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Ausgabe:

1955 Nr. 4

Spalte:

201-206

Autor/Hrsg.:

Mowinckel, Sigmund

Titel/Untertitel:

Zur Geschichte Israels 1955

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Theologische Literaturzeitung 1955 Nr. 4

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dagegen. Protagoras' Worte nennen nur „die Götter", nicht
to i%Tov. Es mag wohl sein, daß ihn gerade der missionarische
Eifer nach Art des Xenophanes bewog, das Problem auszuklammern
. Protagoras ist doch ein Mann, der zu Kompromissen nur
allzu bereit ist. Ihm liegt es daran, seine formale Erziehung anzupreisen
und damit Geld zu verdienen. So versucht er sich nicht
festzulegen. Er läßt alle Meinungen gelten. Es ist auch zu beobachten
, daß die Notiz bei Diogenes Laertios, wonach sein Buch
öffentlich verbrannt wurde, ausdrücklich sagt: ötd ravrrjv de rrjv
äQZyvTov avyyQdß/iarw:, d.h. eigentlich stand in dem Buche
nichts, was irgendeinem revolutionär erscheinen konnte. Es handelt
sich also um einen politischen Gewaltakt des Demos, der
sachlich höchst fadenscheinig begründet war. Das Besondere der
attischen Situation ist nun freilich gerade das Phänomen der „patriotischen
Religion". Die „sophistische Aufklärung" ist also möglicherweise
das Produkt des brutalen Imperialismus der periklei-
schen Demokratie und ihrer mehr oder minder bewußt zynischen
Ideologie. So scheint auch hier der Entwicklungsgedanke anfechtbar
. Sowohl die ionische wie die unteritalische Vorsokratik ist in
der Wurzel und in der Intention durchaus verschieden von der

Sophistik. Darum ist es auch von zweifelhaftem Wert, die Geschichte
der Philosophie als einen einheitlichen Prozeß der „Aufklärung
" aufzufassen. Die Polis-Götter sind Ende des 5. Jhdts. tot.
Im kolonialen Osten und Westen waren sie es grundsätzlich audi
schon im 6., wie gerade die Philosophie beweist. In Athen sind sie
an der Politik und nicht an der „Aufklärung" gestorben. Sokrates
und Thukydides haben sie nicht minder ausgeklammert als Protagoras
und damit freilich die ideologische Grundlage der periklei-
schen Demokratie negiert. Was sollte an ihre Stelle treten? Das
ist ein spezifisch attisches Problem. Und hier beginnt mit ganz
originalem Neueinsatz Sokrates-Plato.

Es stände dem Rezensenten wahrlich übel an, Jaegers Buch
zu zensieren. Wieviel sachliche Belehrung im einzelnen und im
Gesamtblick er ihm verdankt, wieviel Anregung zum eigenen Wei-
terdenken und auch zur kritischen Prüfung, davon mag ein wenig
diese Besprechung zeugen. Möge es ihm und uns doch geschenkt
sein, daß er in der angekündigten Fortsetzung die Untersuchung
bis zum hellenistischen Judentum und zur altchristlichen Theologie
weiterführt.

Zur Geschichte Israels

Von Sigmund Mowinckel, Oslo'

Jeder Alttestamentler, aber auch Orientalisten und Alt-
geschichtler, werden sowohl dem Verfasser als dem Verleger dafür
dankbar sein, daß diese wertvollen Bände erschienen sind. Die
meisten der hier gebotenen 38 Aufsätze sind früher in Zeitschriften
und Festschriften veröffentlicht gewesen; 4 werden hier
zum ersten Male vorgelegt. Es ist zu begrüßen, daß wir sie nicht
mehr in der „Zerstreuung" aufsuchen müssen; denn für viele
Gebiete der alttestamentlichen Forschung sind sie unentbehrlich.
Bd. I bietet Beiträge zur Vorgeschichte des israelitischen Volkes
bis zur Staatengründung um 1000 v. Chr.; Bd. II setzt mit dem
Reformationsprogramm d. Univ. Leipzig 1930 „Die Staatenbildung
der Israeliten in Palästina" ein und bietet Beiträge zur
israelitischen und jüdischen Geschichte bis in die hellenistischrömische
Zeit hinein, abgeschlossen von dem Aufsatz „Die Stätten
des Wirkens Jesu in Galiläa territorialgeschichtlich betrachtet
".

Viele von den Abhandlungen sind für das Verständnis der
behandelten Probleme grundlegend gewesen und schon klassisch
geworden; ich nenne beispielsweise den schon genannten über
die Staatenbildung, ferner den Erstling „Israels Gaue unter Sa-
lomo" (II 76 ff.), „Judas Gaue unter Josia" (II 276 ff.), „Die
Landnahme der Israeliten in Palästina" (I 79 ff.), „Erwägungen
über die Landnahme der Israeliten in Palästina" (I 126 ff.), „Die
Ursprünge des israelitischen Rechts" (1 278 ff.). — Als in allem
Wesentlichen gelungen betrachte ich auch die Beiträge zur Aufbellung
der „Restauration" der jüdischen Gemeinde nach dem
-Exil".

