Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1954 Nr. 2

Spalte:

73-82

Autor/Hrsg.:

Schoeps, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Möglichkeiten und Grenzen jüdisch-christlicher Verständigung 1954

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4, Seite 5

Download Scan:

PDF

73

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 2

74

jener Entscheidung Christi, sondern gleicherweise gegenüber seiner
Menschwerdung. Weil er ein wirklicher Mensch wurde, zu
einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort lebte und
dadurch in die Vergangenheit einging und mit der fortschreitenden
Zeit immer tiefer in sie zurücktritt, hat er sich auch der
historisch-kritischen Forschung unterworfen und damit auch der
Relativität ihrer Ergebnisse. Es gehört mit zu seiner Herablassung
, zu seiner Knechtsgestalt, daß er in diese Lage eines jeden
Menschen eingegangen ist, und darum wäre es Ungehorsam gegen
seine Menschwerdung, den historischen Weg zu verlassen
und die Relativität seiner Ergebnisse nicht ernstzunehmen und
sich von dem jeweiligen, mehr oder weniger starken Schwanken
der Linien des Bildes Jesu nicht berühren und nicht anfechten
lassen zu wollen. Es ist grundsätzlich die gleiche Relativität, in
der er selbst den Gegnern gegenüber verharrte, die von ihm Zeichen
als sichtbare Legitimation seiner göttlichen Vollmacht verlangten
, oder den Dorfgenossen gegenüber, die erklärten: „Ist
dieser nicht Jesus, Josephs Sohn, des Vater und Mutter wir kennen
? Wie spricht er denn: Ich bin vom Himmel gekommen?"
(Joh. 6,42; Lk. 4,22). Jesus verweigert sich jedem schwärmerischen
Verlangen nach Unmittelbarkeit. Er will auf dem historischen
Wege bis zu einem gewissen Grad ungreifbar, unsichtbar,
verborgen bleiben. Diese bloße Wahrscheinlichkeitsgewißheit
des historischen Weges, deren Grad sich von einer Forschergeneration
zur anderen wandeln kann, ist die eine Seite unseres
Verhältnisses zu Jesus und darum in gleicher Weise ein
Wesenszug des Glaubens wie jene unbedingte Gewißheit durch
den gegenwärtigen Christus.

Es ist, logisch gesehen, also ein Zirkel, in dem wir leben.
Wir bewegen uns, wenn wir das Neue Testament lesen, immer
auf den heute gegenwärtigen Christus zu, ohne den wir einer
bloßen Wahrscheinlichkeitsgewißheit verfallen würden, und werden
von ihm wieder auf den historischen Weg gewiesen, weil
er einst der Jesus von Nazareth war, ohne den er nicht sein,
sondern sich in nichts auflösen würde. Der gegenwärtige Christus
und Jesus von Nazareth sind eins.

Möglichkeiten und Grenzen jüdisch-christlicher Verständigung

Von Hans Joachim S c h o e p s, Erlangen

Aus vielen gewichtigen Gründen legt sich heute der Gedanke
nahe, ob nicht Juden und Christen, die seit bald 1900
Jahren nebeneinander durch die Weltgeschichte gehen, versuchen
sollten, einander zu begegnen oder doch miteinander ins Gespräch
zu kommen. Es hat auch bisher nicht an Versuchen dazu
gefehlt, die vielerlei Motive hatten, die aber deshalb meist mißlangen
, weil die rechte Glaubensbasis fehlte und die also nicht
im Geiste und in der Wahrheit geführt wurden. Sollen also
Kirche und Synagoge in ein wirkliches Gespräch eintreten, scheint
vorab eine tiefreichende Besinnung vonnöten zu sein über die
Möglichkeiten und Grenzen jüdisch-christlicher Verständigung.

Wie sehr von außenher die redliche Prüfung dieser Frage
gefordert ist, haben die Ereignisse der letzten Jahrzehnte hinreichend
deutlich werden lassen wie der in manchen Ländern betriebene
Kampf gegen das Judentum zu einem Kampf gegen die
christliche Kirche selber wurde, daß das jüdische Element im
Christentum beim Angriff gegen die Synagoge mitgetroffen ist.
Die Tatsache, daß der Stifter des Christentums seiner fleischlichen
Herkunft nach Jude war und gleichermaßen die ersten Apostel,
die seine Lehre unter die Völker trugen, ist nun einmal nicht
aus der Welt zu schaffen. Gerade die Angriffe, die gegen das Alte
Testament als besonderen Bestandteil der christlichen Verkündigung
gerichtet wurden, trugen dazu bei, daß die Erkenntnis immer
weiter um sich greift, wie eng das Christentum mit Israel
zusammenhängt. Und das gilt heute ebenso noch wie vor 2000
Jahren, ja zumal heute, wo das geschichtliche Schicksal beide in
eine Front zwingt. Denn Judentum und Christentum haben einen
gemeinsamen Feind, die allgemeine Gottlosigkeit und Säkularisierung
, die Leugnung überweltlicher Kräfte und Zusammenhänge.

