Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1954 Nr. 3

Spalte:

164

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Zahrnt, Heinz

Titel/Untertitel:

Luther deutet Geschichte 1954

Rezensent:

Loewenich, Walther

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

163

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 3

164

nation als Zentraldogma erhebt und in der rationalen Konstruktion
des Prädestinatianismus zu einem fragwürdigen Subjekt-
tivismus umschlägt (S. 106 f.; hier sind wohl Anregungen, die
K. Barth in seiner „Christlichen Dogmatik im Entwurf", München
1927, S. 86 gegeben hatte, aufgenommen und weitergedacht
). Dieser rationale Empirismus führt zur Entwicklung des
„protestantischen Prinzips" (S. 113). „So wird der Konsequenz
des mittelalterlichen Nominalismus, der in diesem Calvinismus
geistert, die Bahn freigemacht: der konstruierte theozentrische
Absolutismus muß ausmünden in den Säkularismus" (S. 123).
Und in dem Pajonismus „wird zum erstenmal greifbar, wie der
Prädestinatianismus einmündet in das naturwissenschaftliche
Weltdenken" (S. 148). Ebenso ist im Prädestinatianismus die
neue Philosophie von der Freiheit des Menschen angelegt (S. 150).
In diesem Prädestinationssystem blieb auch die lutherische Orthodoxie
befangen (S. 171 Anm. 5). Erst K.Barth hat es durchbrochen
(S. 165). Das Leibnizsche System brachte die philosophische
Lösung der theoretischen Schwierigkeiten des Calvinismus
(S. 176); „der Leibnizsche Optimismus schließlich läßt sich verstehen
aus der Vermählung lutherischer Glaubensüberzeugung
von der allwaltenden Liebe Gottes mit calvinischer oder calvi-
nisch-orthodoxistischer Rationalität" (S. 181). — Das vierte Kapitel
stellt den Kampf um das Versöhnungsdogma dar, wie er
sich zwischen der Orthodoxie und ihrem „feindlichen Bruder",
dem Sozinianismus (S. 192), abspielt. Im Sozinianismus sieht W.
die Wurzeln sowohl des rationalen Historismus (S. 197) als auch
der „christozentrischen Verkündigungstheokratie von heute"
(S. 194).

Zu dem Reichtum des W.schen Buches zählen die Exkurse,
in denen die Linien bis zur Gegenwart ausgezogen werden; wenigstens
einige seien hervorgehoben: über den Nationalismus im
französischen Calvinismus (S. 80 f.), das Problem des christlichen
Naturrechtes (S. 56), das Prädestinationsdogma bei den amerikanischen
Presbyterianern (S. 127), die Erwählungslehre Barths
als „Durchbruch zu lutherischer Glaubenstheologie" (S. 163 ff.
die Barmer Erklärung (S. 17), die Gefahren der heutigen Bekenntnisorthodoxie
(S. 140).

Dem Benutzer des Buches seien einige Verbesserungen genannt,
die sich bei Stichproben ergeben haben. S. 1 Anm. 1: Ghd XVI 4 ff.
(Preuß). Nadi dieser Ausgabe ist Joh. Gerhard gewöhnlidi zitiert (vgl.
S. XIX unten); es hätte gesagt werden sollen, daß Preuß der 2. Auflage
Gerhards folgt, infolgedessen locus I und II der Cotta'sdicn Ausgabe
als I zählt (also XVI Preuß = XVII Cotta). - S. 3 Anm. 3: Ghd
XVI 48 interim non excluditur (nicht: interior); was bewiesen werden
soll, steht aber besser Ghd III 163 ff. — Anm. 4: Ghd XVI 236-242.—
S. 6 Anm. 4: Ghd XVI 250. Anm. 6: Ghd II 216. Der „ontologische
Formalismus" findet sich schon Ghd III 140, 143 (hier besonders deutlich
) und 163. — S. 7 Anm. 2: Ghd II 216. Anm. 4: Ghd II 235 (anscheinend
bedeutet Ghd2 stets Ghd II). — S. 8 Anm. 4: Ghd XVI 2 50. —
S. 11 Anm. 3: Ghd VI 1. Anm. 5 Mitte: Ghd VI 66 ff., 86 ff. — S. 24
Z. 8 v. u. ist ein verkürztes Zitat; voller Wortlaut Ghd XVI 127. —
S. 43 Z. 8 v. o.: „um innen zu wirken". — S. 47 Anm. 7: continuatio
justificationis (nicht: justificatio continuata). — S. 64 Z. 9 v. u. „gegründet
". — S. 68 Anm. 2: die Worte „sensus fidei" sind zu streichen,
da Ghd XVI 135 nicht verzeichnet. — S. 126 Z. 7 v.u.: „rührt man
an". — S. 149 Anm. 4: delectatio. — Alle derartigen Fehler wird der
mit den Quellen vertraute Leser leicht berichtigen können; sie mindern
den Wert des Buches nicht. Wirklich zu beklagen bleibt nur das
Fehlen eines Personen- und Sachverzeichnisses, wie es Bd. I, 2 beigegeben
war und den Zugang zu den ersten beiden Teilbänden erleichterte
.