Alt hat sich sein eigenes Spezialgebiet innerhalb der alttest.
Forschung geschaffen, die „territorialgeschichtlichen" Untersuchungen
, und auf diesem Gebiete ist er der unbestrittene Altmeister
. Er hat sich auch alle Voraussetzungen dafür erworben:
genaue Kenntnis des Landes, volle Vertrautheit mit der archäologischen
Forschung, sprachliche und philologische Beherrschung
des einschlägigen Inschriftenmaterials. Dazu ein umsichtiges Ju-
dizium, eine besondere Gabe, ein Problem von allen Seiten her
zu betrachten und vorsichtig Schritt für Schritt vorzudringen und
sich der Lösung zu nähern. Mit diesem Werkzeug ausgerüstet
hat er es verstanden, auch dem sprödesten Material neue Kenntnisse
abzuringen und geschichtliche Probleme in ein klareres
Licht zu rücken. Daß dabei viel mehr für die Gesamtfassung der
israelitischen Geschichte abfällt, als sich bei dem ersten Blick in
dem Terminus „Territorialgeschichte" verbirgt, weiß jeder, der
sich bei Alts Arbeiten Rat und Einsicht gesucht hat.

') Alt, Albrecht: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Is-
Lael- In. II. München: Beck 1953. XII, 357 S. u. VIII, 476 S. gr. 8°
Zus. DM 50.-: Lw. DM 58.-.

Persönlich habe ich mich während der letzten Zeit besonders
mit der Vor- und Einwanderungsgeschichte Israels beschäftigt und
dabei Alts Aufsätze zur Frage in PJB, ZDPV usw. aufgesucht
und immer viel Wertvolles bei ihm gefunden. Ich halte seine
und M. Noths Arbeiten auf diesem Gebiete für das Beste, was
bisher geboten ist. Das um so mehr, als Alt zu seinen übrigen
Ausrüstungen auch d i e hat, daß er mit literarkritischer und
gattungsgeschichtlicher Arbeit und Methode vertraut ist, immer
die Frage nach Art und Wesen der betreffenden Quelle stellt, ehe
er ihr seine Fragen vorlegt. Er weiß daher, was man in einem
Text suchen darf und was nicht, und er kann daher den voreiligen
Kurzschlüssen entgehen, die sich nicht selten bei den einseitig
archäologisch geschulten Forschern auf dem Gebiete der palästinischen
Geschichte finden.

Alt sucht immer redlich und ausdrücklich den Sicherheitsgrad
oder Wahrscheinlichkeitsgrad seiner Ergebnisse deutlich hervortreten
zu lassen. Anregend sind seine Ausführungen immer.
Er hat Probleme und Erkenntnismöglichkeiten gesehen, die meistens
übersehen worden sind.

Es ist selbstverständlich, daß nicht alle seine Ergebnisse
gleich gut fundamentiert sind — bei wem ist das der Fall? — und
daß jeder Besprecher des Werkes etwas finden muß, bei dem er
seinen Dissensus anmelden wird. So geht es auch mir. Oft handelt
es sich um Kleinigkeiten, die für das Ganze von geringerem
Belang sind. So wundert es mich, daß Alt wiederholt von dem
„Rechenschaftsbericht" Nehemias spricht, wo er doch selbst einmal
erklärt, daß Jahwe der „einzige Leser" ist, für dessen Augen
die „Denkschrift" bestimmt ist. Letzteres ist ohne Frage richtig,
wie ich in meinem Buche „Statholderen Nehemia" (Kristiania-
Oslo 1917) nachgewiesen habe; die „Denkschrift" („Memoiren"
sind es jedenfalls nicht!) ist nur auf dem Hintergrunde der
„vorderasiatischen Königs- und Fürsteninschriften" verständlich
(vgl. meinen gleichnamigen Aufsatz in der Gunkelfestschrift
„Eucharisterion"). — Es wundert einen auch, daß Alt in einem
Aufsatz von 1940 immer noch Ps. 74 der Makkabäerzeit zuschreibt
, was m. A. n. schon aus kanongeschichtlichen Gründen
unmöglich ist.

Alt steht insofern auf dem Boden der „literarkritischen"
Schule, als er sehr geneigt ist, den alttest. Verfassern fast immer
Benutzung von alten schriftlichen „Dokumenten" zuzuschreiben,
und sich darum bemüht, durch literar- oder quellenkritische Operationen
die „ursprüngliche" Form z. B. der von ihm behaupteten
schriftlichen „Listen" und „Dokumente" im Josuabuche und anderswo
zu rekonstruieren. Das ist eine gefährliche und unsichere
Methode. So halte ich es — um ein Beispiel, das allerdings keine
große Rolle in seiner Argumentation spielt, zu wählen — für