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Ausgabe:

1954 Nr. 9

Spalte:

533-542

Autor/Hrsg.:

Janssen, Karl

Titel/Untertitel:

Zur gegenwärtigen Situation der Seelsorge 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 9

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lutherische Kirche, die als Sonntagsgottesdienst die (gereinigte!)
Messe von der katholischen Kirche übernommen hatte, verzichtete
von vornherein darauf, die Beteiligung aller in der Kirche
Versammelten an der Abendmahlsfeier zu fordern. Wie in der
römischen Kirche rechnete man mit dem regelmäßigen Kirchgang
und dem seltenen Abendmahlsgang. Eine Abendmahlsfeier ohne
Kommunikanten, in der nur der Liturg Brot und Wein zu sich
nimmt, war zwar nicht mehr gestattet; deshalb mußten auch die
Agenden den Wegfall des Sakraments vorsehen für den Fall, daß
keine Kommunikanten vorhanden waren. Aber es genügte ein
kleines Häuflein von Abendmahlsgästen, die sich aus der großen
Sdiar der Predigthörer herauslösten und im Chor die Abend-
mahlsgemeindc bildeten, um die Sakramentsfeier zu ermöglichen.
Luther hat (vergeblich) versucht, dem Abendmahlsgang der Wenigen
in Gegenwart der großen Gemeinde einen Sinn abzugewinnen
: Die Kommunikanten, meint er, sollen dadurch vor der
Gemeinde ein Bekenntnis ablegen: „hujus communio caenae est
pars confessionis, qua coram deo, angclis et hominibus sese con-
fitentur ese Christianos" Luther hat nicht einmal in Wittenberg
durchsetzen können, daß diejenigen, die nicht kommunizierten,
bis zum Ende des Gottesdienstes blieben. W. Meuslin (Musculus)
berichtet über den Gottesdienst, an dem er am Sonntag Exaudi
1536 teilgenommen hat: „Post concionem major pars populi abi-
vit"5. Und so ist es geblieben bis zum heutigen Tage.

e.) In der alten Kirche wurden am Ende des ersten Teiles
des Gottesdienstes die Ungetauften (die Außenstehenden und
die Katechumcnen) ausdrücklich entlassen, weil sie am Abendmahl
nicht teilnehmen durften. Heute verlassen viele getaufte
Gemeindeglieder nach der Predigt die Kirche, weil sie am
Abendmahl nicht teilnehmen wollen. Dadurch wird der Gottesdienst
gestört und das Abendmahl zu einer Winkelsache, zu
einem „Anhängsel" herabgewürdigt. Oft kann sogar aus Mangel
an Kommunikanten das Abendmahl gar nicht gefeiert werden,
obgleich die Vorbereitungen dazu getroffen worden sind. Diesen
Übelständen hat man auf verschiedene Weise zu wehren versucht:

1. Der Predigtgottesdienst wird vom Abendmahlsgottesdienst
getrennt, der Predigtgottesdienst am Morgen, der Abendmahlgottesdienst
am Abend gehalten. Gegen diese Lösung, bei
der man sich auf das Vorbild der Urgemeinde berufen kann, wäre
nichts einzuwenden, wenn der Abendmahlsgottesdienst ebenso
regelmäßig, Sonntag für Sonntag, stattfände wie der Predigtgottesdienst
. Tatsächlich aber hat die Trennung in lutherischen, wie
in reformierten Gemeinden zu einer Verringerung der Abendmahlsfeiern
geführt: nur an wenigen, fest bestimmten Tagen,
meist einmal im Vierteljahr, wird das Abendmahl gefeiert. Massen
-Abendmahlsfeiern finden in vielen Orten lediglich kurz nach
der Konfirmation für die Neukonfirmierten statt; und diese
Feiern werden von den treuen Kirchenbesuchern gemieden! Nur
in traditionsgebundenen, ländlichen Gemeinden sind die Abendmahlsfeiern
, die am Gründonnerstag, am Karfreitag, am Bußtag
und am „Totensonntag" gehalten werden, noch echte G e-
m e i n d e gottesdienste. Im übrigen wird der Wunsch der Gemeindeglieder
, die zum Tisch des Herren gehen möchten, durch

«) WA 12, 216.

5) Th. Kolde, Analecta Lutherana (1883) 216 ff.

Abendmahlsfeiern privaten Charakters erfüllt; diese werden auffallend
oft nicht an den Hauptgottesdienst, sondern an einen Nebengottesdienst
„angehängt". Die Erfahrung hat gelehrt, daß die
Trennung der Abendmahlsfeier vom sonntäglichen Hauptgottesdienst
zu einem erschütternden Rückgang der Kommunikantenzahlen
und (was noch viel schlimmer ist!) zu einer Bagatellisierung
und Privatisierung des Altarsakraments führt.

