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Ausgabe:

1954 Nr. 9

Spalte:

531-534

Autor/Hrsg.:

Hertzsch, Erich

Titel/Untertitel:

Das Problem der Entlassung im evangelischen Gottesdienst 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 9

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Opfergedankens im Abendmahl in einer Gestalt, die über die
Opfer des Dankes hinaus mit einer menschlichen Wirkungsmöglichkeit
auf Gott rechnet.

Ich weise zum Schluß nur eben hin auf die Bedeutung des
Rechtfertigungsartikels für die liturgischen Aufgaben der Zukunft
, an deren Aufweis auch eine wissenschaftliche Liturgik
nicht vorübergehen kann. Ich sagte schon, daß vom Rechtfertigungsglauben
her ein Absolutsetzen liturgischer Formen, sei es
neuer Gottesdienstordnungen oder einzelner liturgischer Gestaltungsmittel
wie heute etwa der Gregorianik nicht mehr möglich
ist. Es wird infolgedessen ein wirkliches Miteinanderar-
b e i t e n an der Gestaltung des lutherischen Gottesdienstes und
ein Weiterbauen auf der gottesdienstlichen Tradition möglich
werden, d. h. dann zugleich eine Gestalt liturgischer Arbeit, die
schonende Rücksicht auf die Gemeinden kennt und doch sich
nicht von gemeindlicher Gewöhnung knechten läßt, da sie ja nur
zu deren Heil neue Formen erstrebt. Zugleich wird alle unsere
Arbeit am Gottesdienst uns Lutheranern zu keiner Zeit das gute
Gewissen vor Gott geben können, mit dem wir sie zu irgendeinem
Zeitpunkt als vollendet erachten könnten.

Absolut setzen wird liturgische Arbeit auf Grund des ,,Sola
fide" nur eines: die Gnadenmittel, Wort und Sakramente. Daß sie
sich wieder in ihrer Fülle, und das bedeutet in ihrer gottgegebenen
Verbundenheit im lutherischen Gottesdienst entfalten, darin
werden wir die entscheidende Aufgabe erkennen, deren Bedeutung
wie Gestaltung wir vor den künftigen Amtsträgern der
Kirche immer wieder entfalten müssen. —

Erst wenn es wirklich zu einer zentralen Aufgabe in der
Praktischen Theologie wird, lutherische Liturgik in dieser Weise
zu einer Normen setzenden Disziplin auszubauen und als solche
zu lehren, was andere Konfessionen nach ihren Prinzipien tun
mögen, dann wird die entscheidende Mitte des geistlichen Amtes
nicht immer wieder hinter der Fülle anderweitiger Ansprüche der
pfarramtlichen Praxis zurückgedrängt werden. Lutherische Liturgik
, durchdrungen von der Heilsbedeutung des Gottesdienstes
(gemäß Augustana Art. V)5, wird vielmehr die entscheidende
Zeit, Kraft und Hingabe des Pfarrers für dessen gottesdienstliches
Handeln beanspruchen müssen; denn wie die Pommersche Kirchenordnung
von 1569 erklärt:

„Wente de allmechtige godt erholt sine diristlike kercke up erden
dordi dat öffentlicke ministcrium edder kerdicnamt in vorsamling der
gemeine, dordi lere unde predige des evangelii, dorch vorrekinge der
hodiwerdigcn sacramente unde administreringe der hiligen gödtliken
kercken emptere, dordi diristlike gesenge, gebet, ceremonien unde der
geliken ... So wil ock godt de herre also dordi uns minschen in vor-
samlinge der gemeine geehret, angebedet, gelavet unde gepriset sin . . .
Wor also das gödtlike Wort geprediget, gesungen, gelesen, gebedet
wert, dar is godt de herre mit sinen hiligen engein jegenwerdich unde
kreftich, dat wi mit allen engein unde utcrwclden gades, dem namen
des herrn loffsingen, darto werket de söne gades dordi sin wort unde
godtselige gesenge in der gelövigen herten, alse Christus spreckt: Wor
twe edder dre in minem namen vorsamlet sint, dar bin ick midden mank
en. Item, wat se bidden, dat schal gescheen, Matthei 18"6.

6) „Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium do-
cendi evangelii et porrigendi sacramenta".
6) Sehling KO IV, S. 434. -

Das Problem der Entlassung

Von Erich H e

Das Hauptanliegen der Gottesdienstreform in evangelischlutherischen
Gemeinden ist die Erneuerung der evangelischen
Messe: Predigt und Herrenmahl sollen wieder im sonntäglichen
Hauptgottesdienst miteinander verbunden sein. Dies Ziel läßt
sich aber nur in theologisch gut begründeter Weise erreichen,
wenn nach dem Vorbild der alten Kirche vor dem eucharistischen
Hochgebet alle entlassen werden, die nicht an der Kommunion
teilnehmen wollen.

