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Ausgabe:

1954

Spalte:

415-422

Autor/Hrsg.:

Dress, Walter

Titel/Untertitel:

Die Zehn Gebote und der Dekalog 1954

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415

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 7/8

416

Die Zehn Gebote und der Dekalog

Ein Beitrag zu der Frage nach den Unterschieden zwischen lutherischem und calvinistischem Denken

Von Walter Dreß, Berlin

Nicht, was man — zu Recht oder zu Unrecht — das „Konfessionalistische
" heißt, soll hier zum Gegenstand einer Untersuchung
gemacht werden. Vielmehr ist daran gedacht, das „Konfessioneile
" als ein legitimes theologisches Problem anzugehen.
Denn das ist ja ein jenseits alles sog. konfessionellen Haders und
aller konfessionalistischen Streitigkeiten liegendes Faktum der
Kirchengeschichte, daß das Phänomen, das wir „Reformation"
nennen, auch abgesehen von seinen religiösen Begleit- und Nebenerscheinungen
, dem aus mancherlei Wurzeln sprießenden Spiritualismus
und dem in viele Betten sich ergießenden Täufertum
sowie schließlich der komplexen Erscheinung der katholischen Reform
und Reformation — daß das Phänomen der evangelischen
Reformation selbst in sehr verschiedenen Gestalten und Prägungen
vor uns steht. Lassen wir einmal auch, was damals in
England geschehen ist, die Bildung der established church, ganz
beiseite, so bietet schon der kontinentale Protestantismus kein
einheitliches Bild. Und er ist nicht erst im Laufe der Zeit unter
dem sich bemerkbar machenden Einfluß verschiedener persönlicher
und sachlicher Faktoren in verschiedene Gruppen auseinandergebrochen
, er hat sich nicht erst allmählich, dem Schwergewicht
lokaler Traditionen folgend, in eine Reihe von mehr oder weniger
differenzierten kirchlichen Gemeinschaften verzweigt — ein
Eindruck, zu dem die Darstellungen der Geschichte der Reformation
die meisten ihrer Leser verleiten, den sie zum mindesten
begünstigen —, sondern er ist von Anfang an aus verschiedenen
Wurzeln erwachsen und darum von der Wurzel aus verschieden
geprägt geblieben.

Die neuere Z w i n g 1 i - Forschung ist geneigt, den Aussagen
des Züricher Reformators, in denen er seine Unabhängigkeit
von Luther beteuert und unterstreicht, wieder mehr Aufmerksamkeit
zuzuwenden und ihnen, gemessen an den Dokumenten
seiner theologischen Entwicklung, auch objektive Gültigkeit zuzusprechen1
. Es ist deshalb nicht nur die Persönlichkeit Zwingiis,
die besondere Art seiner Begabungen und Interessen, seiner Erziehung
und Bildung, die ihn veranlaßte, die Einflüsse, die von
Luther her kamen, auf seine Weise aufzunehmen oder den reformatorischen
Anstoß in einer anderen Richtung, mit anderen Akzenten
versehen, sich auswirken zu lassen, als das Luther getan
hatte, sondern der Anstoß, den Zwingli erhielt, war seinem Ursprung
und seinem Wesen nach ein anderer, als der, den Luther
entgegennahm. Und das blieb bestehen, auch, als und obwohl damals
und zumal später hier wie dort zum Teil dieselben theologischen
Begriffe verwendet wurden.

Wenn man Calvin gelegentlich als den größten Schüler
Luthers bezeichnet hat, so ist man sich dabei doch wohl immer,
jedenfalls wenn man theologisch ernsthaft zu reden versuchte,
des paradoxen Charakters dieser Bezeichnung bewußt geblieben.
Das Wort bedeutet ja für den Kirchenhistoriker zunächst ganz
nüchtern, daß Calvin ein Mann der zweiten Generation gewesen
ist. Und es will dann zweitens freilich auch sagen, daß es ihm
gelungen ist, die Anregungen, die er empfing, auf eine sehr persönliche
, eigengeprägte, selbständige Weise zu verarbeiten.

Und hier tritt uns nun durch die Jahrhunderte hindurch das
Problem des Konfessionellen in einer neuen Schärfe entgegen.
Wie immer man über das Verhältnis Calvins zu Luther denken
mag —, es ist kein Zweifel, daß in der durch Calvin ausgelösten
und bestimmten reformatorischen Bewegung andere Formprinzipien
wirksam geworden und geblieben sind als in Wittenberg.
Das gilt nicht nur in soziologischer oder wirtschaftlicher oder politischer
, sondern, wie wissenschaftliche Untersuchung und praktische
Erfahrung zeigen, auch in kirchlicher und theologischer Beziehung
. Die protestantische Reformation des europäischen Kontinents
begegnet uns — wenn wir von den spiritualistischen und
täuferischen Gestalten und Bewegungen absehen, die einem anderen
Wirklichkeitsbereich angehören — im wesentlichen in zwei

*) Vgl. etwa Arthur Rieh, Die Anfänge der Theologie Huldrydi
Zwingiis. Zürich 1949. (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte des
Schweiz. Protestantismus, Band 6).

