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1954 Nr. 6

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 6

384

Die vierte Schrift des Codex Jung, in Ermangelung des
eigentlichen Titels „Abhandlung über die drei Naturen" genannt,
ist von Quispel in dem Vortrag, den er am 17. 11. 1953 in
Utrecht gehalten hat1', besprochen. Darin geht Qu. von der Trage
aus, ob zwischen den drei wichtigsten Funden der letzten Jahre,
den Schritten vom Toten Meer, den Origenesschrilten von Tura
und der gnostischen Bibliothek, nur ein zeitlicher Zusammenhang
besteht, üei dieser Frage spielt nun die Abhandlung über die drei
Naturen eine Rolle. Sie ist zwar nur sehr bruchstückhatt erhalten,
was aber erhalten ist, läßt Verwandtschalt mit Heracleon erkennen
. Mitgeteilt hat Quispel zunächst Bestimmungen über
das Wesen des Vaters, der einmal negativ als der mit dem Denken
und den Sinnen nicht zu Frfassende beschrieben wird, von
dem es dann aber heißt: „Fr ist der Einzige, der er selbst ist in
seiner Existenzweise, seiner Gestalt, seiner Größe und Herrlichkeit
. Ihm ist es möglich, sich selbst zu denken, zu schauen, zu
nennen, zu begreifen. Er ist für sich Bewußtsein, Auge, Mund,
Gestalt, er, der sich denkt, sich schaut, sich nennt, sich begreift,
er, dieser Undenkbare, Unsagbare, Unbegreifliche, Unveränderliche
." In nicht mitgeteilten Spekulationen über das Verhältnis
von Vater und Sohn sollen sich bestimmte Themata der Theologie
des Origenes ankündigen. Die „Ekklesia der vielen Menschen
, die vor den Äonen besteht, die mit Recht der Aon der
Äonen genannt wird, die Natur der heiligen, unvergänglichen
Geister" wird als ewige Hypostase aufgefaßt. Echt valentinia-
nisch klingt es, daß die Geisteskeime in dieser Welt erzogen,
unterwiesen und geformt werden. In einer Übersicht über die
Geschichte der Menschheit wird unterschieden die Zeit der Heiden
, der Juden und der Pneumatiker = Christen. Die griechische
Weisheit wird in diesem Zusammenhang nur negativ gewertet,
ähnlich, wie es Eugnostos in dem oben besprochenen Brief tut1".
Den drei Geschichtsphasen entsprechen drei Menschenklassen,
„das pneumatische Geschlecht, das Licht aus Licht ist und Geist
aus Geist, ist, als das Haupt erschien, zu ihm hingeeilt und hat
einen Leib für sein Haupt gebildet, hat die Gnosis mit Bereitwilligkeit
empfangen durch die Offenbarung. Aber das psychische
Geschlecht, das Licht aus Feuer ist, zögerte, die Gnosis zu empfangen
, aber eilte zu ihm hin im Glauben. . . aber das hylische
Geschlecht, das ihm vollkommen fremd ist, wird abgetrennt werden
als Finsternis durch den Glanz des Lichtes." Es folgt dann
eine längere Beschreibung des Loses der drei Klassen.

Bei aller Verwandtschaft mancher Gedanken dieser Schrift
mit Origenes wird nach Quispel deutlich, daß sich des Origenes'
Theologie der Freiheit gegen den Determinismus der Gnostiker
richtet. Wichtiger sind die Beziehungen nach rückwärts, die
Quispel im Anschluß an einen Passus unserer Schrift entdecken
zu können glaubt. Er lautet: „Sie (die Juden) haben zahlreiche
Häresien gestiftet, die bis heute bei den Juden bestehen. Einige
sagen, daß es einen Gott gibt, der durch die Propheten gesprochen
hat, andere sagen, es seien viele. Einige sagen, Gott
ist eins und einfach in seinem Wesen, andere sagen, daß seine
Handlungen zweifacher Art sind und der Ursprung von Gut und

") Op zoek S. 24 ff.

") J. Doresse in Vigiliae Christ. 2, 1948, S. 154 f.

Böse; einige sagen, daß er der Schöpfer dessen, was besteht, ist,
andere, daß er durch seine Engel geschaffen hat." Der letzten Ansicht
ist nun auch die „Abhandlung über die drei Naturen", indem
sie Adam von Engeln geschaffen sein läßt; dasselbe lehrt das
Apocryphon Johannis, Simon von Gitta und Menander; der Ursprung
dieses Gedankens in vorchristlicher jüdischer Gnosis ist
also nach Quispel deutlich. Auch die Ansicht der „Abhandlung",
daß der vollkommene Mensch, Adam, das All ist und die Pneumatiker
seine Glieder, leitet Quispel aus jüdischen Adamsspekulationen
ab. Damit deutet der holländische Gelehrte eine bestimmte
Auffassung von dem Ursprung der Gnosis überhaupt an,
die er der von Reitzenstein u. a. entwickelten Theorie von ihrem
iranischen Ursprung gegenüber stellt: „Die Gnosis ist ihrem Ursprung
nach jüdisch-vorderasiatischer Okkultismus, orientalische
Mystik". Die Gestalt des gnostischen Erlösers ist erst vom Christentum
aus in die Gnosis eingedrungen. „Einen vorchristlichen
Erlöser und ein iranisches Erlösungsmysterium hat es vielleicht
nie gegeben"1".

