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Ausgabe:

1954 Nr. 10

Spalte:

634-636

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Anschütz, Georg

Titel/Untertitel:

Psychologie 1954

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 10

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gelium Jesu bringt! Kl. zitiert hier Bultmanns schokierenden Ausspruch
: „Man sollte lieber darüber erschrecken, daß die Philosophie
von sich aus schon sieht, was das Neue Testament sagt."
Kl. holt auch die ungeschminkte Natürlichkeit der Stellen
Rm. 1, 18 ff. und 2, 14 f. herbei zum Beweis, „daß das Gewissen
kein Privileg des Christen ist". Und Kl. hängt sich bei Luther
ein, der zu Joh. 14, 8 anmerkt: „Hie sieh her, Thoma und Philippe
, heb unten an und nicht oben." Jedoch hat Kl. mit diesem
Waffengang keineswegs die Absicht, etwa die Offenbarungstheologie
auf eine natürliche Offenbarung zu bauen, oder die christliche
Theologie philosophisch zu untermauern — ja die „Unmöglichkeit
" solcher crimina laesae maiestatis Christi weist Kl. gerade
in diesem seinem Buche nach. Daran freilich hält er fest, daß
es auch eine natürliche Gottesoffenbarung gibt und daß es für
den Theologen der übernatürlichen Offenbarung eine Pflicht ist,
das Vorhandensein jener natürlichen Gottesoffenbarung miteinzurechnen
, auch wenn ihre Daten schon in der übernatürlichen
Offenbarung enthalten sind. Für diese „Miteinrechnung" gibt Kl.
geradezu „Formularien". Und um dies zu können, „verkehrt" er
„bei den Philosophen", nicht als Kriminalinspektor, sondern als
Gelehrter, der mit den Philosophen die Leidenschaft der Wahrheit
gemeinsam hat.

2.) Indem Kl. den lutherischen Glauben „im Denken der
Gegenwart" aufsucht und „das Denken der Gegenwart" auf den
lutherischen Glauben hin abtastet, liefert er zugleich eine Grundlegung
, die man als „Phänomenologie des lutherischen Dogmas"
bezeichnen kann. Die Voraussetzung ist die lutherische Theologie
— die Mittel aber sind philosophisch. Ohne jene theologische
Voraussetzung wäre das Ganze zwar „voraussetzungslos", aber
auch total hinfällig. Anders als etwa bei Hegel, aber ganz ähnlich
wie bei Thomas von Aquino und Albert von Lauingen.

Kl. geht aus von der „Grundeinstellung" des Luthertums:
„Das Unendliche bedient sich des Endlichen zu seinem Aufleuchten
." Die Offenbarung bedient sich der Objektivierung durch ein
Medium dieser unserer Endlichkeit, stoßweise, das Medium
bleibt daneben ganz ein Teil des Universums, und es ist niemals
ada equat. Die Offenbarung wendet sich an den Menschen. Nun,
die bewußten Seelenfunktionen des Ich gehören dem Endlichen
an; aber unter dieser Oberfläche geht ein Ansatz in die Tiefe,
und diese Tiefe ist der Berührungspunkt mit dem Absoluten
( = der „Urgrund der Seele"). Im „Urgrund der Seele" wird das
Ich vom Übersinnlichen „berührt". Diese „Berührung" wird
„primär empfunden"; diese „primäre Empfindung" ist unreflek-
tiert wie auf der photographischen Platte, ist „primäre Objektivierung
". Diese primäre Objektivierung wird an das Bewußtsein
weitergeleitet und im Bewußtsein zu einem „Glaubensbild" gestaltet
. Dieses „Glaubensbild" aber nimmt der Verstand in Ar beit
und schafft daraus „die praezisierte dogmatische Formel".
Jene „Berührung" rauscht vorüber, aber die dogmatische Formel
hält die „Idee" fest. Die dogmatische Formel ist zweifellos ein
„Erstarrungsprodukt", eine „erstarrte Formel", doch dazu geeignet
, daß man an ihr sich zum „Nacherleben" jener „primären
Objektivierung" zurücktasten kann. Solche Dogmen, die die
Eignung zum „Nacherleben" haben, sind „primäre Dogmen".
Aus ihnen werden die „gefolgerten Dogmen" abgeleitet, und aus
den „gefolgerten Dogmen" können wieder Dogmen gefolgert
Werden. Die „gefolgerten Dogmen" sind ganz Produkte des Verstandes
(während bei den „primären Dogmen" der Verstand nur
in der technischen Ausprägung zur dogmatischen Formel in Tätigkeit
war). Je „gefolgerter" ein Dogma ist, desto schwächer
und schwächer wird der Ewigkeitsgehalt! „Historische Dogmen"
kommen auf, wenn einem historischen Vorgang ewige Bedeutung
beigelegt wird; diese „Beilegung" isoliert das Objekt, wir
haben es nicht mit einer primären, sondern mit einer „endlichen"
Objektivierung zu tun.

