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Ausgabe:

1954 Nr. 10

Spalte:

595-602

Autor/Hrsg.:

Starke, Arthur

Titel/Untertitel:

Zur Reformationsgeschichte Polens 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 10

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Zeit mitlebte und mitformte. Hierzu bietet denn Aalen ein wahrhaft
reiches Material, aufgrund eines exemplarischen Quellenstudiums
, dargelegt in einer Art konzentrischer Kreise — hier der
wichtige Nachweis Aalens, daß die viel zitierten „Kurtzen Sätze
der Theologiae Mysticae" eben nicht von Zinzendorf sind.
Und der Ausblick auf die „Sichtungszeit" und ihre Dämonie besagt
eben: Es war wirklich der spiritualistisch-mystische Zinzendorf
, der dort taumelte, kein anderer, und er meinte, die Sache
sei das Wagnis wert, einmal in die „Höhe" der „Karikatur", des
„Spieles" transformiert zu werden. Die Metanoia kam, mußte
kommen, aber nicht als Abkehr von der Mystik zum Luthertum
, wie etliche annehmen, sondern als Abkehr vom „Spiel"
weg zur Zucht der bleibenden mystischen Grundstimmung.
Oder wäre es wirklich eine Wendung zum Luthertum, wenn Zinzendorf
nach wie vor unter „Gnade" die „Umwandlungsgnade"
versteht — wenn er die „Salbung", den „Geist ohne Wort", die
„Ansteckung" höher schätzt als das „Wort", ja dem lutherischen
„alles durch das Wort" die Markierung gibt „wittenbergisch-
lutherische Grille" — wenn er die Sakramente nur in den schon
„Gesalbten" wirksam sein läßt — wenn er die Kraft der „Blutsgnade
", welche Rechtfertigung und Heiligung tut, in drei Effekten
beschreibt: 1.) Alle Sünder werden umsonst selig, 2.) alle
seligen Sünder werden durchaus heilig, 3.) alle Heiligen sollen
einander lieben? Gewiß hat er sich vom Halleschen Pietismus
weggewandt, gewiß den „Bußkampf" verworfen, gewiß 1748 die
Augustana (die XXI ersten Artikel!) angenommen — aber alles
aus seiner Zinzendorf-Religion heraus, nicht anders. (Z. B. die
Augustana war für ihn nicht das lutherische oder wenigstens das
melanchthonische Bekenntnis, sondern, wie für Spangenberg, das
Bekenntnis zum gemeinsamen „Evangelischen", sc. im Herrnhuter
Sinn der „Tropoi".)

Man wird Aalen zweifellos darin rechthaben lassen, daß der
spiritualistisch-mystische Grundton dauernd in Zinzendorfs Christentum
und Theologie vorhanden ist, aus der Jugendperiode
her; daß dieser Grundton von der augustinischen „Metaphysik"
herstammt, die (neben anderem!) auch die Inhalte „Natur und
Gnade", „Liebe zum höchsten Gut als Ruhe der Seele" einschließt;
daß Zinzendorf dem allem aber nicht aus Augustinismus, Katholizismus
, Quietismus etc. zufiel, sondern aus „Protestantismus",
d. h. weil jene augustinische, hugonische, bernhardinische, auch
neuplatonisch-areopagitische (vielleicht sogar cusanische) Tradition
zur protestantischen Mystik der Barockzeit in
verschiedener Mischung, Färbung, Akzentuierung gehörte, und
Zinzendorf von seiner Mannwerdung an die religiöse und kulturelle
Gärung seiner Epoche auf sich zukommen ließ, mitmachte,
verarbeitete; daß endlich Zinzendorf auf eigene Faust Christ war,
anders als der genuine Luther und das orthodoxe Kirchen-
Luthertum damaliger Zeit, anders auch als Spener, Francke, die
Württemberger, Arnold und als Dippel, Thomasius und die
Aufklärung.

Darin wird man Aalen rechthaben lassen und Korrekturen
nur am Rande anbringen. Aber man wird ihn dann fragen: Aus
welchem Grunde muß Zinzendorf gerade an der Systematik des
Grundsatzes „Zugleich Gerechter und Sünder" gemessen werden?

Gewiß deshalb, weil etliche Autoren ihn die grundsätzliche Wendung
zum Luthertum finden ließen, eine Hypothese, welche widerlegt
werden konnte und mußte. Aber Aalens eigentlicher
Grund, mit der Systematik des „Simul iustus et peccator" den
Grafen zu messen, ist ja eingestandenermaßen der, Zinzendorf
als den Inaugurator des „Neuprotestantismus" und als den theologischen
Erzeuger Schleiermachers zu kennzeichnen! Und hier
wird man Aalen nicht so fröhlich rechthaben lassen. Aalen faßt
den „Neuprotestantismus" im Sinne von Troeltsch (1906), er
könnte ihn auch im Sinne von Rathje (1952) fassen. Nur durch
die aus dem Ketzerkampfe seit dem 2. Jhdt. bekannte „Zerrung",
mit der man jeweils die aus einer Position folgenden möglichen
Gefahren als wirkliche Kalamitäten registrierte,
gelingt es Aalen, Zinzendorf als „Neuprotestanten" zu zeichnen.
In Wirklichkeit hatte der Graf ein selbständiges Christentum,
aber nicht den „Neuprotestantismus". Ebenso schwierig ist, trotz
allen von Aalen mit Recht erwähnten Ähnlichkeiten, die Frage
nach der Beeinflussung der Theologie Schleiermachers durch Zinzendorf
— und die Hypothese Aalens (und Bruno Bauers!) von
der zu Unrecht postulierten Originalität Schleiermachers. War
denn wirklich Schleiermacher ein „Neuprotestant", oder eben auch
ein selbständiger Christ, Theologe und Philosoph? Die „dialektische
Theologie" mag Ursache genug haben, den heutigen Evangelischen
vor Zinzendorfs und auch vor Schleiermachers Wegen
zu behüten, da die Stunde eine andere ist — aber über jene Männer
, deren Stunde wieder eine andere war, ist damit nichts Letztes
gesagt.

