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Ausgabe:

1954 Nr. 12

Spalte:

713-720

Autor/Hrsg.:

Fendt, Leonhard

Titel/Untertitel:

Die Berneuchener 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 12

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In der neuen Schöpfung wird „kein Tempel" sein; „denn der
Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, und das Lamm"
(Offenb. 21, 22). Dann werden wir nicht nur dem Wort glauben,
sondern Gott schauen.

Wäre die Hoffnung in uns allen lebendig, dann hätten wir
weniger Freude am ungestörten Dasein, an der Sicherung und an
dem Ausbau unserer Konfessionskirchen, als Freude daran, daß
das Evangelium läuft und Menschen aus den Bindungen dieser
Welt durch den Glauben errettet werden. „Daß nur Christus verkündigt
werde allerlei weise . . ., so freue ich mich" (Phil. 1, 18).
Und unser höchster Ruhm wären die Bande und Leiden der Brüder
aus allen Konfessionen in der weiten Welt.

Wäre die Hoffnung in uns lebendig, dann würden wir nicht
ständig zurückblicken, sondern wir würden vorwärts dem Herrn
entgegeneilen. Wir wären nicht so verliebt in die Geschichte der
eigenen Konfessionskirche, sondern wären geöffnet für das Wirken
Christi in der ganzen Welt. Dem Blick nach vorne werden die
Wände zwischen den Konfessionen transparent.

Wäre die Hoffnung lebendig, dann durchschauten wir auch
klarer die nichttheologischen Faktoren, die die Konfessionskirchen
scheiden. Denn sie erhielten ihr Gewicht weithin nur dadurch,
daß die Kirche sich an die Welt ankrallte und von ihr die Sicherung
erwartete, die allein Christus geben kann. — Ich breche
hier ab.

Lasset uns bedenken: Wir alle kommen von Christus her,
von seinem Tod und seiner Auferstehung. Wir alle gehen Christus
entgegen, der kommen wird als Retter und Richter der Welt. Wir
alle sind von ihm umgeben. Als der Gekommene und Kommende
ist er in unserer Mitte gegenwärtig.

Lasset uns ihm die Ehre geben und alles abtun, womit wir
seine Herrlichkeit vor der Welt verdunkeln.

Die Berneuchener

Von Leonhard Fendt, Augsburg

1. Die Erneuerer der Kirche in unserer Zeit haben es gewiß
schwerer als seinerzeit Luther. Denn Luther hatte es als seine
Aufgabe erkannt, einfach die vorhandene katholische Kirche nach
dem Vorbild der ecclesia primitiva, wie das NT und die Väter
sie zeigten, zu reformieren und so aus der römisch-katholischen
Kirche die katholische Kirche zu machen; es sollte keine neue
Kirche geben. Es gab aber eine neue Kirche (und schließlich gab
es mehrere), da die Sache sich von Luther weg entwickelte. Für
die heutigen Erneuerer der Kirche entsteht also die Frage: Soll
die uns überlieferte Kirche auf den Plan Luthers zurückgebracht
werden — oder soll sie in ihrer Wegentwicklung vom Standorte
Luthers weg noch unterstützt und zu einem radikal-eigenen Ziel
geführt werden — oder soll die Bibel einen von den beiden genannten
Plänen schlechthin unabhängigen Plan liefern (obwohl
doch Luther und die Wegentwicklung von Luther sich nach der
Bibel zu richten glaubten)? Die Entscheidung wird in jedem Falle
stark damit zusammenhängen, ob man sich unter Kirche bloß das
jeweils senkrecht vom Himmel einschlagende Ereignis oder aber
die Frucht von Jahrhunderten denkt. Nun, die Berneuchener ( = B.;
stellten sich auf den Standpunkt: Die uns überlieferte Kirche
kann und soll auf den Kirchenplan Luthers zurückgeformt werden
, ohne daß die als edle Frucht der bisherigen protestantischen
Jahrhunderte erkannte Ernte weggeworfen wird1. Dabei war es ein
wahrhaft „kirchlicher" Schritt, daß die B. sich an die noch vorhandene
Liturgie und das (allerdings vielfach abgestorbene) Privatgebet
machten und ihre Kirchenerneuerung nicht mit Kirchenpolitik
oder Synodalbeschlüssen, sondern mit der Erziehung zum
Gebet, zum Gottesdienst, zum Leben mit der betenden Gemeinde,
anderseits mit der Erziehung vom Gebet, vom Gottesdienst, von
der Gemeinde her, unternahmen. Daß die B. auch Fehler machten
, ist historisch; aber sie sind ihnen entwachsen. Und das Große
war: unter dem Gelächter der Spötter und dem Zornblick der
„Offiziellen" fingen sie zu beten an — und viele beteten mit,
auch von den ernsthaften Kritikern. Daß die Ev. Kirche in Deutschland
wieder eine betende Kirche wurde, das kommt nicht allein
von den B., aber es kommt auch von ihnen — und die B. stehen
hier groß da. Heute bezeichnet die Überschrift „Die B." ein erstaunlich
kräftiges Werk, das nach allen Richtungen der Kirchenerneuerung
ausgreift, zugleich auch eine Literatur, die der Beachtung
wert ist. Hier soll, dem Stil der ThLZ entsprechend, diese
Literatur der Aufmerksamkeit der Leser unterbreitet werden.

