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Ausgabe:

1954

Spalte:

461-464

Autor/Hrsg.:

Schott, Erdmann

Titel/Untertitel:

Ist das Kirchenrecht eine Funktion des Kirchenbegriffs? 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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betont, daß der Begriff des Erlaubten, weil er ein zwischen Verbot
und Gebot liegendes Gebiet des frei Gegebenen bezeichnet,
im Grunde die Hetcronomie voraussetzt. Doch ist das nur bedingt
richtig. Genau besehen ist hierin der christliche Freiheitsgedanke
lebendig, der ja nicht eine an sich bestehende Freiheit,
sondern eine uns zugestandene, uns eingeräumte Freiheit meint.
Alle aus der Situation sich ergebenden Einschränkungen dieser
Freiheit aber deuten nicht auf eine neue Gesetzlichkeit hin, sondern
darauf, daß im Gebiete der Freiheit und unter Wahrung der
Freiheit, die uns gegeben ist, eine von Gott gesetzte Ordnung
in unseren Lebensbezügen und Handlungen zu Ehren gebracht
werden soll. Es ist die Aufgabe der evangelischen Ethik, ihren
| Charakter als autonome Ethik gegen alle Gesetzlichkeit zu schüt-
| zen und zugleich zu fragen, nach welchen Regeln das christliche
I Leben gestaltet werden muß, ohne doch aufzuhören, das Leben
[ der freien Kinder Gottes zu sein.

Ist das Kirchenrecht eine Funktion des Kirchenbegriffs?

Von Erdmann Schott, Halle

Katholische Forscher haben bei allem Gegensatz, in dem sie
sich zu Rudolph Sohm befinden, an diesem doch die Einsicht gerühmt
, „daß das Kirchcnrccht eine Funktion des vorausgesetzten
Kirchenbegriffs sei". Sohm habe „seine historische Kritik des Kirchenrechts
von der Kritik des jeweiligen Kirchenbegriffs her
durchgeführt", habe „schließlich die Berechtigung seines eigenen
Systems aus seinem Kirchenbegriff abgeleitet". In diesem methodischen
Ansatz sei ihm unbedingt zuzustimmen1. Man könnte
diese (allerdings zur Stellungnahme herausfordernden) Äußerungen
von der andern Seite des Zaunes noch auf sich beruhen lassen
, wenn sie nicht neuerdings im evangelischen Lager Schule zu
machen begännen. Herbert Wehrhahn hat sie aufgegriffen und
die Charakterisierung Sohms auf Günther Holstein ausgedehnt.
Wchrhahn schreibt: „Wie Rudolph Sohm, nimmt Günther Holstein
seinen Ausgang von dem Satze, daß das Kirchenrecht eine
Funktion des Kirchenbegriffs ist"2. Im wörtlichen Sinne dürfte W.
mit dieser Aussage nicht Recht haben; jedenfalls unterläßt er es,
eine Belegstelle bei Holstein anzuführen. Aber dem Sinne nach
hat er Holsteins mit einer breiten Erörterung des Kirchenbegriffs
einsetzende Methode treffend gekennzeichnet. Wehrhahn weist
außerdem darauf hin, daß Sohm sich mit dieser Grundthese bei
Freund und Feind im wesentlichen durchgesetzt habe, daß insbesondere
der Kirchenkampf auf beiden Seiten von der Sohmschen
Voraussetzung aus geführt worden sei. So ist es offenbar zu verstehen
, wenn er im Blick auf Wendland, Widmann, Wehrung,
Fischer, Bonhoeffer und die Bruderratsjuristen sagt: „Diese sich
auch für die .Rechts'-Geltung autark setzende ,Geistleiblichkeit'
der Kirche ist nur durch eine terminologische Nuance von der
Sohnischen Kirchcnrechtsleugnung entfernt. Sohm hatte eine
Pneumatische Matcrialordnung des Leibes Christi nie bestritten;
bestritten hatte er lediglich, daß diese abstrakten Gehens fähig
sei"n. Symptomisch ist es nach Wehrhahn, daß der Begriff „Kir-
ehenordnung" sich „in der kämpfenden Kirche schnell einbürgerte
". Man will „die Kirchenordnung als .Recht' gegenüber einseitigem
etatistischem Rechtsverständnis" sichern. Entsprechend
v°n der andern Seite Wünsch: ,, .Kirchenordnung' ist das .Nichtrecht
' der kirchlichen Genossenschaft gegenüber dem mit dem
Rechtssetzungsmonopol ausgestatteten Staate"4. Bereits Hans
Barion hatte 1931r' darauf hingewiesen, „daß zum mindesten
Sohms historische Thesen, die er in fast stereotypierter Wendung
'n seinen Schriften der .herrschenden Meinung' gegenüberstellt,
heute selbst weithin herrschende Meinung geworden sind".

