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Ausgabe:

1954 Nr. 10

Spalte:

632-634

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Klamroth, Erich

Titel/Untertitel:

Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart 1954

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 10

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Schopenhauer bis zum Existentialismus in Wirklichkeit große
Dichtungen sind, wie andererseits jede große Tragödie — wir
denken an Hamlet und Faust — mit philosophischen Problemen
gesättigt ist.

Ein besonders wichtiges Kapitel widmet der Verfasser den
Gottesbeweisen unter der Überschrift: „Recht und Unrecht
in Kants Kritik der Gottesbeweise."

H. bestreitet natürlich nidit, daß Kant im Recht ist mit seiner Behauptung
, diese alten berühmten Gottesbeweise, insbesondere der on-
tologisdic des Anselm, der unbewußt und stillschweigend den anderen
zugrunde liegt, sei kein wissenschaftlich zwingender Beweis wie irgendein
Lehrsatz der Mathematik. Aber er madit es Kant zum Vorwurf, daß
er nicht beachtet und würdigt, daß diese Gottesbeweise eingelagert sind
in eine Atmosphäre frommen religiösen Glaubens. Mir scheint nicht,
daß dieser Vorwurf berechtigt ist. Wenn Kant eine Kritik der reinen
Vernunft schreibt, hat er Recht und Pflidit, die Frage zu prüfen, ob
vom Standpunkt der Vernunft aus diese überlieferten Beweise zwingend
und bindend sind. Es gilt auch wohl ein anderes zu bedenken. Anselm
gehört offenbar zu einem bestimmten Typus von Menschen, die nämlich
von der Voraussetzung ausgehen, die menschliche Vernunft sei die
höchste Gottesgabe, mit der man unmittelbar das Wirklidie erfasse.
Wir dürfen erinnern an den Griechen Parmenides, der von dem Satz
ausgeht: „Dasselbe ist Denken und Sein", und in der Neuzeit hat Hegel
denselben Typus vertreten mit dem schillernden Satz: „Alles Wirkliche
ist vernünftig, und alles Vernünftige ist wirklich." Das sind doch
Stimmungen, die wir heute kaum mehr verstehen. Uns erscheint die
Wirklichkeit oft als sehr unvernünftig. Der Verfasser beschließt seine
Metaphysik des Weltganzen mit einem Kapitel von einer Zuvcrsidit
über Zweck und Sinn der Welt, die manchen Leser etwas befremden
wird, zumal der Verfasser selbst an anderer Stelle das Weltübel als
dunkel und unlösbar betrachtet, so daß die Frage der Theodizee sich
auch ihm aufdrängt.

Am Schluß des ganzen Bandes wird uns der Aufbau der
Wirklichkeitslehre noch einmal klar gemacht. Die Weltansdiau-
ung ist nicht die Grundlage, sondern der krönende Abschluß
der Philosophie; denn sie ist immer eine Sache des Glaubens. Es
gibt keine christliche Philosophie, wie es auch keine christliche
Mathematik gibt; aber es gibt wohl eine christliche Weltansdiau-
ung und deshalb auch eine christliche Geschichtsphilosophie, mit
der der ganze Abschnitt der Weltanschauung schließt.

In der Einleitung zur Weltansdiauungslehre lesen wir auf
S. 28 8 ein schönes Bekenntnis zu Lotze:

„In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Lotze eine philosophische
Weltanschauung in vorbildlidier Weise entwickelt. Im Unter-
sdiied vom deutschen Idealismus hält er sich frei von kühnen und fragwürdigen
metaphysischen Spekulationen und stützt sich bei der Sinndeutung
der Welt um so mehr auf das Wertbewußtsein in seiner dreifachen
Richtung: der ethischen, ästhetisdien und religiösen. Eine stärkere
Orientierung der heutigen Philosophie an diesen Denkern (vorher
waren Kant und Fichte genannt) könnte der im Argen liegenden Weltanschauungslehre
aufhelfen und sie zu neuem Leben erwecken." Wir
dürfen in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Albert Schweitzer
immer wieder betont hat, es gäbe für uns heute kaum eine wichtigere
Aufgabe als die Erarbeitung einer positiv gerichteten Weltanschauung
, die uns vor dem Relativismus und Nihilismus rettet. Andererseits
dürfte Hessen auch recht haben, wenn er meint, diese Weltanschauung
müsse eine sichere philosophische Begründung haben; denn sonst müsse
die Totalansicht der Wirklichkeit unzulänglich werden. „Nur die Vordergründe
der Wirklichkeit kommen in ihr zur Darstellung, nicht ihre
Tiefe, ihr Kern. Das trifft mehr oder weniger auf alle Einzelwissenschaftler
(insbesondere Naturwissenschaftler) zu, die ohne philosophische
Schulung und metaphysische Begabung die Weltanschauungsprobleme
in Angriff nehmen." Das typische Beispiel dafür ist Ernst Haeckel.
der auf seinem Fachgebiet Hervorragendes geleistet hatte, aber in allen
philosophischen und theologischen Fragen ein blutiger Dilettant war.
Er ist für die heutige Naturwissenschaft nicht mehr typisch; aber sein
Geist ist, wie ich fürchte, noch nicht ausgestorben. Das liegt in der von
Hessen geschilderten Sache.

In der Weltanschauung behandelt der Verfasser
vier Probleme: Das Gottesproblem, Gott und Welt, das Problem
des Geistes, der Sinn der Geschichte.

