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Ausgabe:

1954

Spalte:

435-440

Autor/Hrsg.:

Joest, Wilfried

Titel/Untertitel:

Endgültigkeit und Unabgeschlossenheit des Dogmas 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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schehen, sondern im möglichen Selbstverständnis von Existenz.
Dem mythologischen Heilsgeschichtsdogma kommt nur die Bedeutung
zu, Ausdruck des Selbstverständnisses von Existenz zu
sein.

III.

Diese Unterscheidung führt uns zur dritten der am Anfang
genannten Grundfragen christlicher Theologie: der Frage nach
dem Verhältnis von Geschichte und Heilsgeschichte
. Hier stehen sich heute im Streit um Bultmann
gegenüber eine Heilsgeschichtstheologie, welche einer
historisch-wissenschaftlichen Theologie als Mythologie erscheinen
muß, und eine Interpretation der Überlieferung, welche von dem
Glauben an das entscheidende Heilsgeschehen in Christus aus
nur als Auflösung der Theologie in Philosophie beurteilt werden
kann. Die Lage wird noch dadurch kompliziert, daß die Heilsgeschichtstheologie
der geschichtswissenschaftlichen Forschung nicht
ausweichen, wohl aber nichts von Mythologie wissen will, —
Bultmann und seine Anhänger ihrerseits von einem einmaligen
Heilsgeschehen in Kreuz und Auferstehung Christi reden, für
das nach ihnen in der Philosophie kein Platz vorhanden sein soll.
So wie hier der Art und Weise, wie auf der einen und anderen
Seite von einem Heilsgeschehen in der Geschichte gesprochen
wird, je von der anderen Seite widersprochen wird, bleibt von
einem solchen Geschehen überhaupt nichts mehr übrig. Schärfer
als es hier geschieht, könnte die Selbstaufhebung der Theologie
nicht in Erscheinung treten.

Von einer Theologie der Existenz aus, wie wir sie im Vorangehenden
entwickelt haben, ist dieser Ausgang freilich nicht
überraschend. In einer geistigen Situation, wie die unsrige es nun
einmal ist, zu der um ihres Wissenschaftsbegriffs willen der Mv-
thosbegfiff als Vergegenständlichung eines wissenschaftlich nicht
mehr faßbaren Sachverhalts — nämlich des Seins im Ganzen und
der Existenz — gehört, ist es unausweichlich, daß sich die geistige
Substanz der Überlieferune auflöst, wenn wir dieser unserer
Situation nicht oder nur halb Rechnung tragen. Das ist aber sowohl
in der Mvthodoxie, wie in dem Bultmannschen Reden vom
Kerygma der Fall.

Aber Theologie der Existenz stellt nicht nur in objektiver
Analyse dieses commune naufragium theologiae und dessen Ursachen
fest, sondern schickt sich auch an, aus den disiecta membra
ein Neues zu bauen.

Ausgangspunkt ist und bleibt das Selbstverständnis von
Existenz. Darin aber weiß sich Existenz nie am Anfang. Was sie

ist, das ist sie in und durch Überlieferung. Mag es von bestimmten
Ausformungen christlicher Tradition als nichtchristlich beurteilt
werden, so ist doch das, was wir über Offenbarung und
Gnade ausführten, nur möglich auf dem Boden biblisch-christlicher
Überlieferung, und zwar nicht nur der Form, sondern auch
dem Gehalt nach. So sehr Theologie der Existenz eine universale
Möglichkeit des menschlichen Selbstverständnisses bildet, so tritt
sie doch nie als die eine, universale Wahrheit auf den Plan, sondern
stets in einer bestimmten geschichtlichen Ausformung. Wagen
wir es in den jeweiligen Ausformungen mythologischer
Heilsgeschichtskonzeptionen und in dem Anspruch der Universalität
ihrer Gültigkeit den notwendig gegenständlichen Ausdruck
der Unbedingtheit des darin sich verwirklichenden und aussprechenden
Existenzverständnisses zu sehen, dann stellen weder ihre
Deutung als Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses, noch ihr
mythologischer Charakter für uns einen Anstoß dar. Gerade in
ihrer gegenständlichen Relativität ist die Heilsgeschichte und sind
ihre Ausgestaltungen in der Lehre von der Kirche und den Heilsmitteln
, einschließlich der individuellen und universalen Escha-
tologie, Gestaltwerdungen von Existenz als Gnade und Erscheinungen
der Gemeinschaft von Existenz in einem Reich der Gnade.
Was für mich als Existenz in der Tradition meiner Kirche, in
ihren Bekenntnissen und Institutionen, in ihrem Kultus und
ihren Ordnungen unbedingt gilt, das erhebt nicht den Anspruch
auf Allgemeingültigkeit und Alleinseligmachen, sondern das ist
in der Unbedingtheit, in welcher ich mich darin mit andern verstehe
und verwirkliche eine Erscheinungsform des Ewigen in
der Zeit.