2. Deshalb wird heute, im Gegensatz zum 19. Jahrhundert,
dieser Weg als ein Irrweg angesehen. Stattdessen versucht man,
Predigt und Abendmahl wieder im sonntäglichen Hauptgottesdienst
miteinander zu einer nahtlosen Einheit zu verbinden. Man
findet sich mit der Tatsache ab, daß sich nur ein kleiner, oft verschwindend
kleiner Teil der Predigthörer an der Kommunion beteiligt
, versucht aber mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu
verhindern, daß die Nicht-Kommunizierenden vor dem Schlußsegen
nach Hause gehen. Diese werden außerdem ermahnt, nicht
passiv (zuschauend), sondern aktiv (singend und betend) an der
Abendmahlsfeier teilzunehmen. Aber man täusche sich nicht:
Was Luther nicht erreicht hat, werden wir auf die Dauer, aufs
Ganze gesehen, erst recht nicht erreichen, solange unsere Kirche
eine Volkskirche, d. h. eine Kirche für das Volk, eine Kirche
mit weit geöffneten Türen sein und bleiben will. Für uns Lutheraner
ist das Sakrament kein opus operatum, das wir denen „zuwenden
" können, die es nicht selbst empfangen. Wir können es
daher nicht empfehlen, „geistlich zu kommunizieren", wie es, seit
den Tagen der Gotik", die römische Kirche tut.

f.) Da wir aber keinen Predigthörer zur Teilnahme am Abendmahl
zwingen dürfen, ihn nur im Namen Christi dazu einladen
können, ist es das einzig Richtige, die urchristliche Entlassung
wieder einzuführen oder, wo sie schon geübt wird, zu legitimieren
: Wer aus inneren oder äußeren Gründen nicht kommunizieren
will, soll die Gelegenheit haben, nach der Predigt heim
zu gehen. Streng genommen, macht er sich selbst dadurch zum
Katechumenen, der auch das Credo nicht mitbekennen und die
oratio fidelium nicht mitbeten kann. Aber hier werden wir die
anderen Voraussetzungen, unter denen wir in der „Volkskirche"
leben, berücksichtigen müssen. Deshalb ist es ratsam, die Entlassung
erst nach dem Credo und der oratio fidelium stattfinden
zu lassen, da es sich ja um getaufte Gemeindeglieder handelt7.

Die hier vorgeschlagene Lösung ist ohne Zweifel eine Notlösung
, die die Armut unserer Kirche offenbar macht, aber es ist
bestimmt nicht gut, liturgische Reformen auf Illusionen zu gründen
. Und wenn Gott der Predigt des Evangeliums Kraft und Seiner
Kirche neues Leben schenkt, dann wird die Zahl der Weggehenden
immer kleiner werden, zuletzt aber jeder getaufte Hörer
des Wortes ungezwungen und dankbar das Testament des Herren
empfangen, wie es zur Zeit der Apostel der Fall gewesen ist.

") Vgl. W. Stählin, Die Gesch. des christl. Gottesdienstes (LEI-
TURGIA I, 51).

7) Es ist selbstverständlich, daß die Predigthörer, die nicht am
Hl. Abendmahl teilnehmen, mit dem Segen (Num. 6, 24 ff.) entlassen
werden, woran sich der Gesang des Da-pacem (EKG 139) anschließen
kann. Ein kurzes Zwischenspiel der Orgel ermöglicht es den Weggehenden
, die im hinteren Teil des Schiffes ihre Plätze gehabt haben, ohne
Störung der Abendmahlsgemeinde die Kirche zu verlassen.

Zur gegenwärtigen i

Von Karl J a

Es gehört zu den auffallendsten Kennzeichen der gegenwärtigen
kirchlichen Situation, daß jede Frage der Seelsorge einer
lebhaften öffentlichen Anteilnahme sicher sein kann. Dies hat
sich in der auffallend starken Beteiligung der Tagespresse an der
Diskussion über die Fragen der Wiedertrauung Geschiedener und
der Privatbeichte überraschend deutlich gezeigt. Beide Fragen
führten zu einer lebhaften Diskussion in der breiten Öffentlichkeit
. Es wird weiter als auffallend gelten dürfen, daß sich in der
Tagcslitcratur ein auffallend starkes Interesse an der kirchlichen
Seelsorge bekundet1. Dabei fällt auf, daß nicht ganz selten bei

') Z.B. Peter Bamm: die unsichtbare Flagge, 1952, S. 20 ff., 102;
CurtHohoff: Woina, Woina. Russisches Tagebuch, 1951, S. 175 f.

tuation der Seelsorge

s s e n, Münster

diesen Versuchen der Gesichtspunkt hervortritt, daß die Solidarität
der Ratlosigkeit und die bedingungslose Gemeinschaft des
Seelsorgers mit dem ihm anvertrauten Menschen entscheidend
sei2. Man darf diese Äußerungen also nicht etwa einfach als Ja
zur seelsorgerlichen Führung ansehen, so stark ein solches Ja auch
gelegentlich hervortritt3. Das Verlangen nach der echten zwi-

s) Ich verweise auf eine dichterische Reportage über Stalingrad, in
der es heißt: „Pfarrer Kroog war hilflos (gegenüber dem zum Tode
Verurteilten) und fand keine Worte, keinen Trost, der hier gar nicht
erwartet wurde; er murmelte irgend etwas..."

3) Z.B. bei Peter Bamm, a.a.O. S. 22: „Ein Chirurg hat guten
Grund, den Pfarrer zu schätzen. Wo der Chirurg, der Menschen Diener,