2. Auch in der Literatur der B. steht in der Mitte als das
Zentralfeuer, von dem einst Ludwig Heitmann sprach, das Gebet
(sei es das liturgische, sei es das private), also hier: Bücher und
Schriften vom Gebet und Formulare des Betens. Dies hindert
nicht, daß auch die Liturgik der B. (also die Theorie) charakteri-
stische Darstellungen und Verteidigungen fand. Wilhelm Stählin3,

*) Vgl. Stählin, Wilhelm: Was ist lutherisch? Zum Selbstvcr-
standnis der „lutherischen" Kirche im ökumenischen Gespräch. Kassel:
Stauda 1952. 37 S. 8°.

2) Stähl in, Wilhelm: Um was geht es bei der liturgischen Erneuerung
? Kassel: Stauda 1950. 30 S. 8°.

Karl Bernhard Ritter3, Alfred Niebergall', Horst Schumann5 sprechen
von der Liturgik der B., und man nimmt gern ihre Darlegungen
als Beleuchtung der Lage hin, ohne ihnen in allem zuzustimmen
(doch könnte ich Alfred Niebergalls genannte Schrift
Wort für Wort unterschreiben). Zu der Stellung der B. in der
Liturgik, überhaupt in der Theologie, hat K. F. Müller (Schwartau
) einen ebenso reichhaltigen wie trefflichen Aufsatz geschrieben
", zu welchem man mit Nutzen auch die Darlegungen von
Rudolph Stählin und Peter Brunner in der „Leiturgia"7 heranziehen
mag. Es geht bei den B. negativ um die Zurückweisung
der Übelrede, mit der „liturgischen Erneuerung" trieben sie Allotria
, gäben „katholisierenden Neigungen" nach, verfielen ästhetischen
, künstlerischen, weltlichen Lüsten, seien Psychagogen ä
tout prix, Altertümler in Gebet und Musik, ja Feinde des reformatorischen
„Glaubens". Man wird sehen, daß sich die B. gut
protestantisch zu verteidigen wissen. Positiv geht es ihnen um
die Realpraesenz Christi in seiner Gemeinde, die man nicht auf
das Altarsakrament einschränkt — um die Überwindung der Isolierung
des 1. Artikels — um die Tiefe, wohin das Denken nicht
eindringt — um die Erfassung des ganzen Menschen, auch des leiblichen
, durch die Liturgie — um das gottesdienstliche Leben mit
der ganzen Kirche Jesu und in der Art der noch nicht zerspal-
tenen Kirche. Es ist diese Liturgik des Aufhorchens aller Litur-
giker, aber ebenso der Homiletiker und Techniker der Seelsorge,
nachdrücklich wert; das Anliegen ist wuchtig.

Zum Stile Luthers gehörte es, katholisch zu beten und zu
liturgieren — natürlich mit Ausmerzung des für Luther „Unkatholischen
", und unter dem gewaltigen Vorzeichen: Sola fide.
Die B. können also, wenn sie einmal dem Kirchenplan Luthers
zustimmten, bei Luther das katholische Beten und Liturgieren lernen
; sie können aber auch noch überall da über Luther hinweg
auf Katholisches zurückgreifen, wo man a.) das Lutherische gefährdete
, als man es isolierte, b.) zum Zusammenbeten mit der
ganzen Kirche Jesu dringend wichtiger Momente bedarf, c.) Luthers
„vorläufige Duldung" als immer noch gültig erkennt.

*) Ritter, Karl Bernhard: Die Liturgie als Lebensform der
Kirche. 2., durchges. Aufl. Kassel: Stauda 1949. 48 S. 8°. Kart. DM 2.40.
4) Niebergall, Alfred: Evangelischer Gottesdienst heute.

Kassel: Stauda 1953. 32 S. 8° = Beiheft zu Musik und Kirche.
23. Jg. H.2.

6) Schumann, Horst: Die Erneuerung des Gottesdienstes. Zur

Wiedergewinnung der Messe und des Stundengebetes in der Ev. Kirche.
Kassel: Stauda [1949]. 43 S. 8° = Im Dienst der Kirche H. 3.

e) Müller (Schwartau), Karl Ferdinand: Die Neuordnung des
Gottesdienstes in Theologie und Kirche, in dem Sammelbande „Theologie
und Liturgie" (S. 280—339). Kassel: Stauda [1952]. 354 S. gr. 8°.

7) Müller, Karl Ferdinand, u. Blankenburg, Walter: Leiturgia
. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes. Mit einem Geleitwort
der Luth. Liturg. Konferenz hrsg. Der evangelische Gottesdienst.
l.Bd.: Geschichte, Lehre u. Formen des evang. Gottesdienstes. Kassel:
Stauda 1954. 536 S. gr. 8°. (Rudolph Stählin, Peter Brunner, G. Lang-
marck, Gerhard Kunze).