Schließlich: Augustinus hat nicht bloß die Cadenz „Natur
und Gnade" gekannt, sondern fortissimo auch die von „Sünde
und Gnade", wie Nörregaard (RGG2 I 664) und Ad. v. Harnack
(Dogmengeschichte1 269 ff.) betonen. Auch dürfte der Hinweis
Eridi Przywaras (Religionsphilosophie S. 71 f.), Augustinus
knüpfe beim Thema „Natur und Gnade" geradezu an die von
der katholischen Dogmatik „dona praeter naturalia" genannte
perfizierte Natur des Paradies-Menschen an (wobei „Gnade" im
eigentlichen Verstand zu den dona s u p e r naturalia gehört!) —
Augustins Absicht aber sei, die „Teilnahme an Gott" von ihrer
„menschlichen Seite" her zu beschreiben. Für Luther aber bleibt
bemerkenswert, daß er die „Umwandlungsgnade" kennt, „a u c h"
kennt (siehe P. Althaus, Paulus und Luther2 S. 74; vgl. R. Hermann
, Luthers These usw. S. 135 f.). Aalen wird sagen: Zuviel
„Auch"! Darin hat er recht — aber warnen solche „Auch" nicht
doch davor, den Simul-Maß-Stab zu verabsolutieren?

Dennoch ist Aalens Buch auch in diesen der Bestreitung zufallenden
Punkten verdienstvoll. Denn die Kontraposition „Zinzendorf
und die Simul-Systematik", „Zinzendorf und Augustin",
„Schleiermacher und Zinzendorf", „Zinzendorf und der sog. Neuprotestantismus
", „Schleiermacher und der sog. Neuprotestantismus
" bringt doch schon als solche etliche wichtige Resultate,
welche jede folgende Forschung zu beachten hat. Aber die Stärke
des Aalenschen Werkes liegt in der Darstellung des „originellsten
aller Christenköpfe" (so J. M. Sailer, 8. Sept. 1798, Schiel II
173), Zinzendorfs, nach Weg und Art.

Zur Reformationsgeschichte Polens

Von A. Starke,

Über den gegenwärtigen Stand der Erforschung der polnischen
Reformationsgeschichte unterrichten vorzüglich die beiden letzten
Bände der in Warschau verlegten Zeitschrift „Reformacja
w P o 1 s c e".

Band IX—X (1937—39) war in der Hauptsache schon vor
Kriegsausbruch gedruckt. Nur ein kleiner Teil des Inhalts ist verloren
gegangen. Der nun erst 1947 veröffentlichte Band umfaßt
aber auch jetzt noch über 500 Seiten.

Zunächst gibt uns J. Moreau-Reibel (Krakau) einen Überblick
über R e i s e n evangelischer Polen nach Frankreich
von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang
der geistigen und politischen Strömungen des jeweiligen
Zeitabschnittes. Verf. bemüht sich, die Polen nicht bloß als Nehmende,
sondern auch als geistig und geistlich Gebende darzustellen.

Sonnewalde N.L.

A. Kawecka-Gryczowa beschreibt lichtvoll auf Grund
ausgiebiger Quellenforschung die Wirksamkeit eines Führers der reformierten
Kirche Kleinpolens, des Pfarrers Jak. S i 1 v i u s, in der Zeit
der schweren Lehrkämpfe, die jene Kirche in den 50er und 60er Jahren
des 16. Jahrhunderts erschütterten. Die Verf. legt damit einen wertvollen
Baustein zu der noch ungeschriebenen Geschichte der kleinpolnischen
Kirche.

A. W a n t u 1 a, Professor für praktische Theologie an der lutherischen
Fakultät zu Warschau, berichtet über Lebensgang und -werk des
„slawischen Luther", des Pfarrers Georg Tranoscius (Jerzy Trza-
nowski, 1592 in Teschen geboren), des Schöpfers der „Cithara saneto-
rum", jenes bedeutenden lutherischen Gesangbuches in tschechischer
Sprache, das über drei Jahrhunderte hinaus wirksam geblieben ist. Der
Aufsatz vermittelt einen Überblick über die Hauptergebnisse der von
tschechischer, slowakischer, polnischer und deutscher Seite betriebene