Bei der Behandlung des Gottesproblems werden wir auf S. 315
durch ein schönes Zitat von Rickert erfreut: „Ohne das Vertrauen
darauf, daß eine übermenschliche Macht die Welt so eingerichtet hat,
daß in ihr die Verwirklichung von Werten in Gütern durdi freie Subjekte
möglich und sinnvoll ist, kommen wir auf keinem Gebiete zu
einem befriedigenden Abschluß der Überzeugungen, die wir für ein
tätiges Leben brauchen. Selbstverständlich kann man die Probleme, die
hier entstehen, ignorieren, nämlich dann, wenn man es überhaupt unterläßt
, über das Weltganze nachzudenken. Will man aber als Philosoph
darauf nicht verzichten, dann wird man mit Notwendigkeit darauf geführt
werden, daß eine wahrhaft universale Weltanschauung in einem
religiösen Glauben gipfelt, und es versteht sich wohl von selbst, daß
eine Welt anschauung nur dann ihren Namen verdient, wenn sie das
Welt ganze umfaßt." Ich verweise die Leser unseres Buches weiter
auf einige besonders wertvolle Abschnitte. Die verschiedenen Formen
des Pantheismus im Unterschied zum Theismus werden kurz und klar
entwickelt. In dem Abschnitt über die Schöpfungsidee wird das Problem
des Wunders in aller Knappheit schön und überzeugend abgehandelt,
und die Meinung als irrig nachgewiesen, es sei besonders fromm, die
Wunder als einen unmittelbaren Eingriff Gottes in das Weltgeschehen
zu deuten. Damit wird ja die Vorstellung nahegelegt, als sei das sonstige
Weltgesdiehen Gott-los. In dem Kapitel über das Weltübel werden
alle die Schwierigkeiten, die dem naiven Gottesglauben entgegen
stehen, mit voller Offenheit dargelegt. Die Lösung sieht der Verfasser
in einem ethischen Imperativ: überwinde das Böse durdi die sittliche
Tat, verhilf dem Guten zum Siege in Dir und in der Welt! Das ist die
Lösung des Theodizee-Problems, die uns Menschen möglich ist.

Damit kann ich meinen Bericht schließen. Ich muß aber noch
ein zusammenfassendes Urteil nachtragen. Hessen schreibt ein
Lehrbuch der Philosophie. Er will also seine Leser anleiten, über
die philosophischen Probleme und Aufgaben selber nachzudenken
. Er hat immer eine Warnung Kants vor Augen: Man könne
nicht Philosophie lernen, wohl aber philoso p h i e r e n! Nun
weiß Hessen freilich, und hat es wiederholt ausgesprochen, daß
zur Philosophie eine besondere Anlage gehört. Aber er weiß
auch, daß in Deutsdiland diese philosophische Anlage soweit verbreitet
ist, daß es sich wohl lohnt, ein Lehrbuch der Philosopie
zu schreiben und sich darum zu bemühen, die Leser zum philosophischen
Denken anzuleiten und zu erziehen. Deshalb werden
uns nicht einfach die fertigen Ergebnisse vorgesetzt, die es manchmal
überhaupt nicht gibt; sondern das Problem wird aufgezeigt
und von verschiedensten Seiten her beleuchtet, indem
Stimmen für und gegen eine Behauptung zu Worte kommen. Es
kommen also auch beinah alle großen Denker mit ihren eigenen
Ausführungen zur Geltung. Da Hessen mit Recht das Gesetz der
Polarität für grundlegend hält, so darf man sich nicht wundern,
wenn bisweilen auch seine eigenen Äußerungen unter diesem
Gesetz der Polarität stehen und sich hier und dort zu widersprechen
scheinen. Diesen Widerspruch der Betrachtung, den die
rätselhafte Welt in uns weckt, muß jeder vorurteilslose Denker
in sich empfinden und in sich austragen, damit er auch seine
Leser zu einem tapferen Denken erziehen kann, das die Probleme
ernst nimmt und nötigenfalls auf eine glatte Lösung verzichtet.
So bietet uns Hessen wirklich ein Lehrbuch der Philosophie, und
der Rezensent gesteht gern, daß er viel daraus gelernt hat, auch
wenn er selbstverständlich hier und da anderer Meinung ist und
das nicht verschwiegen hat.

Hannover-Kleefeld Hermann Schuster

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Klamroth, Erich, Lic: Lutherischer Glaube im Denken der Gegenwart
. Berlin: Töpelmann 1953. VIII, 162 S. gr. 8°. Lw. DM 14.50.

1.) Als der damalige Privatdozent in der philosophischen
Fakultät der Universität München Alexander Pfänder im Sommer
1902 seine Vorlesung über „Ethik" beschloß, da tat er es
mit dem schwerwiegenden Schluß-Satz: „Wenn Sie aber nun fragen
, warum wir ethisch leben sollen — so muß ich die Antwort
auf diese Frage einer zukünftigen Metaphysik zuweisen.'
E. Klamroths Buch könnte auf jenen Pfänderschen Schluß-Satz
bezogen werden; denn das Buch besagt: Auch die neue Metaphysik
hat die Antwort nicht gefunden, keine neue Metaphysik wird
sie finden — nur das Evangelium Jesu in der Sicht der lutherischen
Theologie hat die Antwort! Sofort aber wird man Klamroth in-
quirieren: „Wozu bemühen Sie sich dann um die Philosophen und
und Philosophien?" Seine Erwiderung heißt ungefähr so: Weil
die Philosophen jene Antwort beinahe gefunden haben —
und weil es für die Philosophen und für die Theologen von Belang
ist zu ergründen, wieso die Philosophie doch schließlich
nicht an das Ziel kam und kommen kann, an welches das Evan-