen sollte — aus dem Institut
ging 1849 die Behörde des Oberkirchenrates hervor —, remonstrierte
der Landtag, fand sich allerdings mit dem neuen Institut
als einer rein persönlichen Einrichtung des Landesherrn ab, mit
der er direkte Verhandlungen ablehnte. Der Dualismus der weltlichen
Gewalt seit 175 5 hemmt also die allgemeine absolutistische
Entwicklung des Kirchenrechtes nicht, zeigt sie vielmehr in
greller Beleuchtung: das Kirchenregiment ist nicht mehr Summepiskopat
, sondern Annex der allgemeinen staatlichen Verwaltung
, über die der Landtag bestimmt; die Kirche ist „einfach im
Staat aufgegangen" (264). Hinfort galten alle Wünsche der
Geistlichkeit nach synodaler Vertretung der Kirche und Freiheit
vom Staat als revolutionär, und da später ein Mann wie Klie-
foth der staatlich-ständischen Meinung mit Überzeugung beitrat
, blieb die mecklenburgische Kirche vom Weg des Synodalismus
geschieden, trotz starker auf sie hindrängender Tendenzen
in der Geistlichkeit.

3. Die Geschichte der theologischen Bewegungen, in welche
die Geschichte der Rostocker theologischen Fakultät verwoben
ist, war schwer zu schreiben, weil nur wenig Vorarbeiten zur
Verfügung standen und das meiste aus den Quellen erarbeitet
werden mußte. Das schwierige Werk aber gelang! Wie wenig die
Ergebnisse nur dem allgemeinen Schema der kirchengeschichtlichen
Kompendien folgen, sondern wie differenziert und profiliert
sie sind, erfährt der kundige Leser immer wieder. Obgleich
die Orthodoxie in Joh. Friedr. König (gest. 1664) einen ihrer
markanten Vertreter im Lande hatte — seine Dogmatik, die bis
1711 13 Auflagen erlebte und Melanchthons Loci verdrängte,
ist in Rostock entstanden —, beeinflußt das Vorspiel des Rostocker
Frühpietismus den ganzen Geschichtsablauf der orthodoxen
Periode. Die Verbindung mit England, wohin zur Zeit
Großgebauers gern Rostocker junge Theologen zogen, und mit
Straßburg, wo Lütkemann studiert hatte, von woher Dorscheus
nach Rostock berufen wurde, wo der einflußreiche Herzog Gustav