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Ausgabe:

1954

Spalte:

425-430

Autor/Hrsg.:

Bornkamm, Heinrich

Titel/Untertitel:

Zum Lutherbild des 19. Jahrhunderts 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

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fruchtlose Gebräuche; eine Entwürdigung der Tugend, und ein
Eifer, der mit Verdammen und Hassen die Seligkeit des Himmels
zu erwerben meint". Aus dem Unglauben wird leicht der Aberglaube
, wenn der Mensch der Trostlosigkeit müde geworden ist;
und aus dem Aberglauben wird leicht der Unglaube, wenn der
Mensch sich getäuscht fühlt oder von dem plötzlich aufstrahlenden
Licht der Vernunft geblendet wird. Daraus folgt für den
Christen im Sinne Sacks: „So viel sorgfältiger müsse also ein jeder
auf dem glücklichen Mittelwege des vernünftigen Glaubens oder
der glaubenden Vernunft bleiben, welcher von dem Lichte der
Wahrheit gehörig erleuchtet ist, und bleibt. Denn ein Licht, in
dessen Nähe wir nicht bleiben, oder ein solches, das mit Dampf
und Rauch umwölkt ist, beyde helfen uns nichts. Wir wollen die
Mittel unsrer Erleuchtung weder verachten noch vernachlässigen;
auch keine andre suchen, als die uns Gottes Weisheit zu verordnen
für nötig gefunden; wir wollen der Vernunft und dem Gewissen
Gehör geben, und uns zu dem halten, der uns von Gott
zur Weisheit gemacht worden; Menschenworte nach seinen Worten
prüfen, und uns nicht von jedem Winde neuer Lehre, wie
Blätter, die vom Stamme abgerissen sind, umhertreiben lassen"''".

Hier wird Sacks Position besonders deutlich: In dem Bewußtsein
der Gründung auf Gottes vernünftig verstehbares und erstandenes
Wort wendet er sich sowohl gegen rationalistischen
Atheismus als auch gegen widervernünftige Orthodoxie. Er
glaubt, einen wahren religiösen Konservativismus zu vertreten,
ohne zu spüren, wie er mit seiner rationalen Betrachtungsweise
beiträgt, das Fundament des Glaubens zu zerstören. Hier spricht
der uns heute kaum mehr verständliche Vernunftoptimismus der
Aufklärung, für die Jesus der große Lehrer und Erleuchter der
Vernunft und der Erwecker der Gewissen ist. Hier kommt ebenso
die Verachtung der Sakramente und Riten als widervernünftig
zum Ausdruck, wie das ehrliche und ernste Streben nach ein?r
tugendhaften, Staats- und gesellschaftserhaltenden, durch die
vernünftige Religion gelehrten und gefestigten Lebenshaltung.
Nicht Glaube, sondern Lebensführung, nicht Glaubenslehre, sondern
Tugend ist Ausgangspunkt, Inhalt und Ziel dieser Religiosität
. Lassen wir noch ein letztes Mal Sack zu Worte kommen:
Er sagt vom christlichen Glauben: ,,Es sind Wahrheiten, die auf
unsere Gesinnungen nicht allein wirksam seyn können, sondern

so) Ebenda S. 45 ff.

I auch wirksam seyn müssen. Der Glaube, den das Evangelium verlangt
, soll ein lebendiger und fruchtbringender Glaube seyn."
Die Erkenntnis, die Gott den Christen schenkt, soll eine „Erkenntnis
der Wahrheit zur Gottseligkeit seyn". Das Licht der
vernünftigen Religion soll „die Nacht der Unsittlichkeit, der
Sünde und des Lasters vertreiben". Der Christ soll „züchtig, gerecht
und gottselig leben in dieser Welt". Kurz, er soll „dem
Evangelio würdig" leben21.

Diese Zitate und Hinweise mögen hier genügen, um ein erstes
Bild der theologischen Position des Mannes zu umreißen,
der, von seinem König und ehemaligen Konfirmanden durch
Verleihung des Bischofstitels hoch geehrt, im Jahre der Verkündung
der Union starb, an der er seit Beginn seiner Hofpredigertätigkeit
eifrig gearbeitet hatte. Sack war der kirchlichen Herkunft
nach Reformierter. Es wird schon aus dem Angeführten
hinlänglich deutlich geworden sein, wie wenig hier noch vom
Geiste des ursprünglichen deutschen Reformiertentums, ganz zu
schweigen vom Geiste Calvins, zu spüren ist. Die Schranken des
Konfessionalismus sind hier zweifellos überwunden. Der Weg zu
ihrer Überwindung aber führte nicht zur biblischen Neubesinnung
, sondern er ging durch die kühlen Regionen der ihrer Selbständigkeit
stolz bewußt gewordenen Vernunft und endete bei
einer Entleerung der christlichen Heilsbotschaft zur Tugendlehre
und Unsterblichkeitsgewißheit. Es war ein Irrweg; aber es ist erschütternd
mit welcher frohen Gewißheit Männer wie Sack ihn
gingen, fest überzeugt, nur so das wahre Wesen von Religion und
Christentum wieder aus der Umdunkelung durch Dogma und
Aberglauben ans Licht bringen zu können.