Diese Möglichkeit besteht auch für Theologie der Existenz
als christliche Theologie. Das zeigt sich in der Vergangenheit darin
, daß christliche Theologie, wo sie lebendig war, unter allen
möglichen Ausprägungen und Selbstmißverständnissen, im
Grunde stets Theologie der Existenz war — und in der Gegenwart
darin, daß es nicht nur in der untheologischen und nachchristlichen
Welt ein Verständnis und eine Gemeinschaft im Sinne
von Theologie der Existenz gibt, sondern daß Christus sogar
durch theologisch und konfessionalistisch verschlossene Türen
eingehen und sich als der Herr seiner oft so seltsamen Jünger erweisen
kann, indem er sie aufeinander hören und einander verstehen
läßt.

Und das gibt uns den Mut, nicht von einem finis christi-
anismi zu reden, sondern läßt uns Hoffnung fassen auf eine Zukunft
christlichen Glaubens.

Endgültigkeit und Unabgeschlossenheit des Dogmas

Von Wilfried J o e s t, Neuendettelsau

Was bedeutet es, wenn wir in der theologischen Arbeit
einerseits die Bindung an Bekenntnis und Dogma der Kirche bejahen
, andererseits aber die Frage nach der Erkenntnis der Wahrheit
als eine offene Frage übernehmen, der Theologie also
eine andere Aufgabe zuerkennen als nur die, fertige Lehre scholastisch
zu tradieren? Anders ausgedrückt: Was bedeutet es, daß
wir das Dogma wirklich Dogma, das Bekenntnis Bekenntnis sein
lassen und darüber doch die Schrift, die uns beständig vor offene
Fragen stellt und an der die Theologie nie ausgelernt hat, zur
Richterin über Dogma und Bekenntnis erklären — was doch offenbar
die Möglichkeit in sich schließt, daß uns von der Schrift
her Kritik an dem überlieferten Bestand theologischer Erkenntnis
, vielleicht sogar Kritik an deij überlieferten bekenntnismäßigen
Abgrenzungen widerfahren kann? Bedeutet das, die Bejahung
der Bindung und die Bejahung der Offenheit, ganz schlicht
eine Inkonsequenz? Oder besteht zwischen beidem ein notwendiger
Zusammenhang? Und wenn ja — wie ist der zu verstehen?
Soviel ist klar: Wenn das durch das Werkzeug der Schrift der
Kirche begegnende Wort Gottes wirklich norma normans ist, und
wenn die Begegnung mit ihm nicht abgeschlossen, sondern ein
die Kirche führendes und weiterführendes Geschehen ist, dann
muß es so etwas geben wie eine Offenheit von Bekenntnis und
Dogma nach vorn. Aber was bedeutet nun diese Offenheit nach
vorn? Wie weit tragen ihre möglichen Konsequenten? Bedeutet

das: Es ist möglich und u. U. notwendig, daß Bekenntnis und
Dogma ergänzt werden, indem das Bisherige unangetastet bestehen
bleibt, aber neues Bekenntnis bisher noch nicht entfalteter
Wahrheit hinzukommt? Oder bedeutet es auch dies: Es ist
möglich und u. U. notwendig, das bisheriges Bekenntnis und
Dogma berichtigt wird, indem die Kirche durch ein neues
Hören des Wortes genötigt wird, Aussagen ihres Bekenntnisses
zurückzunehmen oder umzuformen? Und wenn ja — in welcher
Erstreckung haben wir uns auf die mögliche Notwendigkeit solcher
Korrektur gefaßt zu halten? Gibt es einen gewissen Kernbestand
von Dogmen und Bekenntnissätzen, von dem wir a limine
wissen, daß er von ihr keinesfalls betroffen werden kann,
hingegen andere articuli minus fundamentales, die der Korrektur
grundsätzlich offen bleiben? Oder muß Bekenntnis und Dogma
für jene Möglichkeit der Kritik auf der ganzen Linie seiner Erstreckung
offen gehalten werden? Wenn aber ja — inwiefern reden
wir dann noch von Dogma, von Bekenntnis, und inwiefern
unterscheiden wir dies vom bloßen Theologumenon? Scheint es
doch so zu sein, daß die Begriffe „Dogma" und „Bekenntnis" ein
schlechthin affirmatives Moment in sich schließen: So ist es.
und nicht nur ein: So gilt es v o r 1 ä u f i g und unter Vorbehalt
späterer besserer Erkenntnis. Es ist quälend, in die Mühle dieser
Fragen zu geraten, und nur zu leicht bietet sich als Ausweg aus
dieser Gedankenmühle entweder der Sprung in einen entschlos-