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Ausgabe:

1954

Spalte:

439-446

Autor/Hrsg.:

Graß, Hans

Titel/Untertitel:

Glaubensgrund und Glaubensgedanken 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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ihrer Bewegtheit und Wachstumsbedürftigkeit doch von dem leeren
Raum der unbegrenzten geistigen Möglichkeiten unerbittlich
trennt und ihr Ursprung und Richtung gibt, ist Christus selbst,
der die Kirche an sich gebunden hat und sie aus dieser Bindung
nicht entläßt, in den sie gegründet ist und der sie nicht irgendwohin
, sondern tiefer in die Erkenntnis seiner selbst hineinzieht,
(der sie darum auch, wenn es sein Wort ist, das zur Berichtigung
bisheriger Entscheidungen nötigen sollte, ganz gewiß von
dem, was im bisherigen Bekenntnis Bekenntnis der Wahrheit,
Bekenntnis seiner selbst ist, nicht wegziehen, sondern dabei festhalten
und tiefer hineinziehen wird). „Nicht daß ichs schon ergriffen
habe, ich jage ihm aber nach, ob ichs auch ergreifen
möchte, aufgrund dessen, daß ich von Christo Jesu ergriffen
bin" (Phil. 3, 12). Was der Apostel von sich selbst sagt, gilt
von der Kirche in allen Dimensionen ihres Lebens. Alle Bewegung
in der Kirche hat, wenn sie recht ist, ihre Bestimmtheit und
Grenze darin, daß sie Bewegung innerhalb dieses von Christus
Ergriffen- und Umgriffenseins ist. In der Anwendung auf die Erkenntnisseite
dieser Bewegung: „Jetzt erkenne ichs stückweise,
dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin"
(I. Kor. 13, 12). Die Erkenntnisbewegung hat ihre Bestimmtheit
und Grenze dadurch, daß sie Bewegung innerhalb dieses Erkannt-
Seins und durch dieses Erkannt-Sein und auf dieses Erkannt-Sein
ist. Christus selbst, die eine Wahrheit, ist also das eigentliche
Subjekt dieses Erkennens und seiner Bewegung, es ist die Bewegung
, mit der er selbst die Gedanken der Kirche je schon zu sich
gezogen hat und weiter zu sich zieht aufgrund dessen, daß er
nicht aufhört, an sie zu denken. Darin liegt die Kontinuität, das
Definitive und das Umschlossene aller dogmatischen Erkenntnis
und alles Bekenntnisses: es ist endgültig ausgemacht, daß es, wo
immer es echtes Bekenntnis war, in dieser Bewegung stand
und, wo immer es recht bleibt, in ihr stehen wird. U n d es liegt
darin zugleich das Unabgeschlossene aller dogmatischen Erkenntnis
, der Vorrang, den der von ihr zu Erkennende über sie selbst
in ihren Ergebnissen behält.

Es wäre nun zu fragen, worin dieses Umschlossensein für die
dogmatische Arbeit in konkreten Bindungen sich äußert, d. h.
wie diese sich praktisch unterscheidet von einer Schwärmerei, die
sich auf eigenmächtige Christus- und Geisterlebnisse beruft. Hier
kann nur kurz angedeutet werden: Die dogmatische Arbeit ist in
ihrer Bewegung konkret umschlossen von dem Anspruch der
Schrift als des Werkzeuges, durch das Christus sein tragendes
und bewegendes Gegenüber zur Kirche wahrt; sie ist ferner umschlossen
durch die Tatsache der Verkündigung, in der
seine Selbsterschließung durch die Schrift lebendig sich vollzieht;
und sie ist endlich umschlossen durch den Ort der Kirche, in
der und für die die Selbsterschließung Christi durch die die Schrift
auslegende Verkündigung geschieht. D. h. die dogmatische Arbeit
kann nicht die Geltung der Schrift, sondern nur ihre je und je
gegebene Auslegung in Frage stellen. Sie kann nicht abseits der
Verkündigung, sondern nur unter ihr ihre der Reinheit der Verkündigung
dienende kritische Aufgabe erfüllen. Sie kann nicht
außerhalb der Kirche, sondern nur in der Kirche und für die Kirche
denken. Abseits von Schrift, Verkündigung und Kirche hieße:
abseits von dem Ort, der allein die Verheißung hat, daß hier
die Wahrheit, nämlich Christus selbst, die Gedanken, die über
ihn gedacht werden, reinigt und zu sich zieht, und das Denken
wäre dann hinausgetreten in jenen Raum des Relativismus, der
unbegrenzten geistigen Möglichkeiten, in dem seine Bewegung
richtungslos wird.

