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Ausgabe:

1954 Nr. 11

Spalte:

681-684

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gaïth, Jérome

Titel/Untertitel:

La conception de la liberté chez Grégoire de Nysse 1954

Rezensent:

Völker, Walther

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 11

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nung in eine sehr verwickelte Überlieferung. Sie ermöglichen
durch Textvergleiche ein Urteil über den Wert der verschiedenen
Traditionszweige. Sie verschaffen durch ausführliche Tabellen eine
Übersicht über die Anordnung der Sammlungen. Sie beleben die
oft mühseligen und trockenen Zusammenstellungen durch einen
leisen Humor, wenn sie etwa eine Rezension, in der die Bestimmungen
für Doppelklöster zu reinen Mönchsregeln umgeformt
sind, „Ia recension misogyne" benennen. Überall läßt eine sorgfältige
Lektüre nicht nur die hier ausgebreitete Gelehrsamkeit
bewundern, sondern wird durch Erkenntnisse belohnt, die in
wichtige und unerhellte Probleme der patristischen Forschung
Licht bringen.

Es wäre deshalb auch unangebracht, über Einzelheiten mit
dem verdienten Verfasser rechten zu wollen. Die Thesen selbst
bleiben bestehen, auch wenn hier und dort eine Stütze sich als
zu schwach erweist. Ein Beispiel mag genügen: Gregor von Na-
zianz läßt in Ep. 6 an Basilius ihr gemeinsames Tugendstreben
,oQotg ygantdii xal xavoaiv gesichert sein. Das wird auch
dann noch auf die „Moralia" gehen, wenn man in den ,öqoi
yganroC nicht mit Gribomont biblische Regeln sieht; die
Rede Gregors auf Basilius spricht ja von ,vofio§eotai /uovaazcöv
eyyQaqpoixE xal äyQcupoi; das meint ohne Zweifel schriftliche
und mündliche, nicht biblische und außerbiblische Satzungen
(zu p. 257).

Auf der letzten Seite sind unter dem Titel „Vers une edition
critique" Wünsche zusammengestellt, die sich an eine künftige
kritische Ausgabe richten: als dringlichste Aufgabe erscheint,
einen guten Text der Rezensionen V und S zu geben und in je
einem eigenen Apparat V, S und das Kleine Asketikon zu berücksichtigen
. Man darf den Wunsch hinzufügen, der Verfasser
möge, nachdem er nun einen so sicheren Grund gelegt hat, selber
uns die Ausgabe liefern, deren Notwendigkeit er uns so eindringlich
klargemacht hat!

Güttingen Hermann Dörries

G a 7 t h, Jerome, Dr.: La conception de la liberte diez Grcgoirc de
Ny«ie. Paris: J. Vrin 1953. 213 S. gr. 8° = Stüdes de philosophie
medievale XI.III.

Sa philosophie surtout reste le domaine le moins explore.
On l'analysc rarement en elle-meine dans ce qu'elle a d'original
et de puissant (S. 7). Mit diesen Worten umschreibt Verf. die
Aufgabe, die er sich in dieser Arbeit gestellt hat. Gregor soll als
Philosoph, als origineller und kühner Denker gewürdigt werden
(S. 9), wobei das Freiheitsproblem als Mittelpunkt seiner
Lehre von Gott, Welt und Mensch betrachtet wird (S. 8).

Bei dieser Einstellung ist es verständlich, daß Gregors System
vom Freiheitsgedanken aus in strenger Geschlossenheit und Folgerichtigkeit
vorgeführt wird. Verf. geht dabei von dem unbewiesenen
Grundsatz aus: La liberte, avant d'etre propriete d une
nature, est cette nature elle-meme (S. 45) und unterscheidet
daher die liberte structurelle von der liberte fonctionelle.
Beide Arten der Freiheit findet er zunächst bei Gott selbst.
Die strukturelle sieht er in dessen Transzendenz verwirklicht,
und zwar in psychologischer (Erhabenheit über Raum und
Zeitl), moralischer {fxvovfQiov, ädvxov und besonders die änä-
fteia, die als Gipfel der moralischen Freiheit erscheint) und metaphysischer
Hinsicht (S. 29 f.). In der Trinität wird diese Freiheit
der Transzendenz zugleich immanent, und dies ist die realisation
der göttlichen ovaia ( = liberte: structurelle), eine liberation
mysterieuse de V ovaia divine (S. 31). Deckten sich in der Trinität
Transzendenz und Immanenz, so herrscht letztere unbeschränkt
in den schöpferischen Auswirkungen jener, bei der Schöpfung, im
Menschen, in der Inkarnation. Gottes liberte erzeugt also eine
liberte partieipee, eine image de la liberte creatrice (S. 37).

Wie bei Gott, so unterscheidet Verf. auch beim Menschen
die doppelte Freiheit. Die liberte structurelle, d.h. die rtxüv
in der ursprünglichen göttlichen Absicht wird ausführlich beschrieben
, wobei besonders die Charakteristik der Apathie auffällt
als une Sublimation du pathos sensible par le pathos spiri-
tuel (S. 61), d.h. die Einfügung des Körpers als eines bereichernden
Elementes in die Sphäre des Geistes, die Herstellung

des equilibre harmonieux de deux tendances opposees (S. 62),
ja die kosmische Ausweitung als Synthese von Sinnen- und Geisteswelt
, die der Mensch verwirklicht (S. 63). Diese liberte structurelle
(— ikevüegia) macht der Mensch sich durch freie Wahl
zu eigen(= ngoatgeaig, S. 39), sie ruht aber bereits in jener und
ist l'expression naturelle du dynamisme conscient de l'esprit
(S. 77).

