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Ausgabe:

1954 Nr. 9

Spalte:

519-526

Autor/Hrsg.:

Beckmann, Joachim

Titel/Untertitel:

Die Aufgabe einer Theologie des Gottesdienstes 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 9

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kirchlichen Praxis, die die Kirche legitimerweise von der theologischen
Ausbildung verlangen kann, wird naturgemäß zunächst
von der Praktischen Theologie erwartet, die hier einfach zur Sammelstelle
für die Beschwerden der kirchlichen Öffentlichkeit gegen
die theologische Ausbildung wird. Sie steht hier stellvertretend
für die Gesamttheologie. So gewiß diese nun erwarten darf,
daß die Praktische Theologie auf die Bedürfnisse der Kirche
nicht spezialistisch, sondern theologisch, im Rahmen der
wissenschaftlich-theologischen Gesamtverantwortung und unter
voller Berücksichtigung der Strukturprobleme der Gesamttheologie
eingeht, so sicher muß nun auch die Praktische Theologie
von den anderen Disziplinen erwarten dürfen, daß der stellvertretende
Dienst, zu dem sie hier unabweisbar gefordert ist, als
solcher anerkannt und nicht von vornherein durch blinden Widerstand
oder durch Pochen auf die jeweilige Fachtradition unmöglich
gemacht wird.

Hier schlägt das Strukturproblem der Praktischen Theologie,
das uns beschäftigt hat, nun allerdings in das menschliche Problem
des Verstehens und der Verständigungsbereitschaft um und kann
ohne die entschlossene Anerkennung dieser Dialektik gar nicht
gelöst werden. Die Sonderprobleme der Praktischen Theologie
dürfen nicht zu einer Zerstörung des Gesamtgefüges der wissenschaftlichen
Theologie führen, aber es muß eingesehen werden,
daß der Prozeß der Integration der Praktischen Theologie auch
gewisse Konsequenzen für die Struktur der Gesamttheologie hat,
die doch wohl auch heute noch entscheidend vom Historismus her
bestimmt ist. Und hier wird alle fruchtbare Weiterentwicklung
vom Willen zu gegenseitiger Verständigung aller theologischen
Disziplinen, ja von der Bereitschaft zum Opfer abhängig sein. Das
sei in aller Kürze am Beispiel erläutert. Die Praktischen Theologen
aller Fakultäten der DDR sind sich in einer Arbeitsbesprechung
am 3. 7. 1952 in Berlin darin einig geworden, daß „die
gegenwärtige Ausbildung sowohl unter dem theologisch-wissenschaftlichen
wie unter dem kirchlichen Gesichtspunkt schwere

Mängel aufweist", die in einer „wissenschaftlich verantwortbaren
und die Praxis genügend fundierenden Weise" nur beseitigt werden
können, wenn in dem für die DDR Fakultäten aufgestellten
Studienplan der Praktischen Theologie an Stelle von insgesamt
18, bezw. mit der Missionswissenschaft 20 Semesterwochenstun-
den 24 bzw. 26 eingeräumt werden. Damit wäre für die Praktische
Theologie dieselbe Stundenzahl 26 erreicht wie für die systematische
Theologie, — in einem Plan, der für Altes Testament und
Kirchengeschichte je 30 und für Neues Testament 31 Stunden —
außer insgesamt 24 Sprachstunden — vorsieht. Dabei wäre diese
Erhöhung der praktisch-theologischen Stundenzahl ohne Mehrbelastung
der Studenten und ohne Verzichte von Seiten der anderen
theologischen Disziplinen durch entsprechende Herabsetzung
der Pflichtstundenzahl für die gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung
, die übrigens unterdessen eingetreten ist, möglich. Es handelt
sich hier also um die mildeste Form einer Strukturänderung,
die denkbar ist. Dieser Vorschlag mag hier unter voller Offenheit
für sachlich etwa notwendige Abwandlungen nur die theologischmoralische
Dialektik beleuchten, unter der das Problem einer Reform
des Theologiestudiums unter allen Umständen steht. Ob
sich hier weiterhin noch etwas begibt, ist nicht mehr nur eine
Frage der Einsicht, sondern der Verständigungsbereitschaft und
der Willigkeit zum Opfer. „Laßt uns rechtschaffen sein in der
Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist,
Christus . . ." Es geht nun vollends in der eingreifenderen Form
der Herabsetzung der Gesamtstundenzahl, in der dann wirkliche
Opfer nötig werden, unter allen Umständen um ein Problem zugleich
der Erkenntnis und der Haltung, und es wird zum Segen
für Theologie und Kirche nur dann, aber dann auch wirklich, gelöst
werden können, wenn alle Beteiligten sich in neuer Weise
davon ergreifen lassen und davon Gebrauch machen, daß nach Luthers
nicht nur die Praktische Theologie verpflichtenden Definition
„die wahre rechtschaffene Theologia steht in der Praktiken,
Brauch und Übung". Hic Rhodus, hic salta/

Die Aufgabe einer Theologie des Gottesdienstes

Von Joachim Beckmann, Düsseldorf

1. Die Frage, was die Liturgik sei, hat in der evangelischen
Theologie weder eine einhellige noch eine theologisch befriedigende
Antwort gefunden.

