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Ausgabe:

1954 Nr. 10

Spalte:

627-632

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Philosophie 1954

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 10

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PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Hessen, Johannes, Prof. D. Dr.: Lehrbuch der Philosophie. l.Bd.
Wissenschaftslehre. 2. Aufl. 2. Bd. Wertlehre. 3. Bd. Wirklichkeitslehre
. München: Reinhardt 1948/50. 314 S. + 298 S. + 371 S. 8°
Bd. I u. II kart. je DM 10.50, Lw. DM 12.50; Bd. III kart.
DM 12.50, Lw. DM 15.—.

Der Verfasser bringt für seine Aufgabe ungewöhnliche Voraussetzungen
mit1. Es ist selbstverständlich, daß ihm die großen
Philosophen der Antike und der modernen europäischen Welt
gründlich vertraut sind. Er bekennt ja selber, daß der Philosoph,
wenn er etwas Belangvolles und Beachtliches sagen will, sich
nicht auf seine eigene subjektive Erfahrung beschränken darf,
sondern daß er sein Innenleben sättigen muß mit dem ganzen
Reichtum, der von den großen Denkern der Menschheit in der
Geschichte angesammelt ist. Dazu kennt unser Verfasser, seiner
kirchlichen Herkunft gemäß, sehr gründlich auch die philosophische
Gedankenarbeit des Mittelalters, d. h. nicht nur den großen
Augustin, der an der Pforte des Mittelalters steht, sondern
auch die mittelalterliche Scholastik, den heiligen Thomas voran,
und die Gedankenarbeit der Neuscholastik der Gegenwart, aus
denen er manche wertvolle Stücke anführt. Er selber rechnet sich
zur phänomenologischen Richtung innerhalb der Philosophie
und ist deshalb genötigt, sich wiederholt mit dem großen
Königsberger kritisch auseinanderzusetzen. Kant ist aber
trotzdem der Denker, der weitaus am häufigsten zitiert wird,
und aus dessen Bergwerk immer wieder die kostbaren Schätze
hervorgehoben werden. Daneben erscheinen besonders häufig
Namen wie Max Scheler und Nikolai Hartmann und, im dritten
Bande, zu meiner freudigen Überraschung und Bereicherung, Hermann
Lotze, der hier aus unverdienter Vergessenheit herausgerissen
wird.

In der ThLZ dürfte es die Aufgabe sein, aus dem umfangreichen
Werke das hervorzuheben, was für den Theologen besonders
wichtig und lehrreich ist. Doch muß ich vorausschicken
eine kurze Übersicht über den Gesamtinhalt des dreibändigen
Werkes.

Band 1 bringt unter der Überschrift: Wissenschaftslehre
eine Einleitung: Philosophie der Philosophie. Sodann als erstes
Buch eine Logik, die, nach einer Einleitung, von den logischen Gesetzen
handelt und von den logischen Gebilden (Urteil, Begriff und
Schluß). Das zweite Buch ist der Erkenntnistheorie gewidmet,
der allgemeinen und der speziellen. Der zweite Band trägt die
Überschrift: Wertlehre und ist insofern von besonderer Bedeutung,
als der Verfasser zu den Philosophen gehört, die seit einigen Jahrzehnten
den Begriff des Wertes in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens
gerückt haben. Er bekennt selber, daß diese VVcrtphüosophie noch eine
verhältnismäßig neue Disziplin ist und deshalb vielleicht mit Mängeln
und unfertigen Problemen zu kämpfen hat. Nach einer allgemeinen
Wertlehre (die der ungeschulte Leser vielleicht lieber auf das Ende des
Bandes verspart) kommt die spezielle Wertlehre mit ihren drei Teilen:
Ethik, Ästhetik, und Rcligionsphilosophie. Dazu
werden wir nachher einiges zu sagen haben. Der dritte Band trägt
die Überschrift: Wirklichkeitslehre. Das Vorwort beginnt
mit dem Satze: „Die für die Philosophie des 20. Jahrhunderts so charakteristische
.Wende zum Objekt' hat den der Wirklichkeit zugewandten
philosophischen Disziplinen neuen Auftrieb gegeben . . . Ihre Erörterung,
wie das vorliegende Werk sie versucht, entspricht darum starken Strebungen
und Strömungen der Gegenwart. In anderer Beziehung freilich
tritt unser Werk in Gegensatz zur heutigen Philosophie. Lehnt es dodi
jene Reduzierung der Seinsproblematik auf das mensdiliche Dasein, wie
der Existenzialismus unserer Tage sie durchführt, entsdiieden
ab und sucht demgegenüber eine universale Philosophie
der Wirklichkeit zu entwickeln". Wer diesen dritten Band
durchliest, mit seinen drei Teilen: Ontologie, Metaphysik und Weltanschauungslehre
, wird vielleicht wie der Rezensent selber in diesem
geschlossenen Zusammenhang die Probleme des Existenzialismus kaum
vermissen. Da sie aber in der Gegenwart eine so große Rolle spielen

') Diese Besprechung erscheint leider erheblich verspätet, teils
weil der Rezensent in diesem Winter durch eigene dringende Arbeiten
ungewöhnlich belastet war. Er wollte aber diesem Lehrbuch der Philosophie
eine Besprechung widmen, die auf gründlicher Durcharbeitung
beruht, wollte das hervorragende Werk nicht eilfertig abtun. Es ist die
Frucht jahrzehntelanger hingebender, mit allen Kräften des Denkens
und des Gemütes durchgeführter Arbeit.

und ihre Vertreter wie Heidegger trotz schwieriger Schreibweise beinah
populär geworden sind, so könnte man die Frage aufwerfen, ob nicht
in einer neuen Auflage von Band 3 eine Auseinandersetzung mit dem
Existenzialismus nachgeholt werden sollte, in der objektiven und gerechten
Form, wie Hessen alle Probleme zu behandeln pflegt.