Das Hauptproblem W.s ist der Weg der neueren Geschichte
in den Säkularismus, und hier liegt in der Tat der Hauptwert des
Buches. Seine Methode ist dadurch gekennzeichnet, daß die Analyse
der einzelnen Aussage kraft der Einstellung, die Entwicklung
stets „im grellen Licht der letzten Konsequenz" zu betrachten
(S. 152 Anm. 6), zum Ergebnis gelangt; alles, was in dieser Richtung
gesagt ist, hat lebendige Unmittelbarkeit und entschädigt
für manche trockene Aufzählung. Das Werk ist ein Studienbuch,
das zu den Quellen führen will und darum das Recht zur Ausbreitung
des Stoffes in der Beschränkung auf das Gegebene hat;
es hat seine Aufgabe erfüllt, wenn es zum Weiterdenken in der
gewiesenen Richtung anregt. Wenn darum beim Lesen zuweilen
der Wunsch aufsteigt, ein nur kurz berührtes Problem möchte
ausführlicher behandelt sein, so ist das gerade ein Beweis, daß

W.s Darlegungen ihr Ziel erreicht haben. Hier seien nur zwei
Punkte hervorgehoben: es ist schade, daß lediglich die Entstehung
des Gedankens der indifferentia erwähnt ist (S. 174), ohne
daß der Weg bis zur Entfaltung des Indifferentismus, dieser mächtigen
Strömung der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, weiter
verfolgt ist; und bei der Schilderung des Aufkommens der
neuen Freiheitsidee (S. 1 50) hätte der Weg bis zur Formulierung
der Menschenrechte überblickt werden können. Aber diese Wünsche
sind ja nur eine Umschreibung des Dankes dafür, daß W.
den im historischen Sinne so sehr viel wichtigeren Anfangspunkt
klar herausgehoben hat.

Bethel bei Bielefeld Alfred Adam

Zähmt, Heinz: Luther deutet Geschichte. Erfolg und Mißerfolg im
Licht des Evangeliums. Mit einem Geleitwort v. Landesbischof D.
Dr. Hanns Lilje. München: P.Müller 1952. 263 S. 8°. Lw. DM 10.50.

Wenn auf der inneren Umschlagseite dieses Buches zu lesen
steht, es eröffne einen neuen Abschnitt in der Lutherforschung,
so kann der Kundige diesem Urteil sicher nicht zustimmen. Die
vorliegende Arbeit lebt vielmehr völlig in den Problemstellungen,
wie sie unserer theologischen Bemühung um Luther in den letzten
dreißig Jahren erwachsen sind, und man kann nicht sagen,
daß sie entscheidend darüber hinausführe. Die großen Vorzüge
dieses Buches liegen vielmehr auf einer anderen Ebene. Zum ersten
hat Zahrnt das an sich ja schon viel verhandelte Thema „Luther
und die Geschichte" für unsere Erkenntnis dadurch bereichert,
daß er Luthers allgemeine Grundsätze durch ihre Anwendung auf
konkrete zeitgeschichtliche Ereignisse, wie etwa die Packschen
Händel oder die Wurzener Fehde, erleuchtet. Zum zweiten ist es
ihm sehr schön gelungen zu zeigen, wie Luther seine Grundkonzeption
in der oft verwirrenden Fülle manchmal schier gegenteiliger
Äußerungen und Stellungnahmen durchhält, ohne daß
das im übrigen zu billiger Harmonisierung führt. Zum dritten
offenbart Zahrnt auch in diesem Buch seine besondere Gabe,
zum heutigen Menschen zu sprechen. Seine Darstellung bleibt
niemals im bloßen Referat stecken, sondern stößt immer durch
bis zu dem aktuellen Bezug von Luthers Gedanken auf unsere
Existenz. Dabei hütet sich Zahrnt vor jeder falschen Modernisierung
, sowohl in der Sache wie in der Sprache. Sein Buch lebt
wirklich aus Luthers Fülle, was heute als Vorzug hervorgehoben
zu werden verdient. Die Auseinandersetzung mit der Literatur
wird nur stellenweise explizit, was wohl der Anlage des Buches
entspricht. Auch das Literaturverzeichnis will natürlich keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erheben, und die Anmeldung von
Desideraten erscheint darum als unangebracht. Der Verfasser hat
jedenfalls nicht nur aus Luther, sondern auch aus der Literatur
viel gelernt. Es berührt wohltuend, daß er sich in seiner Darstellung
keiner theologischen Mode verschreibt, sondern die
Sache selbst sprechen läßt. Sie ist so erregend in sich, und sie ist
zugleich so fesselnd dargestellt, daß die Lektüre auch denjenigen
in Atem hält, dem sie stofflich nicht viel Neues zu bieten vermag
. Eben darum möchte man dem Buch eine weite Verbreitung
wünschen, unter unseren Studenten, unter unseren Pfarrern und
darüber hinaus unter allen denen, die heute von der Frage nach
dem Sinn der Geschichte bedrängt sind.

Erlangen Walther v. Loewenich

KIRCHEN GESCHICHTE: NEUZEIT

Löhe, Wilhelm: Gesammelte Werke. Hrsg. im Auftr. d. „Gesellsdiaft
für Innere und Äußere Mission im Sinne der luth. Kirche" von
Klaus Ganze rt Bd. III: Die Kirdie in Gemeinde, Sdiule und Haus.
Teilbd. 1: Erbauliche Schriften. Neuendettelsau: Freimund Verl. 1951.
73 5 S. gr. 8°. Lw. DM 22.—.

Wilhelm Löhes literarische Hinterlassenschaft weist bei aller
Konzentration auf die Kirche einen großen Reichtum auf, so daß
sie eine vollständige Pastoraltheologie darstellt. Das Löhearchiv
in Neuendettelsau, genauer: die beiden Archive, das der Missionsanstalt
und das der Diakonissenanstalt, bergen diese Fülle,
bei der es allerdings Spreu vom Weizen zu sondern gilt. Sie ist
andererseits geeignet, das rastlose Schaffen dieses einzigartigen