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Ausgabe:

1954

Spalte:

447-454

Autor/Hrsg.:

Wiesner, Werner

Titel/Untertitel:

Exegese und Dogmatik 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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Exegese und Dogmatil*

Von Werner W i e s n e r, Mainz

Das tatsächliche Auseinanderbrechen der beiden theologischen
Hauptdisziplinen: Exegese und Dogmatik dürfte die entscheidende
Krise unserer heutigen Theologie darstellen. Damit
ist aber ihr Bestand als einheitliche Wissenschaft überhaupt in
Frage gestellt. Verschiedenheit der Standpunkte und der Ergebnisse
wird und muß es in der Theologie immer geben, sie kann
in der weiteren wissenschaftlichen Diskussion zu neuen Erkenntnissen
und Klärungen führen. Wenn es aber in der Theologie eine
doppelte Wahrheit, eine exegetische und eine dogmatische Wahrheit
gibt, wenn jede Disziplin das theologische Wahrheitsproblem
von sich aus ohne Rücksicht auf die andere beantworten zu können
glaubt, dann ist damit der Begriff der theologischen Wahrheit
überhaupt aufgehoben, und die praktisch kirchliche Verkündigung
, die doch nur auf theologischer Wahrheitsbesinnung beruhen
kann, schwebt in der Luft.

Nun besteht das kritische Verhältnis zwischen Exegese und
Dogmatik nicht erst seit heute. Es handelt sich hier um ein Problem
, das mit dem Zerbrechen der altprotestantisch-orthodoxen
Harmonie beider Disziplinen durch die Aufklärung aufgetreten
ist, und seitdem noch nicht wieder befriedigend gelöst wurde.
Die Frage mußte entstehen, als die moderne Wissenschaft die
Bibel als rein historisches Phänomen und Produkt zu sehen und
interpretieren lernte und sie damit notwendig dem historischen
Relativismus unterwarf. Auf ein historisch relatives Buch konnte
man keine Absolutheit beanspruchenden dogmatischen Glaubensaussagen
begründen. Damit war der Dogmatik der exegetische
Boden entzogen. Dies Ergebnis finden wir nicht erst bei Troeltsch
und Albert Schweitzer, sondern im Grunde schon bei Seinler und
Reimarus. Wenn wir auf die Theologiegeschichte zurückblicken,
so können wir — natürlich notwendigerweise schematisierend —
drei Lösungsversuche für dieses Problem feststellen:

1. ) Der philosophisch-spekulative, wie er von Schleierma-
cher und Hegel sowie ihren Schulen durchgeführt ist. Hier wird
die Bibel und ihre Exegese der historisierenden Wissenschaft
überlassen, aber die Dogmatik von ihrer Schriftbegründung gelöst
und auf das metaphysisch begründete religiöse Selbstbewußtsein
oder die von ihrer geschichtlichen Entfaltung in ihrer
Gültigkeit zu trennende Idee des Christentums gestellt. Der
Bruch zwischen Bibelexegese und spekulativ begründeter Dogmatik
wurde nur nachträglich dadurch vertuscht, daß man die spekulativ
gewonnene Dogmatik in die Schrift hineininterpretierte.
Begründet in der Schrift war sie damit nicht und darum auch
nicht durch exegetische Ergebnisse zu erschüttern. Der Bruch zwischen
Exegese und Dogmatik war damit überdeckt, nicht aufgehoben
.

2. ) Der heilsgeschichtlich-biblizistische Lösungsversuch, der
von Hofmann und Beck bis Kähler und Schlatter reicht, und im
Grunde die ganze sogenannte positive Theologie bestimmte.
Hier suchte man die orthodoxe Harmonie von Exegese und Dogmatik
dadurch wiederherzustellen, daß man die Bibel als Produkt
einer von der übrigen Geschichte abzugrenzenden übergeschichtlichen
Heilsgeschichte der historischen Relativierung entzog
und nun methodisch doch nicht viel anders als die Orthodoxie
die Dogmatik auf die Exegese aufbaute. Daß damit wieder
wie in der Orthodoxie die Exegese in die Gefangenschaft der !
Dogmatik geriet, zeigt das Auseinanderklaffen zwischen dieser
biblizistischen Exegese und Dogmatik einerseits und der religionsgeschichtlichen
, historisch-kritischen Schriftauslegung andererseits
, die doch schließlich den Sieg davontrug.