Liturgik als eine wissenschaftliche Bemühung um die Fragen
des Gottesdienstes gibt es vor dem 18. Jahrhundert kaum. Es ist
nicht zufällig, daß die Theologie der Aufklärung sich eigentlich
zuerst ausführlicher mit liturgischen Fragen befaßt, während die
Orthodoxie offenbar hierfür kaum ein wesentliches Interesse
spüren läßt. Nach den theologischen und praktischen Entscheidungen
der Reformation über den Gottesdienst kam es erst im
Zusammenhang der reformfreudigen Aufklärung zur theologischen
Betrachtung des Gottesdienstes als der „Gottesverehrung" der
vernünftigen christlichen Gesellschaft. Der „Kultus" der Protestanten
wird von der unverständlich gewordenen reformatorischen
Überlieferung gereinigt mit der Begründung einer religiösen Verbesserung
christlicher Andacht aus dem Geist eines vernunftgemäßen
Christentums. Der Pietismus nahm — von Herrnhut abgesehen
— an der Erörterung liturgischer Fragen keinen Anteil, da
der Bereich des öffentlichen Gottesdienstes der Kirche außerhalb
seiner Intentionen lag. Erst die große theologische Wende
zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit der Romantik
bringt für die evangelische Kirche eine umfassende und gründliche
Beschäftigung mit den gottesdienstlichen Fragen. Jetzt
kommt es zu einer protestantischen Liturgik.

Freilich ist diese Liturgik in einer eigentümlichen Verlegenheit
, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer theologischen Begründung
, wie ihrer Methode und auch ihres Stoffgebietes
. Der Nachweis läßt sich aus den zahlreichen Liturgiken des
19. Jahrhunderts leicht erbringen. Als Beispiel diene die ausführlichste
, den Ertrag des Jahrhunderts zusammenfassende Liturgik
von Georg Rietschel, die von Paul Graff fünfzig Jahre nach ihrem
Erscheinen in zweiter Auflage herausgegeben wurde1. Dies ge-

*) Georg Rietschel, Lehrbuch der Liturgik, 2 Bände, Berlin 1900

Otto Schmitz zum 70. Geburtstag

lehrte Werk ist theologisch ausgesprochen schwach, so stark es im
Historischen ist. Es breitet eine ungeheure Stoffmasse aus, aber ihm
fehlt eine gründliche theologische Besinnung und darum ist es
trotz allem, was man daraus lernen kann, kein rechtes „Lehrbuch
der Liturgik". In dieser Hinsicht finden sich bei den alten Erlanger
Liturgikern und auch bei E. Chr. Achelis2 bessere Ansätze. Dagegen
sind die liturgischen Abschnitte der zahlreichen Lehrbücher
der Praktischen Theologie bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts
gerade im Blick auf die theologischen Fragen äußerst
schmal. Worin liegt diese Behandlung der Liturgik begründet?
2. Der Ursprung der Verlegenheit in der protestantischen Liturgik
ist in der Einordnung der Liturgik in das von Schleiermacher
und Nitsch inaugurierte System der Praktischen Theologie
zu erblicken. Die Idee dieser Praktischen Theologie
gründet in einer in sich selbst ruhenden Ekklesiologie, bzw.
in einem philosophischen Verständnis des Christentums als
Religion.

Die Liturgik des 19. Jahrhunderts versteht sich als eine Disziplin
der „Praktischen Theologie". Bis heute ist daran festgehalten
, als ob es selbstverständlich wäre, Liturgik mit Homiletik
und anderen Disziplinen unter der Idee der Praktischen Theologie
zusammenzufassen. Hier erhebt sich aber unsere Frage, und zwar
in doppelter Richtung. Erstens ist die Idee der Praktischen Theologie
in ihrer von Schleiermacher maßgebend dargebotenen Fassung
auf ihre theologische Berechtigung zu befragen. Die hier
zugrunde liegende Konzeption des Christentums ist inzwischen i"
der dogmatischen Arbeit seit dem Ausgang des ersten Weltkrieges
überwunden. Es wird darum erforderlich sein, die Struktur
der Praktischen Theologie, die immer noch von einem religionsphilosophischen
Begriff des Christentums bzw. der Kirche be-

und 1909; 2. Auflage, herausgegeben von Paul Graff, Göttingen 1951-
2) E. Chr. Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, 3. Auf -'
3 Bände, Leipzig 1911.