Nicht außerhalb der Kirche, sondern in der Kirche und für

die Kirche — damit ist nun freilich noch einmal ausdrücklich die
Frage nach dem Verhältnis der Bewegung dogmatischen Denkens
zu dem formulierten Dogma, zu den Bekenntnissen der Vergangenheit
gestellt. Ist in der Tatsache der Unabgeschlossenheit eine
kritische Stellung und Aufgabe den Bekenntnissen gegenüber
gegeben, so ist in jenem Satze: nicht außerhalb, sondern in der
Kirche, ebenso eine bejahende Stellung den Bekenntnissen gegenüber
, eine Haltung der Kontinuität mit ihnen beschlossen. Denn
sie sind die Bekenntnisse der Kirche und die Marksteine ihrer Geschichte
mit Christus. Die Frage ist aber: Wie verhalten sich
kritische und bejahende Stellung, Bewegung und Kontinuität
zueinander? M. a. W.: Was ist das Endgültige, und was ist das
der Korrektur, der Reinigung Unterworfene an allem Bekenntnis
? Wenn es, wie gesagt, in ihm immer um das Ganze des
Wählens Christi und der Hingabe an ihn, um das Ganze der Absage
an das sich über Christus Erhebende und von ihm Trennende
geht, dann kann diese Frage nicht nach einer quantitativen Einteilung
in zentrale und weniger zentrale Dogmen, ja überhaupt
nicht nach einzelnen articuli entschieden werden. In allem Bekenntnis
ging und geht es zutiefst darum, daß es wahr bleibt:
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, und: Es ist in
keinem Andern Heil — wie es in aller wirklichen Anfechtung
der Kirche um die Bestreitung dieser Tatsache geht, die schlechthin
endgültig und nicht überholbar, weil von Gott gesetzt ist.
(Man könnte dies wohl an allen großen Bekenntniskämpfen, am
Kampf des Athanasius gegen die Arianer, Augustins gegen die
Pelagianer, der Reformatoren gegen die römische Kirche und bis
hin zu der Entscheidung von Barmen als den nervus rerum aufzeigen
.) Die Kontinuität der Bekenntnisse liegt in ihrer auf das
solus Christus gerichteten doxologischen Intention und Exklusivität
, die sich freilich gegenüber bestimmter Anfechtung in bestimmten
Sätzen äußern muß. So wagen wir also folgende Aussage
: Die Entscheidung für das Christum magnificare, das exklusive
Wählen und Vorziehen Christi vor dem, was ihn verdrängt
und der Ganzheit seiner Gabe und seines Anspruchs Abbruch
tut, dies ist das Endgültige und Inkorrigible in allem Bekenntnis
; mag im übrigen die Weise, wie jeweils diese Entscheidung
in theologischen Sätzen und Gedankenverknüpfungen ihren
Ausdruck fand, defektiv sein und also des Wachstums und der
Reinigung bedürfen. Sie wird immer auch defektiv sein. Alle
Zuwendung zu Christus in jedem Bekenntnis ist aus ihrem eigensten
Wesen heraus endeültig; aber keine solche Entscheidung
ist in der Weise ihrer Verwirklichung völlig und abgeschlossen.
Sie kann in dieser Hinsicht immer korrigiert werden müssen, indem
sie der Selbstbezeugung Christi durch die Schrift unterworfen
bleibt. Aber sie kann niemals korrigiert werden müssen in
Riickwendung zu dem, was im Bekenntnis ein Verlassen des mit
Christus Konkurrierenden und ihn Verdrängenden war, sondern
stets nur in der Absage an das, was in ihm davon noch stehen
blieb oder sich von einer anderen Richtung als der, gegen die das
Bekenntnis sich wenden mußte, neu eingemischt hat. Wann und
wie freilich diese Notwendigkeit der Berichtigung eintritt, das
kann vielleicht nur in der Situation konkreter Anfechtung der
Kirche entschieden werden, in der Christus durch das Zeugnis
der Schrift Gehorsam fordernd Erkenntnis seiner selbst
neu erschließt, und es wird sich daran entscheiden, ob und inwiefern
dann Theologumena vergangener dogmatischer Entscheidungen
sich zwischen dieses Zeugnis und das Hören und Gehorchen
der Kirche stellen. Es wird dann gleichsam in praxi unterschieden
, was im Bekenntnis der Vergangenheit in der echten
Kontinuität der Wahrheit steht und bleibt, und was vergängliches
Theologumenon war.

Glaubensgrund und Glaubensgedanken

Von Hans Grass, Erlangen

Die Unterscheidung von Glaubensgrund und Glaubensgedanken
geht auf Wilhelm Herrmann zurück1. Er hat sie vollzogen
, um dem modernen Menschen, dem es durch die historische
Bibelforschung und aus philosophischen und weltanschaulichen

*) Verkehr des Christen mit Gott, 18922; Ges. Aufsätze 1923,
bes. S. 295—33 5, Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens
.

Gründen unmöelich geworden ist, die hohen metaphysischen
Aussagen des NTs und des christlichen Dogmas sich anzueignen,
dennoch ainen Zugang zum christlichen Glauben zu eröffnen.
Herrmann reduziert entschlossen das mit soviel wundcrhaftcii
Zügen behaftete biblische und kirchliche Christuszeugnis auf die
Person des geschichtlichen Jesus, der in seiner religiös sittlichen
Größe uns auch heute noch innere Anerkennung abgewinnen