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Ausgabe:

1954

Spalte:

457-462

Autor/Hrsg.:

Trillhaas, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Adiaphoron 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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fen, gesehen und gesagt hat (Religionsphilosophie. Schlußwort
XII. S. 354 ff.).

Was aber ist das pro me in seinem reformatorischen Verstände
und Gebrauch? Es ist hier nicht der Ort, dies im einzelnen
zu entfalten, es mag genügen, einige Thesen Luthers aus seiner
Disputation ,,de fide" (Drews Disp. S. 11) anzuführen. Da heißt
es u. a.

These 18: Vera Fides dicit: Credo quidem filium Dei passum et
resuscitatum, sed hoc totum pro me, pro peccatis meis, de quo cer-
tus sum.

Das könnte noch verstanden werden in jenem Sinne des
,.Werturteils". Aber die darauf folgende Begründung spricht nun
eben nicht von „Entweltlichung", sondern bezieht die Tat Christi
genau auf die Welt und ihre Verlorenheit:

These 19: Est enim pro totius mundi peccatis mortuus. At certissi-
mum est, me esse partem aliquam mundi, ergo certissimum est, pro
meis q u o q u e peccatis mortuum esse.

Das pro me bezeugt meinen Daseinszusammenhang mit der
Welt und wird so zum Kennzeichen echten Glaubens:

These 24: Igitur illud, pro Me, seu pro Nobis, si creditur, facit
istam veram fidem et secernit ab omni aiia fide, quae res tantum
gestas audit.

Mit der Botschaft, daß er ,,für die Sünden der ganzen Welt"
gestorben ist und für mich als einen „Teil" dieser Welt, ist eine
Entscheidung gesetzt, ein Entweder — Oder, welches den
wahren Glauben von allen falschen Heilswegen scheidet:

These 26: Pugnant enim ista duo, Christum pro nostris peccatis
traditum satisfacere, et nos ipsos per legem a peccatis iustificari.

These 27: Aut = enim ille non est traditus pro peccatis nostris,
aut nos non iustificamur per legem a peccatis nostris.

Das aut - aut deckt zwei Wege auf, die freilich in unserem
modernen Verständnis beide in eins geflossen sind. Der eine
ist der evangelische, aus dem Glaubensgehorsam heraus ergriffene,
die Solidarität des Sünders mit der Welt bezeugende, während
der andere, der gerade von der Welt sich abhebende, personali-
stische, Gottes Tat zu einem „Heilswert" „für mich" erklärende
und damit „selbstgerechte" Weg ist. Daß aber dieses aut - aut
nicht auf die Erfahrung gegründet ist, sagt

These 28: Scriptura autem clamat, omnium nostrum peccata
in ipsum esse posita, et pro peccatis populi Dei est percussus, et livore
eius sanati sumus.

Was ist also jenes pro me der These 24, welches den falschen
vom echten Glauben unterscheidet? In diesem pro me
ergreife ich Gottes Gnadenwahl, indem ich
mich als den anerkenne und erkenne, der
ich nach Gottes in Jesus Christus offenbarten
Willen je schon bin. In seiner Geschichte ergreife
ich mich in meiner Geschichte. In diesem pro me entscheidet sich
nicht der „Rechtschaffene" für das Dasein Gottes als des Garanten
für die Realität der sittlichen Idee, sondern darin ergreife ich
die von Gott her über mich in Jesus Christus gefallene Entscheidung
. Nur unter der Voraussetzung der Gnadenwahl Gottes in
Jesus Christus ist das pro me theologisch sinnvoll. Das pro me
hat dort seinen festen Platz, wo wir die Gerechtigkeit Gottes im
Absehen von uns selbst an uns selbst gelten und wirken lassen.
Das pro me gehört ins Evangelium. Indem so der Inhalt, die
Lehre, wieder bestimmend wird für die Methode des Erkennens,
vollzieht sich die Befreiung der Dogmatik aus den Fesseln, die ihr
der erkenntnistheoretische Formalismus unter Mißbrauch des pro
me angelegt hat.

1) Bei der Durchsicht der Lehrbücher der theologischen
Ethik aus neuerer Zeit fällt es auf, daß neben manchen durch die
wissenschaftliche Tradition überlieferten Grundbegriffen der
Ethik auch der Begriff des Adiaphoron fehlt. Das gilt etwa von
der Ethik Wilhelm Herrmanns, Paul Althaus', Werner Elerts u. a.1
Es ist umso auffallender, als die evangelische Theologiegeschichte
zwei Adiaphora-Streite erlebt hat, deren erster und gewichtiger
in der FC. X zur Entscheidung gebracht worden ist, der Begriff also
durch die Bekenntnisse legitimiert und in seiner Bedeutung bestätigt
ist. Ebenso fällt es auf, daß in der neueren evangelischen
Ethik der herkömrrdiche Begriff des Adiaphoron vielfach unbesehen
durch den des erlaubten ersetzt worden ist, z. B. bei Mar-
tensen. Es müßte geprüft werden, ob diese unbesehene Gleichsetzung
zu Recht erfolgt.