Auf diesen einleitenden Teil folgt die deuxieme partie: Le
drame et les voies de la liberte ou la liberte dans le temps (S. 87
—174). Hier wird zunächst das Wesen der Sünde aufgedeckt, die
nichts anderes sein soll, als l'obscurcissement de l'intelligence
(S. 44, 104), l'impuissance initiale de l'intelligence (S. 119), daher
une faute i n e v i t a b 1 e (S. 193), die sich aus dem ständigen
Wechsel alles kreatürlichen Daseins erkläre (S. 43, 193).
Die Jigoatgeaig enthalte daher die Sünde bereits in sich commc
une condition necessaire (S. 106), während es mit aller
Entschiedenheit abgelehnt wird, daß die Sünde ein Willenswiderspruch
gegen Gott sei (S. 104, 193). Sie ist vielmehr die notwendige
Vorstufe für die liberation de la liberte (S. 135), denn
jeder Aufstieg beginne normalement par une chute (S. 106). Das
Pathos zerstört sich selbst, es ist la negation de la negativite
(S. 137) und läßt die Bekehrung aus sich herauswachsen (S. 141,
143). Die Freiheit erscheint jetzt als fortgesetzter Aufstieg zu
Gott (S. 200), der im Glauben, in der Askese, in der Zeit und
im Tode erfolge (S. 142 ff.) und in der Wiederherstellung der
Eikon sein Ziel sieht.

Der abschließende dritte Teil behandelt: La realisation de la
liberte de l'image ou la liberte apres le temps (S. 179—206). Die
Seele vollendet ihre moralische Freiheit nach dem Tode, sie gewinnt
die physische in der Auferstehung, die eine Wiederherstellung
des ursprünglichen göttlichen Planes bedeutet (S. 18 3, 186),
während die Apokatastasis das Wiederfinden der Freiheit für die
gesamte Menschheit sei (S. 194). Abschließend wird das Wesen
der himmlischen Freiheit untersucht, die zur Vollendung der
strukturellen wie funktionellen Freiheit führe.

Man erkennt schon aus dieser Skizze, wie rein konstruktiv
Verf. seine Arbeit angelegt hat. Dem entspricht auch die ganze
Art, wie er sein Vorhaben durchführt. Er bevorzugt grundsätzlich
die ausgesprochen philosophischen Schriften Gregors, die an eine
Elite gerichtet sind und seine innersten Gedanken ausdrücken
(S. 18 5, cf. S. 8, 9). Methodisch geht er weithin so vor, daß er
einen Widerspruch aufstellt, um von ihm aus das jeweilige Problem
zu lösen (cf. besonders S. 8, 18, 49, 103, 150 u. ö.). Er
liebt komplizierte, modern anmutende Definitionen, die ihrerseits
wieder in verschiedene Unterteile gespalten werden (cf.
etwa S. 77). Abstrakte Formulierungen und künstliche Zuspitzungen
des Gedankens finden sich überall. So wird die Wahl des
Bösen als une negation du choix libre bezeichnet (S. 80), die Sünde
als eine Minderung des Ich durch den Einbruch des Negativen
gedeutet (S. 76), als ein Sieg des Negativen über das Positive
(S. 119), und die Überwindung des Pathos als la negation de la
negativite (S. 137). Der Eindruck des Künstlichen und Konstruierten
wird durch den Schematismus verstärkt, in den Gregors
Gedanken gezwungen werden. Man lese nur d<c Ausfuhrunsen
über das Verhältnis von Gottes ot>o(a zur Trinität (S. 30 f.),
betrachte die Konfrontierungen auf S. 85 und 137, die förmliche
Tabellen darstellen, die Zeichnung auf S. 148, oder den ganzen
Aufbau des dritten Teiles! Dazu paßt die häufige Verwendung
des Wortes dialectique sehr gut, das sich wie ein roter Faden
durch das ganze Buch hindurchzieht. Es gibt eine d. passioneile
(S. 121) und erronee (S. 158), eine d. d'alienation et de liberation
(S. 137), oder de liberation ontologique (S. 200), bzw. du de-
venir infini (S. 204). Schlechthin alles wird mit diesem Stichwort
verbunden (cf. S. 31, 106, 107, 110, 123, 168, 190, 193, 195,
202 u. ö.). Zugleich wird häufig die Logik in Gregors Gedanken-
gefüge betont. Die Schöpfung ist z. B. une consequence Iogique
der Allmacht (S. 3 8). Daß der V0V{ sich durch das Pathos herabziehen
läßt, ist eigentlich anormal, aber es ist le decalage Iogique
de tout le plan spirituel (S. 121).

Um die Geschlossenheit des Systems zu wahren, legt Verf.
zuweilen einen ungebührlichen Nachdruck auf gewisse Äußerungen
, die Gregor gelegentlich als Hypothese vorträgt. So unter-