Abschließend sei noch ein Wort zur theologiegeschichtlichen
Einordnung Sacks gestattet: Er gehört zweifellos nicht mehr in
die Neologie, sondern in die Reihe der rationalistischen Theologen
wie Teller, Henke, Röhr und Wegscheidel ohne freilich deren
absolute Konsequenz völlig zu teilen. Er ist nicht so vernunftgläubig
wie Teller, er ist mehr Biblizist als Henke, er leugnet
die Offenbarung nicht in dem Maße wie Röhr. Am stärksten
ähnelt seine Position der des jüngeren Wegscheidel Er ist ein
Kind der gleichen Zeit wie diese bekannteren Vorkämpfer des
Rationalismus, in seiner geistigen Haltung ihnen sehr verwandt,
aber er ist doch noch stärker an die Kirche gebunden.

M) Ebenda S. 33 ff.

Die Geschichte des Lutherbildcs ist ein Spiegel der neueren
Geschichte des deutschen Geistes. Jede der geistigen Bewegungen
der letzten Jahrhunderte hat ihr Verhältnis, zustimmend, einschränkend
oder ablehnend, zu dieser Zentralgestalt der deutschen
geistigen und politischen Geschichte bestimmen müssen. Den ersten
entscheidenden Knotenpunkt in der Bewältigung des Pro-
b'ems im 19. Jahrhundert bildet das Denken Hegels, in dem
sich der deutsche Idealismus an einer umfassenden Verarbeitung
und Verwandlung des Lutherschen Erbes versucht hat. Hegel
nimmt von den verschiedensten Gedankenlinien seiner Philosophie
immer wieder auf die Reformation Bezug und holt sich von
ihr Bestätigung. Die Leistung, die er damit vollzieht, konzen-
^•ert sich auf zwei Hauptlinien: 1) auf die Durchbildung des von
der Aufklärung der Reformation zugeschriebenen Freiheitsbegriffs
zur Idee der Subjektivität. Es gelingt Hegel, mit dem Begriff der
j^bjektivität auf seine Weise das zu fassen, was Luther mit Glau-
£en meinte, den jeder unabdinglich selbst und allein für sich vor
^ott aufbringen muß. Die Freiheit kommt erst zu ihrem eigent-
•'chen Wesen, indem der lutherische Glaube sie auf Gott bezieht.
"Dies ist die höchste Bewährung des Prinzips, daß dasselbe nun
v°r Gott gelte, nur der Glaube des eigenen Herzens, die Über-
w'ndung des eigenen Herzens nötig sei." So wenig man leugnen
^»^daß Hegel hier mit großer Schärfe ein wirkliches theolo-

, ') Der Vortrag, von dem hier eine Skizze gegeben wird, war ein
*uszug aus einer weitergreifenden Darstellung und Textsammlung, die
u ra,uss'ditlich noch in diesem Jahre im Verlag Quelle und Meyer,
"e'delbere. ers<4i.-in«>n wirH

Zum Lutherbild des 19. Jahrhunderts1

Von Heinrich Bornkamm, Heidelberg

gisches Grundprinzip der Reformation gesehen und formuliert
hat, so wenig kann man doch die idealistische Interpretation dieses
Prinzips überhören. Sie zeigt sich am zweiten Leitgedanken:
der Teilhabe des menschlichen Geistes, der seiner selbst vor Gott
gewiß wird, am göttlichen Geist. Hierunter ist alles zu fassen, was
Hegel sich an konkreten Zügen der lutherischen Lehre zu eigen
macht (Kirche, Abendmahl, Zuwendung zum weltlichen Leben in
Ehe, Beruf und Staat). Man darf aber Hegel — etwa den Kernsatz:
„Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation: Der Mensch ist
durch sich selbst bestimmt, frei zu sein" — auch nicht subjekti-
vistisch mißverstehen. Er will den Geist nicht an seine Vereinzelung
ausliefern, sondern ihn vielmehr von ihr befreien. Wahre
Subjektivität beschränkt sich in der Begegnung mit der objektiven
Wahrheit. Die Wahrheit ist den Lutheranern nicht ein gemachter
Gegenstand, sondern das Subjekt selbst soll ein wahrhaftes
werden, indem es seinen partikularen Inhalt gegen die
substantielle Wahrheit aufgibt und sich diese Wahrheit zu eigen
macht." In der Anerkennung der objektiven Wahrheit in der
Kirche fanden die späteren Konservativen und Orthodoxen
Grund, sich auf Hegel zu berufen.

Trotz der vereinzelt aufblitzenden Würdigung religiöser Anliegen
der Reformation kann die gesamte idealistische Deutung
Luthers und der Reformation nicht verleugnen, daß sie im Grunde
nicht nach ihrem religiösen Ursinn, sondern im weitesten Sinn
nach ihrer Kulturleistung, nach ihrem Rang in der Geschichte des
Geistes fragt. Daß er so hoch bewertet wurde, mußte für das Gedächtnis
der Reformation verhängnisvoll werden, wenn der Wert