Diese These zu begründen ist der Sinn der folgenden Ausführungen
:

a. ) In der alten Kirche wurde bekanntlich zwischen Getauften
, Katechumenen und Außenstehenden scharf geschieden: Nur
die Gläubigen, nur die Getauften durften am Herrenmahl teilnehmen
; alle anderen wurden zwar zur Predigt, mit Einschränkung
auch zum gemeinsamen Gebet zugelassen, aber vor dem
Beginn der Sakranicntsfeier entlassen: ,"Oaoi xuD/xov/ievoi, ngo-
iX&sic/" Die Türen wurden geschlossen und bewacht, so daß kein
Ungläubiger hereinkommen, aber auch kein Gläubiger vorzeitig
weggehen konnte1. „Tie övgas, lüg &v(jas!" ruft (in der Chryso-
stomos-Liturgie) der Diakon noch einmal, ehe das Glaubensbekenntnis
gesprochen wird2. Besonders streng wurde in der Zeit
der „Arkandisziplin", im vierten Jahrhundert, darauf geachtet,
daß kein Uneingeweihter an den Geheimnissen (/wort/ota, sacramenta
) der Kirche teilnehmen konnte. Und zu diesen Geheimnissen
gehörte nicht nur die Feier der Taufe und des Herrenmahles,
sondern auch das Bekenntnis des Symbols und das Gebet des Va-
ter-unsers.

b. ) Als die „Arkandisziplin" aufgegeben worden war und
als die Kindertaufe sich überall durchgesetzt hatte, gab es keine
Katechumenen (im alten Sinne des Wortes) mehr. Ganze Völker
folgten dem Beispiel ihrer Herzöge oder Könige und wurden
christlich; alt und jung, vornehm und gering, ausnahmslos und
ohne Unterschied ließen sich alle mit ihren Kindern taufen. In
der Ostkirche behielt man die Entlassung der Katechumenen
trotzdem bei, aber sie war praktisch bedeutungslos geworden. Im
Abendland verschwand sie ganz, obwohl sie dem Gottesdienst,

im evangelischen Gottesdienst

r t z s c h, Jena

der Missa, den Namen gegeben hatte. Nur ganz am Schluß blieb
das: „Itel missa est!", das allen gilt.

c. ) Aber nun kam die eigenartige und eigentlich unverständliche
Unsitte auf, daß nicht mehr alle Getauften, die in der
Kirche zusammengekommen waren, am Herrenmahl teilnahmen,
„kommunizierten". Nur ein Teil der Gemeinde ging zum Tisch
des Herrn. Je größer die Kluft zwischen Priestern und Laien
wurde, desto seltener empfing der Laie das Sakrament, während
der Priester es sonntäglich, ja täglich nahm. Je mehr der Tisch
des Herrn (mensa) zum Altar (ara) wurde, d. h. je mehr sich der
Accent verschob und nicht die Gemeinschaft (communio), sondern
das Opfer (sacrificium, ex opere operato efficax) betont
wurde, desto weniger wichtig war es, sich am gemeinsamen Mahle
zu beteiligen, wenn man nur dafür sorgte, sich den Segen der Opferhandlung
anzueignen, was auch auf andere Weise geschehen
konnte: Es genügte, die Messe zu hören und dabei die ele-
vierte Hostie zu sehen. Die Hostie in der Monstranz andächtig
zu verehren, galt als hilfreich und heilsam, auch wenn es außerhalb
des Gottesdienstes der Gemeinde geschah.

Zuerst haben Synoden diese Unsitte zu verbieten, zu beseitigen
versucht. Aber die Wandlung des sacramentum zum sacrificium
ließ die Kritik an der Selbstexkommunikation des größten
Teils der Gemeinde verstummen. Es ist kein Zufall, daß auf
demselben vierten Lateran-Konzil (1215) die Lehre von der
Transsubstantiation verkündet und die Anordnung gegeben worden
ist, daß jeder Gläubige einmal im Jahr zur Kommunion
gehen solle. Auch heute noch fordert das „Gebot der Kirche",
daß jeder Katholik an jedem Sonn- und Festtag zur Messe
kommt; aber es genügt durchaus, wenn er einmal im Jahr die
Hostie empfängt3.

d. ) Die reformierten Gemeinden kennen das Problem der
Entlassung nicht, weil sie die Messe abgeschafft haben: Der rege''
mäßige Sonntagsgottesdienst ist öffentlicher Predigtgottesdienst.
Wenn, in der Regel viermal im Jahr, das Heilige Abendmahl gefeiert
wird, dann wird erwartet, daß nur getaufte und konfirmierte
Gemeindeglieder zur Kirche kommen und daß alle Gottesdienstbesucher
als Kommunikanten am Abendmahl teilnehmen. Die

') Apost. Konstitutionen VIII, 11, 10.
*) Brightman, Liturgies eastern 383.

8) CJC can. 859, §1 (Mirbt, Quellen.. .'547).