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Ausgabe:

1954 Nr. 10

Spalte:

593-596

Autor/Hrsg.:

Fendt, Leonhard

Titel/Untertitel:

Die Theologie des jungen Zinzendorf 1954

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593 Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 10 594

Die Theologie des jungen Zinzendorf1

Von Leonhard Fendt, Augsburg

Aalen beabsichtigte, insonderheit den gereiften Zinzendorf
zu behandeln, und hier speziell die Linie, welche von
ihm etwa zu Schleiermacher führt. Die Arbeit an diesem Fragenkreise
überzeugte den Forscher aber, daß zu allererst die Theologie
des jungen Zinzendorf klargelegt werden müsse (1722
bis 1735). Diesem Unternehmen widmete sich Aalen schon während
des Krieges und, trotz Krankheit, in den Nachkriegsjahren,
und sein 1952 erschienenes Buch ist nun die Frucht dieser Forschung
. Es ist ein, äußerlich und innerlich, schwerwiegendes Buch,
geeignet, der Zinzendorf-Forschung an der dunkelsten Stelle Licht
und Erleuchtung zu bringen. Es ist auch ein hartes Buch, von
einem „harten" Lutheraner geschrieben, dessen Maß-Stab dem
jungen Zinzendorf gegenüber der ,,Altprotestantismus" des Satzes
vom „simul iustus et peccator" bleibt und keinesfalls ganz
oder auch nur gelegentlich mit ,,neuprotestantischen" Maß-Bändern
aus Papier vertauscht wird. Man erwarte nun aber kein
,,Gewissenshenker"-Buch (um einen Ausdruck Zinzendorfs hier
einzumischen), sondern eine ruhige, hellbrennende, sympathische
Studie, aus welcher auch der „Neuprotestant", erst recht der
„Herrnhuter", auch der höheren Ordnung, Entscheidendes lernen
kann (er müßte allerdings dazu auch norwegisch lernen — aber
warum soll er nicht?)

Das eigentliche Problem für Aalen ist die Frage nach dem
spiritualistisch-mystischen Einfluß, welcher in der Zeit 1722—1735
in der Entwicklung des jungen Zinzendorf dominiert. Weil die
Forschung dieser Frage zu wenig Aufmerksamkeit schenkte,
brachte sie es auch zu keinem rechten Verständnis für das geistige
Erbe, aus welchem dann der gereifte Zinzendorf Leben und Theologie
speiste. Die der Brüdergemeinde angehörigen oder ihr nahestehenden
Forscher waren zu apologetisch eingestellt, um besonderes
Gewicht auf das spiritualistisch-mystische Erbe beim gereiften
Zinzendorf zu legen. (Eine Ausnahme macht Otto Utten-
dörfers Schrift von 1951: Zinzendorf und die Mystik). Die natürliche
Folge war, daß man (wie Plitt) die Merkwürdigkeit der
vierziger Jahre („Sichtungszeit") als Krankheitserscheinung, als
„krankhafte Verbildungen" der „ursprünglich gesunden Lehre"
Zinzendorfs hinstellen mußte — statt (wie Kolbing) diese Jahre
als die „theologische Blütezeit" Zinzendorfs, nämlich als „die
extremste Ausgestaltung einer charakteristischen Eigenschaft des
gesamten theologischen Denkens des Grafen" zu erkennen, aus
dem spiritualistisch-mystischen Erbe der Jugend (Aalen). Daß
Pfister die vierziger Jahre, besonders die „Ehe-Religion" Zinzendorfs
, psychoanalytisch untersuchte, war naheliegend; das Resultat
gibt aber nur Aufschluß über die psychologischen Elemente,
nicht über das Dirigcns — und auf dieses kommt es an.

Anderseits verfiel die Zinzendorf-Forschung immer wieder
auf den Gedanken, Zinzendorf habe das Luthertum erneuern wollen
, deshalb mußte bei ihm eine Abkehr von der Mystik (als
einem Fremdclement im jungen Zinzendorf) für später statuiert
werden. Aalen zeigt, daß die spiritualistisch-mystische Seite des
jungen Zinzendorf kein Fremdelement, sondern eine immer gepflegte
Teilhabe an der geistigen und geistlichen Zeitwelle war.
Der geistige Gärungsprozeß jener Zeiten ist darum Aalens (wie
Uttendörfers) Ausgangspunkt: in diesem Gärungsprozeß stand
der junge Zinzendorf, ja er war in starker Weise ihr Exponent.
Diese spiritualistisch-mystische Zeitgärung und Gärung des jungen
Zinzendorf unterzieht Aalen (im Gegensatz zu LIttcndörfer) einer
..systematischen Strukturanalyse". Dabei stützt er sich dogmengeschichtlich
auf Anders Nygren („Den kristna kärlekstanken ge-
nom tiderna"), der die augustinischc Metaphysik in ihrer Struktur
darlegt (Aalen will aber sonst mit der Lunder Theologie nicht
verwechselt werden!). Systematisch hat Aalens Kritik der Zin-
zendorf-Theologie ihre wesentliche Voraussetzung in der prinzipiellen
Entgegensetzung von augustinischcr „Natur- und Gnade
"- Problematik - und „evangelischer Lehre von Gesetz und
Evangelium". Augustins Metaphysik erhält das Kennwort:
..Strukturelle Kontinuität zwischen Natur und Gnade"; die Er-