Aus diesen Gründen wird die Frage nach den Möglichkeiten
und Grenzen jüdisch-christlicher Annäherung heute im besonderen
Sinne aktuell. Mancherlei Ansätze sind ja auch schon vorhanden
, wie etwa die von den angelsächsischen Ländern ausgehende
„Christian Movement for Approach on the Jews", sowie
die auch in Deutschland alljährlich stattfindenden „Wochen der
Brüderlichkeit", und auch auf jüdischer Seite scheint mancherorts
Bereitschaft zum Gespräch vorhanden zu sein. Die Möglichkeiten
würden darin liegen, daß Kirche und Israel heute in ein wirkliches
Gespräch über ihre Glaubensgrundlagen treten, in denen dann
auch die einer Annäherung gesetzten Grenzen deutlich werden
können. Solche Gespräche sind im Mittelalter schon geführt worden
, aber hinter ihnen stand Gewaltanwendung; im Räume
echter Toleranz und Glaubensfreiheit liegen erst wenige Versuche
vor. Die Geschichte aller dieser Gespräche — der geglückten wie der
weit zahlreicheren mißglückten — habe ich in meinem Buch „Jüdisch
-Christliches Religionsgespräch in 19 Jahrhunderten (Geschichte
einer theologischen Auseinandersetzung)" (Atharva
Verlag Frankfurt 19492) behandelt.

Mein eigenes Nachdenken über diese Fragen war vor mehr
als zwanzig Jehren an den entscheidenden Punkt gekommen, als
mich Karl Barth in einem Brief fragte, ob denn nicht eine systematische
Theologie des Judentums auch und gerade in dieser
Zeit in dem Nachweis zu gipfeln habe, daß Jesus Christus gekreuzigt
werden mußte und daß füglich die Verantwortung für
diese Kreuzigung auch heute noch von einem jeden Juden übernommen
werden muß. Nun ist schon einmal fast wörtlich dieselbe
Frage von Lavater an Moses Mendelssohn gerichtet worden,
und dieser hatte damals geantwortet: „Was weiß ichs, was meine
Vorfahren vor 17—1800 Jahren zu Jerusalem für gerechte oder
ungerechte Urteile gefällt haben?" Und er fügte hinzu, daß er
noch nicht einmal die Verantwortung für die Urteile königlich-
preußischer Gerichte seiner Zeit übernehmen könne. — Ich
glaube nun nicht, daß diese schließlich an den Kern der Dinge
rührende Frage auf solch ausweichende Weise beantwortet werden
kann, steht doch in ihr — recht verstanden, — das Existenzrecht
Israels post Christum auf dem Spiele. Und in der Tat wird ein
jeder Jude, heute wie damals, zu der Ablehnung Jesu als des gekommenen
Messias' Israels stehen müssen. Der Wahrheit und
damit auch der Sache jüdisch-christlichen Gespräches wird durch
keinerlei Verschleierung gedient, sondern nur durch die unzweideutige
Erklärung, daß die Juden auf keinen Fall zugeben können
, der Messias sei bereits gekommen und sie lebten demnach
in postmessianischer Zeit — christlich gesprochen: zwischen Auferstehung
und Parusie. Der jüdische Protest gegen die Behauptung
, der Messias sei bereits gekommen, wird mit der gleichen, —
wenn man will naiven, — Entschiedenheit geäußert werden müssen
, heute wie vor 1900 Jahren: Eine erlöste Welt müßte anders
aussehen. Die Juden können nicht zugeben, daß die prophetischen
Verheißungen über den Charakter der Endzeit in Erfüllung
gegangen sind — weder im buchstäblichen noch in einem
übertragenen Sinne, wenn dieser das schriftmäßig Gemeinte festhalten
will. Sie spüren zutiefst die Uncrlöstheit dieser Welt.
Martin Buber drückte dieses Empfinden einmal so aus: „Erlösung
der Welt ist uns unverbrüchlich eins mit der Vollendung
der Schöpfung, mit der Aufrichtung der durch nichts mehr behinderten
, keinen Widerspruch mehr erleidenden, in all der
Vielfältigkeit der Welt verwirklichten Einheit, eins mit dem erfüllten
Königtum Gottes. Eine Vorwegnahme der vollzogenen
Welterlösung zu irgendeinem Teil, etwa ein schon Erlöstsein der
Seele, vermögen wir nicht zu fassen, wiewohl sich auch uns in
unseren sterblichen Stunden Erlösen und Erlöstwerden kundtut. —
Eine Zäsur nehmen wir in der Geschichte nicht wahr. Wir kennen
in ihr keine Mitte, sondern nur ein Ziel. Das Ziel des Weges
Gottes, der nicht innehält auf seinem Weg".

Die Zäsurlosigkeit gilt gewiß für Israel; sie gilt aber nicht
für die Völker der Welt. Gerade die Juden mußten wahrnehmen,