Diese weitreichenden Schlüsse, die er in seiner Rede nur kurz
andeuten konnte, hat Quispel dann in einem Aufsatz „Der gno-
stische Anthropos und die jüdische Tradition", der im Eranos-
Jahrbuch 1953"" erscheinen soll und von dem ich die Druckbogen
einsehen durfte, weiter ausgeführt und zu begründen gesucht. Er
bezeichnet ihn als einen Versuch, „das brennendste Problem der
heutigen Gnosisforschung einer Lösung näher zu bringen". Wenn
seine These auch die sicher oft zu rasch übergangene positive oder
antithetische Anknüpfung der christlichen Gnosis an das Judentum
zu erklären vermag, so scheinen mir die vorgebrachten Beweise
und Belege noch nicht zu ihrer Begründung auszureichen.
Aber soviel ist deutlich, daß durch die neuen Funde die Gnosisforschung
wieder sehr in Bewegung gekommen ist, und wir werden
mit Spannung auf die Editionen des gnostischen Fundes warten
, von der die des Codex Jung wohl nicht allzulang auf sich
warten läßt. Als voraussichtliche Herausgeber werden genannt
H. Ch. Puech und M. Malinine aus Paris, G. Quispel und B. C.
van Unnik aus Utrecht. Es erscheint ferner nicht aussichtslos, daß
auch die anderen gnostischen Codices in nicht zu ferner Zeit publiziert
werden; dann wird sich der Wissenschaft ein weites Feld
zur Bearbeitung eröffnen.

Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß ausgerechnet der einzige
Codex von Chenoboskion, der valentinianische Schriften enthält,
durch frühzeitigen Ankauf nach Europa gekommen ist. Die Wissenschaft
hat G. Quispel für seine Energie und Mühe zu danken,
die er aufgewandt hat, den verschollenen Codex wieder aufzuspüren
und seinen Ankauf zustande zu bringen. Ihm und Puech
gebührt, wie man sich auch zu ihren Thesen stellen mag, der Dank
dafür, daß sie, noch ehe die Publikation des Textes erfolgen
konnte, die Öffentlichkeit auf die möglicherweise sehr weittragenden
Folgerungen, zu denen er führen kann, aufmerksam gemacht
haben. Sie haben neue Wege gewiesen, die Folge muß zeigen
, wie weit sie führen. Große Äufgaben locken.

J") Die beiden Zitate in Op zoek (Anm. 2) S. 47.
2Ü) Zürich 1954.

Zum vorliegenden Heft

Im vorliegenden Juni-Heft werden die Referate der Neutestamentlidien Sektion des Theologentages veröffentlicht, nachdem das Mai-Heft
die Referate der Religionswissensdiaftlichen und der Alttestamentlichen Sektion brachte. Zu bemerken ist dazu, daß der Kurzbericht über das
Referat von K. G. Kuhn/Göttingen über die Kupferrollen von Qumrän eigentlich in die Neutestamentliche Sektion und damit in das vorliegende
Heft gehörte. Aus inhaltlichen Gründen ist er zu den beiden Referaten von Plögcr und Bardtke in der Alttestamentlichen Sektion gestellt
worden, die aus demselben Themenkreis stammen. Mit Rücksicht auf die Fülle und die Länge der in der Neutestamentlidien Sektion gehaltenen
Referate war es leider nicht möglich, in das vorliegende Heft auch noch Rezensionen aufzunehmen. Statt dessen wird der zusammenfassende
Bericht von W. Foerster über die neueste Literatur zu den Funden von Chenoboskion veröffentlicht. Das nächste Heft der ThLZ wird
als Doppelheft erscheinen und neben den Referaten der Kirchengeschichtlichen und Systematisch-Theologischen Sektion wieder eine größere Zahl
von Rezensionen bringen.

Die Mitarbeiter dieses Heftes:

Prof. Dr. theol. Heinz-Dietrich Wendland, Kiel, Ooethestr. 24
Prof. D. Erich Fascher, Oreifswald, Käthe-Kollwitz-Str. 10
Prof. D. Dr. Oünther Bornkamm, Heidelberg, Eckenerstr. 1
Prof. D. Ernst Fuchs, Tübingen, Herrenbergerstr. 39

Prof. D. Dr. Johannes Lei pol dt, Oroßpösna üb. Leipzig C 2, Am Bahnhof Oberholz

Prof. Dr. Herbert Braun, Bodenheim b. Mainz, Rheinstr. 2

Doz. Dr. Dr. Ernst Bammel, Erlangen, Universitätsstr. 15

Prof. Dr. Konrad Weiß, Rostock, Parkstr. 30

Prof. D. Albrecht Oepke, Leipzig W 35, Karl-Schurz-Str. 14

Prof. D. Walther Eltester, Marburg/L., Outenbergstr. 18

Prof. Lic. Dr. Oünther Härder, Berlin-Zehlendorf, Kaunstr. II

Prof. D. Heinrich Qr ;even, Bethel b. Bielefeld, Mühlweg 5

Prof. D. Werner Foerster, Münster/W.. Kapitelstr. 49

Die „Theologische Literaturzeitung" erscheint im Verlag der Evangelische"
Verlagsanstalt O. m. b. H., Berlin. Veröffentlicht unter der Lizenz-Nr. 1361 de«
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Verantwortlich für die Redaktion: Professor D. Kurt Aland, Hall» / Saal«'
Marsstr. 9. Auslieferung durch J.C. H i n rieh s Verl ag, Leipzig C 1, Scherlstr. «
für Berlin durch Ev. Verlagsanstalt O. m.b.H., Berlin-Weiliensce, Parkstr. 2'•
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Scherlstraße 2, zu richten. Für die mit Namen oder Siglen gezeichneten Beitrat!,
tragen die Verfasser selbst die Verantwortung, alles nicht Gezeichnete stan""
vom Herausgeber.

(111/19/17) Satz und Druck: Oustav Winter, Herrnhut, Oberlausit*
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