Erst an diesen Dogmenwuchs tritt nun all das heran, was
die Dogmcngeschichtc registriert und was nach Kl. zwar das Wissen
mehrt aber nicht den religiösen Wert. Der religiöse Wert
liegt überall dort, wo wir „nachobjektivieren" können und sollen.
In diesem Licht werden die Dogmen zu „Angeboten" an unser
„religiöses Bedürfnis", geeignet, die „Spannung" zu lösen. So
treffen wir eine Auswahl unter den „Angeboten". Aber die Kirche
hält alle Angebote aufrecht, für a 11 e in der Christenheit

wirklichen und möglichen „religiösen Bedürfnisse". Die Bibel ist
„Gottes Wort", weil sie uns entgegentritt mit dem Ansinnen,
ihre „Angebote" nachzuobjektivieren — und weil die Bibel alle
Angebote enthält, die christlichen „Bedürfnissen" entsprechen.
(Das heißt indes nicht, daß alle Angebote der Bibel der Offenbarung
in Christo gleich nahekommen; es gibt da Vorläufiges).

Man sieht: Kl. mutet den lutherischen Theologen vieles zu,
was nicht im Th W steht, auch nicht eigentlich im Index rerum
unserer Dogmatik, eher in einem Lexikon der Pädagogik oder
der Seelsorge, aber bei Kl. ist es eben nicht Pädagogik oder Psychologie
, sondern der Weg des Unendlichen im Endlichen, von
welchem das Luthertum zeugt, also Entfaltung des lutherischen
Grundansatzes! Dieser Grundansatz ist zweifellos ein „Philo-
sophicum", aber eben nicht gezogen aus der Metaphysik, sondern
aus der Offenbarungstheologie des Luthertums. Er ist Zeugnis
davon, daß in der übernatürlichen Offenbarung die natürliche
Offenbarung mitenthalten ist. So, wie in dem Kl.sehen Buch,
einer ausgesprochenen Theologie, all die Philosophen des „Literaturverzeichnisses
" (S. 158—162) mit den Theologen auftreten,
nicht zum Streit, sondern zur „Anlieferung ihrer Produkte".
Überall, wo das Vorhandensein der natürlichen Gottesoffenbarung
in die übernatürliche Gottesoffenbarung miteingerechnet
wird, fragt man (mutatis mutandis) auch nach den Daten, welche
die Kl.sehen Stichworte aufrufen. Z. B. im katholischen System
dort, wo über die letzten Gründe der Glaubensgewißheit geredet
wird. Im „Modernismus" dort, wo die Tragweite der Dogmen
erwogen wird. Bei Schleiermacher in der Glaubenslehre. Ja in
der FC (Sol. Deel. De libero arbitrio). Es empfiehlt sich also, den
Kl.sehen Erwägungen dieser Art standzuhalten — auch wenn die
eigene Position abgeschlossen ist.

3.) Mit diesen Untersuchungen hat Kl. das Feld abgesteckt,
auf welchem er nun den einzelnen lutherischen Dogmen eine Behandlung
angedeihen lassen will, die je nachdem in Säuberung,
Neufassung, Vergoldung, nie in Zerstörung, besteht. Die Spe-
zialthemen sind hier: Religion und Ethik; das Böse; Freiheit und
Gebundenheit; die Erlösung; Gnadenmittel; das Reich Gottes;
die letzten Dinge. Immer bleibt Kl. bei seinem Eingangswort:
„Die nachstehenden Ausführungen wollen keine vollständige
Glaubenslehre bieten, sondern die Art lutherischen Denkens
darlegen." Aber das muß jeder vorurteilslose Leser gestehen:
Kl. macht einem das christliche Dogma lieber und das lutherische
willkommener! Durch all diese Formulierungen hindurch weht
der Geist originaler Frische, „Andacht" möchte man sagen, wenn
das Buch nicht so hochgelehrt wäre. Also es ist ein „Angebot"
an die Christen — nun kommt es darauf an, wie das „religiöse
Bedürfnis" der Lutheraner darauf reagiert.

Augsburg Leonhard Fendt

. PRAKTISCHE THEOLOGIE

Anschütz, Georg: Psychologie. Grundlagen, Ergebnisse und Probleme
der Forschung. Hamburg: Richard Meiner [1953]. XV, 586 S.
gr. 8°.

Hat die Theologie des letzten Menschenalters recht daran
getan, sich von der Psychologie zu distanzieren? Sowohl in der
Predigtlehre als auch in der Seelsorge und Katechetik war sie zurückgedrängt
worden, zu Ehren der Theologie des Wortes. Die
selbstverständliche Folge war der Verlust der Tuchfühlung, der
nachgerade für die Praktische Theologie zum Problem — um nicht
zu sagen: zum Verhängnis geworden ist. Wie dünn sind die Theologen
gesät, die heute in der psychologischen Wissenschaft sich
auskennen und ein Wort von Gewicht in die Wagschale zu legen
haben! Nur auf dem Teilgebiet der Tiefenpsychologie schien eine
Ausnahme zu bestehen, wenn auch mit einer Neigung, sich an
Modeströmungen und an dilettierende Praktik hinzugeben.

Während der theologischen Zurückhaltung oder der Flucht
aus der Arbeit hat die wissenschaftliche Psychologie eine Ausweitung
erfahren, die der Außenstehende kaum ahnen wird. Schon
von den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts dürfte
gelten, daß die Theologie dem Fortschritt der psychologischen
Wissenschaft wenn überhaupt, so nur schwerfällig und mangel-