Konfessionen, wie man sich zu sagen angewöhnt hat, d. h. in
zwei nach sehr verschiedenen Prinzipien gestalteten Kirchen, der
lutherischen Kirche und den reformierten Kirchen des Calvinismus
, sowie in zwei entsprechenden Gesamtausprägungen protestantisch
reformatorischer Theologie, die sich in einer Anzahl von
charakteristischen Punkten wesentlich, vermutlich wurzelhaft
voneinander unterscheiden. Es ist ein beachtenswertes Phänomen,
daß sich diese Unterschiede im Denken und Verhalten und daß
sich ein Bewußtsein um diese Unterschiede trotz aller Annäherungen
und Ausgleichungen, die Rationalismus, Pietismus und
Unionismus vorgenommen haben, durch die Jahrhunderte hindurch
erhalten haben.

Es wäre unsachlich, wenn man das Bewußtsein um diese Differenzen
— wie es freilich heute gern geschieht und aus kirchenpolitischen
Gründen mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit betrieben
wird — von vornherein als „konfessionalistisch" bezeichnen
und verwerfen wollte. Vielmehr dürfte es darauf ankommen,
diesen Differenzen ernsthafter, als das bisher im allgemeinen geschehen
ist, nachzugehen und sie auf ihren Ursprung, auf den Bereich
ihrer Ausstrahlungen und auf die Stichhaltigkeit ihrer Begründung
theologisch nachzuprüfen.

Mir scheint es nun verheißungsvoll, der Frage nach dem
„Konfessionellen" als einer legitim theologischen Frage von dem
Problemkreis aus nahezukommen, der durch das Thema „D i e
Zehn Gebote und der Dekalog" bezeichnet ist. Es
handelt sich bei diesem Thema um ein theologisches Problem
von zentraler Bedeutung, jedenfalls bei Luther, genauer gesagt
um ein ganzes Problembündel, das in dem zentralen Problem des
theologischen Denkens zusammengefaßt ist, und zugleich um ein
Prinzip der Schriftauslegung und -anwendung, das für die Gestaltung
des kirchlichen Lebens in Katechetik, Pädagogik und
Predigt an fundamentaler Stelle maßgebend geworden ist.

Besinnen wir uns einen Augenblick darauf, was zu dem
Thema „Die Zehn Gebote und der Dekalog" vom Lutherschen
Katechismus aus zu sagen ist. Wer immer von einem biblizisti-
schen Denken herkommt, der muß entsetzt, zum mindesten aber
ratlos sein, wenn er bemerkt, was unter den Händen Luthers aus
dem Bibelwort im Dekalog geworden ist. Und da der kirchliche
Protestantismus der Neuzeit im allgemeinen biblizistisch zu denken
gelernt hat, auch weithin in lutherischen Kreisen, und ein
solches biblizistisches Denken als schlechthin evangelisch gilt, so
stoßen wir allerdings immer wieder auf eine derartige Verlegenheit
den Zehn Geboten Luthers gegenüber.

Luther hat ja nicht allein das sog. zweite Gebot des Dekalogs
, das Bildverbot, gestrichen. Er hat auch sonst in den überlieferten
Text des Dekalogs eingegriffen, hat gestrichen und umgestellt
". Er läßt im ursprünglichen Text des Katechismus beim
zweiten Gebot die Drohung: „denn der Herr wird den nicht ungestraft
lassen, der seinen Namen mißbraucht", beim vierten Gebot
die Verheißung fort: „auf daß du lange lebest und dirs wohlgehe
in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird".
Die später aufgenommene Verheißung: „auf daß dirs wohlgehe
und du lange lebest auf Erden" bedeutet ja eine charakteristische
Änderung und entspricht durchaus nicht dem Wortlaut in Exodus
oder Deuteronomium. Das dritte Gebot spricht nicht vom Sabbat,
sondern vom Feiertag. Außerdem hat Luther weder die theologische
noch die soziale Begründung des Sabbatgebotes aus Exodus
oder Deuteronomium übernommen. Und schließlich hat Luther
den Hinweis auf die geschichtliche Erfahrung der Befreiung
des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft, der den Anspruch
des sich offenbarenden Gottes auf unbedingten Gehorsam
begründet, fallen lassen. Die Selbstprädikation Gottes am Anfang
: „Ich bin der Herr, dein Gott" hat er dafür mit der das
erste Gebot abschließenden Aussage: „Denn Ich, der Herr, dein

') Vgl. WA 30. 1, 130 Die Bekenntnisschriften der Evang. Luth.
Kirche 1930, S. 132 ff., 243 ff., 282 (f., 507 ff., 555, 560 ff.