Der Begriff des Adiaphoron selbst entstammt der Stoa. Er
gehört zu den vielen ethischen Grundbegriffen, die das Abendland
dieser fruchtbaren Philosophenschule des Hellenismus verdankt,
die ja auch Paulus ihre Begriffe geliehen hat. Die Ablehnung des
hier verhandelten stoischen Begriffes gilt daher auch nicht seiner
Philosophischen Herkunft, sondern geht zurück auf den Einfluß
Immanuel Kants, der in der Schrift „Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft" in der ersten Anmerkung zum
ersten Stück sagt: „Es liegt aber der Sittenlehre überhaupt viel
daran, keine moralische Mitteldinge weder in Handlungen (adiaphora
), noch in menschlichen Charakteren, solange es möglich ist.
einzuräumen: weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit alle Maximen
Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit und Festigkeit einzubüßen
...". Dieser Rigorismus Kants ist dann von ganz anderer
Seite her, durch Schleiermacher bestätigt worden, der in seiner
• ■Kritik der bisherigen Sittenlehre" und in der Akademie-Abhandlung
„Über den Begriff des Erlaubten'" gleichfalls für eine

Adiaphoron

Erneute Erwägungen eines alten Begriffs

Von W. T r i 11 h a a s, Göttingen

so totale Sittlichkeit plädiert hat, daß kein Spielraum mehr für
irgendeine Art von Indifferenz übrigbleibt.

2) Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die sehr komplizierte
Geschichte des Begriffs in der Antike darzustellen". In unserem
Sinn jedenfalls kennt die ältere Stoa den Begriff als eine
an den Dingen haftende sittliche Neutralität. Adiaphora sind
Dinge, die weder zur Eudämonie, noch zum Unheil beitragen, die
weder vorgezogen, noch ausdrücklich verabscheut werden, wobei
die Alten offenbar niemals verfehlten, Beispiele solcher Neutralität
anzuführen4. Wir haben hier, modern ausgedrückt, erste Spuren
der Wertproblematik vor uns. Es ist die Frage, ob es wertindifferente
Dinge gibt, oder ob sittliche Werte nur personaler
Art sein können. Es lohnt sich doch, diesem Begriff des Adiaphoron
in seinem primitiven frühen Stadium noch einen Augenblick
Aufmerksamkeit zu widmen; denn in der Tat ist das Adiaphoron,
dinglich verstanden, ethisch uninteressant, solange es uns nicht
irgendwie affiziert. Es war schon eine Frage der Alten, die etwa
an Zenon selbst gestellt wurde, ob die Dinge ihre LInschuld behalten
können, wenn sie in unseren sittlichen Umkreis geraten5.
Die Kritik hat wohl schon in der Antike erkannt, daß die Dinge,
wenn wir selbst mit ihnen zu tun bekommen, eben ihre Unschuld,
ihre sittliche Indifferenz verlieren. Sie haben alle einen Aufforderungscharakter
, d. h. sie üben einen Reiz im positiven oder
im negativen Sinn aus. Sie wecken Habsucht, Appetit, Durst, Ekel,
Furcht. Alle Dinge sind dazu disponiert, Gegenstände oder doch
Mittel sittlicher Handlungen zu werden. Sie werden sozusagen
durch die Berührung gut oder böse. Ja, man kann geradezu sagen,
das Adiaphoron ist das „Ding an sich" im sittlichen Betracht,
d. h. ein Gegenstand vor der sittlichen Berührung, der also noch
nicht Objekt oder Mittel des sittlichen Handelns geworden ist.

3) Bezeichnenderweise ist das Problem der Adiaphora erst

') In RGGJ s.v. mit dem „Erlaubten" gleichgesetzt; der Begriff ist
•■überhaupt aus der Ethik auszuscheiden".

s) Vorgetragen am 29. Juni 1826; philosophische und vermischte
Schriften II, 1838, S. 418 ff.

*) Hierüber Ottmar Dittrich: Geschichte der Ethik II, 1926, S. 15 f.
27 ff.

*) Max Pohlenz: Die Stoa, Geschichte einer geistigen Bewegung II,
1949, S. 69 f.

5) Pohlenz a. a. O. I, 1948, S. 121 ff.