Aus Band 1 möchte ich zwei Abschnitte der Erkenntnistheorie
hervorheben. In dem Kapitel über das Wesen der
Erkenntnis wird als Nr. 2 behandelt das „Erkennen als Erzeugen
des Gegenstandes". Damit ist die Kantische Erkenntnistheorie
bezeichnet, jene berühmte „Kopernikanische Wendung",
nach der nicht das Denken sich nach den Gegenständen, sondern
die Gegenstände sich nach dem Denken richten sollen. Diese
Kantische Auffassung vom Wesen der Erkenntnis wird hier mit
wundervoller Klarheit beschrieben, sowohl nach ihren Vorzügen
wie nach ihren Mängeln und Bedenken. Von vielleicht noch größerer
Bedeutung ist das Kapitel über den logischen Ursprung
der Kategorien S. 273 ff. Es handelt sich hier
um die beiden grundlegenden Kategorien: Substanz und
Kausalität. In der gebotenen Auseinandersetzung mit
H u m e werden diese beiden wichtigsten Kategorien klar beschrieben
. Die Kategorie der Kausalität ist von entscheidender
Bedeutung für ein Grundproblem moderner Atomphysik.
Wenn die Kausalität aus der Erfahrung abzuleiten und nicht eine
unaufgebbare Denknotwendigkeit unserer Vernuft wäre, dann
möchten jene Atomphysiker recht haben, die in dem atomaren
Geschehen die Kausalität leugnen, weil wir sie nicht feststellen
können (Max Planck gehört nicht zu diesen Leugnern der
Kausalität). Dann besteht die Gefahr, daß eine schlechte Apologetik
aus der aufgehobenen Kausalität die menschliche Willensfreiheit
und Verantwortung ableiten will (Althaus warnt vor
dieser Gefahr). Die Kategorie der Substanz aber ist von
entscheidender Bedeutung für die mittelalterliche scholastische
Lehre von der Transsubstantiation der Abendmahlselemente
.

Zu diesem Problem ist dann heranzuziehen, was in Band 3 in der
Ontologie in dem Kapitel: Substanz und Akzidens (S. 113 ff.) scharfsinnig
erörtert wird: Der Verfasser lehnt dort als unmöglich die Meinung
ab, die Substanz sei ein geheimnisvolles „Etwas", das von seinen
Akzidentien, seinen Eigenschaften und Merkmalen, realiter geschieden
werden könne, so daß bei der Verwandlung der Substanz alle Eigenschaften
unverändert bleiben: „Das Verhältnis von Substanz und Akzidens
darf nicht als reale Verschiedenheit und Trennbarkeit aufgefaßt
werden. Die Substanz ist das Wesen, das in den Akzidentien erscheint.
Die Akzidentien sind die Erscheinungsweisen der Substanz".

Band 1, Wissenschaftslehre, beginnt aber mit einer äußerst
wertvollen Einleitung: Philosophie der Philosophie, d.h. mit der
Frage nach Wesen und Aufgabe der Philosophie. Daraus muß ich wenigstens
einige prachtvolle Sätze unsern Lesern vorlegen. „Der Philosoph
wendet sich an unsern Intellekt. Was er uns bietet, ist Erkenntnis
... Er will die Wirklichkeit nicht künstlerisch schauen und formen,
nicht ethisch gestalten, nicht religiös erleben, sondern verstandesmäßig
erfassen und begreifen. Sein Affekt ist allein das Wissenwollen: Non
ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere (Spinoza)." „Der
Blick des Philosophen ist auf die Totalität der Dinge gerichtet; er will
das Ganze der Wirklichkeit erfassen. Gerade dadurch unterscheidet
sich das Philosophische System von jedem System einzelwissensdiaft-
licher Erkenntnis." „Philosophie, so können wir jetzt sagen, ist Totalerkenntnis
, ist Universalwissenschaft." „Die philosophische Erkenntnis
hat eine Tiefendimension, durch die sie sich von der spezialwissen-
schaftlichcn wesentlich unterscheidet. Sie geht nicht nur in die Weite,
sondern ebenso sehr in die Tiefe; sie ist nicht bloß T o t a 1 erkenntnis,
sondern zugleich Radikal erkenntnis. Sie sucht die Totalität des
Seins aus den letzten Gründen oder Prinzipien des Seins heraus zu begreifen
. Philosophie erscheint so als Grund- oder Grundlagenwisscn-
sdiaft. Sie ist Wissenschaft von den Prinzipien ... Sie ist Universalwissenschaft
nicht im Sinne empirischer Liniversalerkenntnis, sondern
philosophischer Prinzipienerkenntnis. Sie bleibt nicht an der empirisch
gegebenen Außenseite der Welt haften, sondern trachtet zu erkennen,
was die Welt im Innersten zusammenhält" (Band 1 S. 21—23).

Zur Ergänzung noch die folgenden Sätze: „Mit Fug und Redit läßt
sich auch von einer besonderen philosophischen Anlag6
sprechen. Was dazu berechtigt, ist die Beobachtung, daß das Philosophieren
ebensowenig jedermanns Sache ist, wie etwa das künstlerisch6
Schaffen und Verstehen. Gerade der Philosoph muß ja immer wieder die
Erfahrung machen, daß die Mehrzahl der Menschen seinen innersten Bestrebungen
verständnislos gegenübersteht und für das, was seine tiefste
Seele erfüllt, nur ein mitleidiges Lächeln hat. ,Das Rätselhafte des Daseins
ergreift, wie Schopenhauer treffend sagt, immer nur wenige mit