Zunächst sei die Formel vom Kirchenrecht als der Funktion
des Kirchenbegriffs an dem bei Sohm vorliegenden Befunde ge-
Prüf . Sohm ist in der Kirchcnrechtswissenschaft sprichwörtlich
geworden durch seine aufreizende These von der Unvereinbarkeit
^0n Kirche und Kirchenrecht. Diese These begründet er nun in
der Tat vom Kirchenbegriff her: „Das Wesen der Kirche ist geist-
'■ch, das Wesen des Rechts ist weltlich. Das Wesen des Kirchenrechts
steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch"6. Der unausgesprochene
Obersatz der Sohmschen Schlußfolgerung lautet:

') Hans Barion, Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchen-
[f*ts. In: Recht und Staat, Heft 81, 1931, S. 13; ähnlich Joseph Klein,
^rundlegung und Grenzen des kanonischen Rechts, aO, H. 130 (1947)
5- 5- 28.

') ThR NF 18, 1910, S. 70.

5 «0. 19, 1951, 241.
) aO. S. 2423.

5 aO. S. 8.

") R. Sohm, Kirchcnrccht 1. Bd., 1892, S. 700.

Kirchenrecht muß, wenn es überhaupt sein soll, aus dem Wesen
der Kirche abgeleitet werden können, muß .Funktion des Kirchenbegriffs
' sein. Da das Wesen der Kirche geistlich, das des Rechts
weltlich ist, erweist sich die geforderte Ableitung als unmöglich,
mithin Kirchenrecht als theologisch illegitim. Die breiten ekkle-
siologischen Erörterungen Sohms, ein Novum in der Kirchenrechtswissenschaft
, dienen diesem Nachweis. Da nach römischer Anschauung
das Kirchenrecht zum Wesen der Kirche gehört, so sind
die römischen Sympathien für Sohms Problemstellung verständlich
, wenngleich die Sohmsche Lösung dort als unannehmbar und
als notwendige Folgerung aus dem natürlich abzulehnenden reformatorischen
Kirchenbegriff angesehen werden muß. Bereits
Harnack hatte polemisch auf die Verwandtschaft der Sohmschen
und der römischen Kirchenrechtsvorstellung hingewiesen, indem
er — leise persiflierend — dem Satz Sohms die Wendung gab: „das
Wesen des katholischen Kirchenrechts steht mit dem Wesen der
Kirche, wie Luther es gefaßt hat, in Widerspruch"7.

Man ist heute in der evangelischen Kirche weithin geneigt,
den Sohmschen Ansatz zu akzeptieren, allerdings in der Regel mit
der Zuversicht, das Kirchenrecht im Gegensatz zu Sohm ekkle-
siologisch begründen zu können. Teils durch historische Erwägungen
, z. B. dadurch, daß man bereits für die neutestamentliche
Zeit ein „urförmiges Recht"8 als vorhanden und wesensnotwendig
nachweisen will, teils systematisch, indem man das Kirchenrecht
als Ausformung von Glaubenstatbeständen, etwa die genossenschaftliche
Kirchenverfassung als die dem allgemeinen Prie-
stertum entsprechende Rechtsform, verstehen lehrt". Neuerdings
macht sich in der Beurteilung des historischen Befundes eine gewisse
Rückkehr zur Sohmschen Sicht bemerkbar bei H. v. Campenhausen10
. Die von vielen Forschern (z. B. von Soden, Wehrung,
Wehrhahn) an Holstein geübte Kritik bemängelt, daß sich bei
diesem die ekklesiologische Grundlegung des ersten Teils in der
Gesamtkonzeption zu wenig auswirke und er daher bei dem Dualismus
von Geistkirche und Rechtskirche und im wesentlichen bei
der Rechtfertigung der vorgefundenen Kirchenrechtssituation
ende.

Aber — so sei jetzt gefragt — ist denn der unausgesprochene
Obersatz Sohms vom Kirchenrecht als einer Funktion des Kirchenbegriffs
richtig? Die Sohmsche Aporie von der Unvereinbarkeit
von Kirche und Kirchenrecht, die noch vor einem Jahrzehnt
in Erich Förster einen sehr geistvollen Verteidiger fand, wird fast
allenthalben mehr oder weniger entschieden abgelehnt. Die gegen
Sohm gerichtete Argumentation sieht es jedoch dabei fast durchweg
auf den Untersatz (die Kirche ist geistlich, das Recht ist weltlich
) ab und wendet sich vornehmlich gegen Sohms Kirchenbegriff
oder gegen seinen Rechtsbegriff. Eine umfassende und wirklich
durchschlagende Widerlegung Sohms ist, wie eine Durchsicht der
Sohmliteratur zeigt, auf diesem Wege bisher nicht gelungen. Ist
es nicht an der Zeit, mit der Sohmkritik an einem andern Punkt
einzusetzen, nämlich bei Sohms stillschweigend vorausgesetztem
Obersatz? Gerade die stillen Voraussetzungen sind oft die systematisch
entscheidenden.

Ist es richtig, daß Kirchenrecht schon deshalb unmöglich ist,
weil Kirche geistlich und Recht weltlich ist? Sohm wendet sich

7) Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung, 1910, S. 147.

8) G.Holstein, Grundlagen, 1928, S. 59.
") So etwa Holstein aO. S. 227 f.

10) Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei
Jahrhunderten, 1953.