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Ausgabe:

1954 Nr. 6

Spalte:

373-378

Autor/Hrsg.:

Greeven, Heinrich

Titel/Untertitel:

Prüfung der Thesen von J. Knox zum Philemonbrief 1954

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373

Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 6

374

Prüfung der Thesen von J. Knox1 zum Philemonbrief

Von Heinrich G r e e v e n, Bethel

Mit Recht gilt der Philemonbrief als derjenige unter allen
uns erhaltenen Paulusbriefen, der am meisten den Charakter eines
privaten Schreibens trägt. Sozusagen unter vier Augen redet der
Apostel (l. sg.l) mit dem Herrn des Onesimus über seinen entlaufenen
Sklaven. Das gilt jedenfalls von v. 4—24. Umso mehr
bedarf es einer Erklärung, warum in der Adresse neben Philemon
noch zwei weitere Personen und eine Hausgemeinde als Briefempfänger
genannt werden, die dann auch in dem v/unv des (eigenhändigen
?) Schlußgrußes wieder eingeschlossen sein dürften, im
eigentlichen Briefkorpus aber vergessen zu sein scheinen.

Daneben gibt der Brief die bekannte, bis heute immer wieder
umstrittene Frage auf, was Paulus denn nun eigentlich vom Herrn
des Onesimus verlange. Handelt es sich lediglich um Wiederaufnahme
und Versöhnung mit dem reumütig zurückkehrenden
,,Nichtsnutz"?* Oder erwartet Paulus die Freilassung des Onesimus
?' Leider sagt er ja nicht mit klaren Worten, was er anstelle
eines Gebotes dem Herrn des Onesimus als Bitte, unterbreitet
. Jedenfalls beschränken sich die direkten Aussagen auf das
7mQnxa<» of jtfpi. xov &uov ritevov von v. 10. Alles andere
muß indirekt erhoben werden. Dabei handelt es sich offensichtlich
um etwas durchaus Bestimmtes und Konkretes, nicht nur um eine
Gesinnung, sondern um einen Entschluß, eine Tat. Wäre die Absicht
des Paulus keine andere, als dem Onesimus Verzeihung,
Wiederaufnahme und Annahme als Bruder in Christo zu erwirken
, so hätte er dafür wohl kaum auf sein apostolisches Recht
hinzuweisen brauchen, sondern allgemeiner, fundamentaler argumentieren
können. Auch v. 20 redet eher von einem dem Paulus
persönlich zu erweisenden Dienst.

Wenn nun aber die bloße Absicht einer Versöhnung von
Herr und Sklave nicht ausreichend erscheint, den Hintergrund des
Briefes ganz aufzuhellen, so weisen einige Andeutungen konkret
genug auf ein bestimmteres Anliegen des Paulus: Er möchte den
soeben heimgekehrten Onesimus nach Aussöhnung mit seinem
Herrn und im Einverständnis mit ihm als Gehilfen zurückhaben.
Das ist es, worauf er als Apostel der Heiden, dem auch der Herr
des Onesimus sich selbst schuldet v. 19, ein Recht hätte, worum
er nun aber bittet. So erst bekommt es seinen guten Sinn, daß
Paulus in dem kurzen Philemonbrief nicht weniger als fünfmal
auf seine augenblickliche Gefangenschaft hinweist, daß er seine
persönliche Verbundenheit mit Onesimus in einer Weise unterstreicht
, die in keinem andern Paulusbrief ihresgleichen hat. All
dies soll der Bitte Nachdruck verleihen, den Onesimus zur Verfügung
zu stellen. Denn eben dies muß in unmittelbarem Anschluß
an v. 13 das Ayaftov v. 14 sein, das Paulus nicht als erzwungene
, sondern als freiwillige Gabe gewährt haben möchte —
aber eben doch augenscheinlich ernsthaft gewährt haben möchte!
Auch die folgenden Verse stehen dem nicht entgegen. Den Heimgekehrten
„ewig wiederzuhaben, nicht als Sklaven, sondern als
Bruder", würde ja darin gerade einen vollendeten Ausdruck
finden, daß Onesimus von seinem Herrn dem Paulus zur Hilfeleistung
„in den Fesseln der Verkündigung" überlassen würde.
Auch das Angebot, für Schaden oder Schulden aufzukommen, behält
erst recht seinen guten Sinn, wenn Paulus den Onesimus
übernimmt: Sein Herr soll nicht noch obendrein den Schaden hinnehmen
, für den ihm Eifer und Treue des Zurückgekehrten hätten
aufkommen müssen. Daß zudem die Frage, ob irgendwelche Verpflichtungen
des Sklaven oder Ansprüche an ihn bestehen, beim
Wechsel des Besitzers erörtert zu werden pflegte, zeigt — worauf
Kn. (S. 9 Anm. 17) hinweist — ein Kaufvertrag POx. 1290.
Unberührt bleibt hiervon, daß Paulus wohl gleichzeitig glaubt,
sein Angebot werde kaum angenommen werden. Vielleicht meint
er unter anderem auch dies Nicht-Annehmen, wenn er erwartet,
der Herr des Onesimus werde mehr tun, als er erbeten habe.

') John Knox: Philemon among the Letters of Paul. A New View
°f its Place and Importance. Diss. Chicago 193 5.

J) So ich selbst: Das Hauptproblem der Sozialethik in der neueren
Stoa und im Urchristentum, 1935, 53 ff. Vgl. den bekannten Brief des
lungeren Plinius IX 21.

s) So u.a. Ewald, Komm.; A. Steinmann, Sklavenlos und Alte
Kirche, 4. Aufl. 1922, 110 ff.