3. ) Der historistische Lösungsversuch, für den Albrecht
Ritsehl und seine Schule in ihren verschiedenen Richtungen charakteristisch
ist. Hier stellt man sich auf das historische Phänomen
des Christentums in seiner ursprünglichen Gestalt, auf das
Bild des historischen Jesus, sowie auf die Bibel als historiche Urkunde
ein. Die exegetische Wissenschaft stellt die christliche Religion
dar, die Dogmatik entfaltet dann die Bedeutung der
christlichen Religion vom Standpunkt der Gemeinde, die wiederum
auf der praktisch-ethischen Entscheidung für diese Religion
beruht. Die praktische Verabsolutierung des historischen Phänomens
des Christentums bzw. der Person Jesu rechtfertigte man
mit der kantischen Unterscheidung von theoretischer und praktischer
Vernuntt. Man machte sich allerdings nicht klar, daß man
nur durch philosophische Deutung der Bibel bzw. des Urchristentums
dieses der historischen Kelativierung entzogen und sich
gleichzeitig gemacht hatte. So nahm denn auch hier die rcligions-
geschichtncne t-orschung als konsequente Durchführung moderner
Geschichtswissenschaft der praktisch-ethischen Verabsolutierung
dieser philosophisch konstruierten christlichen Religion den Boden
unter den füllen weg. Aber aut der religionsgeschichtlichen
Exegese, die das Urchristentum bzw. die Bibel restlos historisch
relativierte, war nun wirklich keine christliche Dogmatik mehr
autzubauen, und ihre Vertreter flüchteten sich in einen biblisch
nicht mehr begründeten Rationalismus (Bousset und Albert
Schweitzer) oder in die Mystik (Troeltsch). Eine gänzlich ent-
theologisierte, rein profan-historische Exegese auf der einen Seite
und eine ihres Fundaments beraubte Dogmatik auf der anderen,
das war die Situation, in der die theologische Wende nach dem
ersten Weltkrieg, die vor allem mit dem Namen der sogenannten
dialektischen Theologie verknüpft ist, eine ganz neue, wie es
schien, endgültige Lösung der Frage des Verhältnisses von Exegese
und Dogmatik zu bieten schien.

Es war doch nicht zufällig, daß diese theologische Wende,
die nicht nur eine neue Schule begründete, sondern irgendwie
trotz aller Kritik an ihr auf alle theologischen Zeitgenossen
wirkte, nicht mit einer Dogmatik, sondern mit einer Exegese
d. h. den drei Kommentaren Karl Barths über den Römerbrief
, den 1. Korinther- und den Philipperbrief ihren Anfang
nahm. Denn in der Tat: Nur von der Exegese her konnte die
verfahrene Situation der Theologie beseitigt werden. Es war die
Stärke der barthischen Schriftauslegung, daß sie die Voraussetzungen
der religionsgeschichtlichen Forschung, die restlose Relativierung
der Bibel als historischen Literaturdokuments anerkannte
, daß sie aber mit viel größerer Energie eine ganz neue Dimension
eröffnete, die des aktuellen Wortes Gottes, das die
Wand der historischen Relativität der Bibel durchstößt und als
das absolute Wort im Akt des göttlichen Redens jene historischrelativen
Texte uns heute gleichzeitig macht. Mit dieser neuen
Exegese war dann auch der Dogmatik ein neues Fundament gegeben
, das allerdings in Gottes Freiheit bleibt und unserer Verfügung
entzogen ist, aber doch der Dogmatik als axiomatische
Grundlage fern von aller biblizistischen Gesetzlichkeit dient. Die
Dogmatik wie der Glaube dürfen gewagt werden im Vertrauen
auf das zwar nicht verfügbare aber verheißene, je und je geschehende
aktuelle Reden Gottes aus den biblischen Texten. Es war
ein Symptom der neuen theologischen Lage, daß ein so kritischer,
aus dem religionsgeschichtlichen Lager kommender Exeget wie
Rudolf Bultmann zu Barth stieß und sich zu seinen Voraussetzungen
bekannte. Es ist auch keine Frage: das Gotteswort der
Bibel wurde weit über den Kreis der zünftigen Theologen hinaus
aus Barths Kommentaren neu gehört und dieser selbst konnte
nun darangehen, von seiner neuen Exegese aus auch eine neue
Dogmatik aufzubauen. Aber es sollte sich bald zeigen, daß an
dieser beglückenden Lösung des die Theologie als solche schon
in Frage stellenden Problems etwas nicht stimmte:

1.) Schon an Barths Kommentaren mußte auffallen, daß die
konkreten Aussagen der biblischen Einzeltexte zurücktraten gegenüber
dem Einen, was Barth selbst zu sagen am Herzen lag. Die
Einzeltexte wurden gleichsam überrannt. Sie waren höchstens
noch die Begleitmusik gegenüber dem einen Thema, das in
unzähligen Variationen dem Leser eingehämmert wurde, ja das
zu schließlich ermüdenden Wiederholungen führte: der Hinweis
auf das aktuelle Gotteswort als die Bestimmung des ewig gegenwärtigen
Verhältnisses von Gott und Mensch, Gott und Welt,
Ewigkeit und Zeit. Alle exegesierten Einzelworte mußten hier
schließlich dasselbe sagen, statt daß sie in ihrer Besonderheit und
Einmaligkeit zu reden anfingen. Wo blieb hier die Einzelexegese?
Das Wort i n den Einzelworten? Gewiß, die Glocke der Bibel
hatte hier, für Barth selbst überraschend, einen Ton gegeben,