') Aalen, Lciv. Den unge Zinzendorfs tcologi. Oslo: Lutherstifteisens
forlag, 1952. 36e> S„ gr. 8°. nkr. 23.—.

lösung durch Christus wird hier zur Erfüllung des der menschlichen
Natur einwohnenden Bedürfnisses nach dem höchsten Gut.
Die „evangelische Lehre" hingegen geht davon aus, daß die
menschliche Natur ganz und gar unter dem Gericht des „Gesetzes
" steht, und darum auch in ihren höchsten Formen keinerlei
„Anknüpfungspunkte" für das „Evangelium" hat. Von hier aus
gesehen, so argumentiert Aalen, sei die „neuprotestantische"
Entwicklung, die mit der mystischen Renaissance seit 1700 beginne
, unvereinbar mit dem „Evangelium". Nur weil LIttcndörfer
wesentlich als „Neuprotestant" urteile, nur deshalb komme er
zu seiner These, es sei das positive Resultat des theologischen
Ansatzes Zinzendorfs die Synthese von Mystik und
Luthertum. Nullo modo! Nun, Aalen ist nicht Neuprotestant
, Aalen bleibt vielmehr bei den altluthcrischen Voraussetzungen
, und so wird ihm klar: Uttendörfers „Resultat" bedeutet
die Auflösung des evangelischen Sola fide,
dessen klassischer Ausdruck „Simul iustus et peccator" heiße.

So erkennt Aalen: Der junge Zinzendorf hat die augusti-
nische Metaphysik zur Christentums-Deutung benützt in dem
Sinne: Die Christus-Offenbarung dient dazu, den menschlichen
Glückseligkeitsdrang zu befriedigen; der Glückseligkeitsdrang ist
das religiöse Grundbedürfnis der menschlichen Natur; das heißt
aber für den jungen Zinzendorf: Entsprechung von Natur und
Gnade (während es „evangelisch" so steht: Gegensatz zwischen
Sünde und Gnade!). Zinzendorf redet gewiß auch von Sünde und
Gnade; aber er sucht von der durch die Sünde verderbten Natur
des Menschen zu dem zurückzukommen, was er „die eigentliche
Natur" nennt. Diese „eigentliche Natur" steht in einer „freien
Dienstbarkeit und dienstlichen Freiheit" Gott gegenüber; Gott
hält hier als das höchste Gut die erlösende Balance zwischen Freiheit
und Abhängigkeit — die rechte Abhängigkeit lebt aber im
„Gemüt" des Menschen — diese „Hingegebenheit" trägt darum
emotionelle Züge — das Wesen des Christentums liegt also in
dem emotionellen Kontakt der Brautmystik mit dem göttlichen
höchsten Gut — die Brautmystik aber schließt die Passionsmystik
ein, weil Christus, „der Mensch der Gnade", mit seiner Passion
zusammengehört — und die Passion Christi ist zu werten als jene
Liebestat, welche Gegenliebe, Christusliebe, erwecken soll —
Christus als der Bräutigam der Seele wird sichtbar — der Eros soll
in dieser Sphäre freilich zur Caritas „sublimiert" werden, aber
damit kommt eben etwas vom Eros grundlegend in Zinzendorfs
Christentum — sogar die Wesenstrinität ist „Familie", ist Vater,
Mutter, Sohn (d. h. der Geist ist Mutter) — so ersteht die herrn-
hutische Ehe-Ethik, auch die ausgefallene, so aber auch die herrn-
hutische Gemeinde-Organisation — wobei aber stark anzumerken
ist, daß Zinzendorf das asketisch-mystische Lebensideal und den
Berufungs- und Berufsgedanken pflegt, nicht etwa den Quietis-
mus (dessen Apologet vielmehr Fenelon war!). Es ist beinahe
erschreckend, wie dies alles (und noch etwas mehr) aus der spiritualistisch
-mystischen Grundlage mit ihrer augustinischen Erbschaft
folgt. Die Fruchtbarkeit der augustinischen Metaphysik
war nach Aalen enorm — wohlgemerkt: als sie auf Zinzendorf
und sein Christentum traf!

Wie kommt aber Zinzendorf zur augustinischen Metaphysik
und zu solcher Ausnützung dieser seiner Besitznahme? Hier stehen
wir an der Brunnenstube der Aalenschen Ausführungen. Ein
direktes Studium Augustins sei bei Zinzendorf nur ganz minimal
anzunehmen. Aber alles Licht wirft Aalen auf die mit Zinzendorf
gleichzeitige Mystik in den spiritualistischen Kreisen: dort
lebte eine protestantisch gewendete augustinische Tradition (und
zugleich ein Gegensatz zum orthodoxen Luthertum der Zeit).
Hierher gehörte auch der konservative Pietismus und die beginnende
Aufklärung; Boehmcsche Tradition; die philadclphische
Bewegung; der katholische Quietismus. Mit ihnen und anderen
„Spiritualisten" hatte der junge Zinzendorf Kontakt — ohne
doch weder ein Mann Bochmcs noch ein Katholik zu sein; nicht
einmal ein wirklicher Pietist blieb er und ein wirklicher Aufklärer
wurde er nie, aber immer war und blieb er jener Christ Zinzendorf
, der mit den geistigen und geistlichen Dynameis seiner