So weit unterscheidet sich die Beurteilung des Philemon-
briefes durch Kn. nicht wesentlich von der Lohmeyers. Man wird
ihr nach allem Gesagten wohl zustimmen können, obwohl ein
Teil der Argumente von Kn. kaum annehmbar erscheint. Es ist
eben nicht zu erweisen, daß jzfqi xov e/uov xsxvov Vhm 10 mehr
als die allgemeine Beziehung der Bitte auf Onesimus bedeute und
wiederzugeben sei: „Ich bitte dich um mein Kind" (S. 5). Die
Wortbedeutung von naoaxafoXv fordert als erstes und direktes
Objekt so nachdrücklich die Person, daß daneben die Sachbeziehung
nur unbestimmt mit tifqi oder vjifq angegeben werden
kann. Gewiß bittet Paulus an der von Kn. herangezogenen Stelle
2. Kor. 12,8 vtzfq xovxov nicht „zugunsten" des Satansengels,
aber doch erst recht auch nicht „um" ihn, sondern ebenso wie
Phm 10 „im Hinblick auf" ihn. Die gleiche Bedeutung hat die
Präposition jifq'i auch an den von Kn. aus der Profangräzität angeführten
Stellen (POx. 1070, 8; Appian, Pun. 136). Wenn man
es ferner auch vielleicht für erwägenswert halten wird, daß der
üblicherweise als attrahiert aufgefaßte Akkusativ' Ovroifiov
v. 10 in Wirklichkeit prädikativ zu nehmen ist — „den ich geboren
habe ... zum Onesimus, d. h. den ehemals dir Unnützen,
nun aber dir und mir Nützlichen" —, so ist doch kaum haltbar,
das appositive avrövv. 12 zu interpretieren durch „ihn, der nun
erst er selbst, d.h. ein' Ovraißoc; im Vollsinne, geworden ist"
(S. 6). Ganz unmöglich ist es, die erbetene Freigabe des Onesimus
mit der technischen Bedeutung von djre^c v. 15 beweisen
zu wollen (S. 7 f.); anixFiv heißt als t. t. „ordnungsgemäß erhalten
haben", okkasionell „quittieren über", niemals aber „auf
Rückgabe verzichten", wie Kn. zu meinen scheint. Das wäre das
gerade Gegenteil. Gezwungen erscheint ferner die Deutung von
/mhnxa und ßäkkov v. 16: „mir am liebsten, aber auch dir lieber
als vorher" (S. 8). Denn ßdlioxa dürfte Elativ, nicht Superlativ
sein und die Steigerung jzooq) juaXkov darauf abzielen, daß
den christlichen Herrn die — vor der Flucht doch wohl auch erhoffte
, aber unterbliebene — Hinwendung seines Sklaven zum
Heil besonders tief bewegen müßte. Zustimmen werden wir Kn.,
wenn er den v. 7 bereits als Vorspiel zur Bitte des Paulus versteht
: Daß der Herr des Onesimus die Herzen der Heiligen erquickt
, ist d e m eine besondere nagaxkr^oic:, der selbst um eine
solche Erquickung bitten will v. 20b (S. 4). Ebenso wird man zugeben
, daß die ganze wenig eindeutige, wenig geradezu fahrende
Diktion des Briefes dann besonders gut zu begreifen ist, wenn
Paulus eine ungewöhnlich weitgehende Bitte an einen — wie sich
vielleicht zeigen lassen wird — ihm persönlich unbekannten Christen
richtet.

Damit kommen wir zu der eingangs bereits erwähnten Besonderheit
des Philemonbriefes, seiner Adresse, die durch Knox
eine neue und m. E. durchaus erwägenswerte Beleuchtung erfahren
hat. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Beziehungen
zwischen Phm und Kol, die nun ins Auge zu fassen sind.

Beiden Briefen ist gemeinsam, daß Paulus sich selbst einen
Gefangenen, daß er den Timotheus als Mitabsender nennt, daß
er von genau den gleichen Personen, nämlich Aristarchus, Markus
, Epaphras, Lukas, Demas und — nach Zahns* einleuchtender
Konjektur zu Phm 23 — Jesus Justus Grüße bestellt. Daß das
ehrende Beiwort avvaixßdlcoxog in Kol 4, 10 bei Aristarchus,
in Phm 23 dagegen bei Epaphras steht, wird kaum Gewicht haben,
da es sich ja nicht in jedem Fall auf die gegenwärtige Gefangenschaft
zu beziehen braucht. So ist es doch das Allernächstliegende,
Ort und Zeit der Abfassung für beide Briefe gleich anzusetzen.
Eine weitere Klammer ergibt sich an einer anderen Stelle. Die
knappen, wohl schon aus geformter paränetischer Tradition übernommenen
Imperative der Haustafel des Kolosserbricfes werden
in dem Wort an die Sklaven — und nur hier — bekanntlich erheblich
erweitert (3, 22—25). Man hat die Veranlassung dazu schon
längst im „Fall Onesimus" vermutet. Aber die volle innere Notwendigkeit
erhalten die Ausführungen des Paulus doch erst, wenn
er für Onesimus tatsächlich so etwas wie eine Freilassung erbittet,

*) Einleitung in das NT *1924, I 321 (§ 25 Anm. 4 a. Ende).