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Ausgabe:

1954 Nr. 6

Spalte:

363-368

Autor/Hrsg.:

Oepke, Albrecht

Titel/Untertitel:

Leib Christi oder Volk Gottes bei Paulus 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 6

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die ein Mensch gestoßen sein kann, trägt auch die christliche | dieser Erkenntnis öffnet, nichts. Denn auf dem Wege, den der
Theologie bei, soweit auch sie nicht zu sehen vermag, ein wie Jude Paulus zu seinem Volke ging und gehen mußte, lag das Heil
vollkommener Jude Paulus gewesen ist. Sie verliert, wenn sie sich | der ganzen Welt.

Leib Christi oder Volk Gottes bei Paulus?

Von Albrecht O e p k e, Leipzig

Das Thema dieses Referats verdanke ich zwei — übrigens
wohlwollenden — Rezensenten meines Buches „Das neue Gottesvolk
in Schrifttum, Schauspiel, bildender Kunst und Weltgestaltung
". Beide — an e i n e r Fakultät wirkend — haben mich in
Verdacht einer Akzentverschiebung innerhalb der paulinischen
Theologie, weil ich den Kirchengedanken des Apostels nicht vordergründig
vom Christusleib-Theologumenon aus verstehe, sondern
für sein Verständnis vom Gottesvolkgedanken ausgehe.
Sie können zwar nicht bestreiten, daß auch das Gottesvolkmotiv
vorhanden und wirksam ist. Insofern bezeichnet das „oder" in
meinem Thema eine von beiden nicht beabsichtigte Zuspitzung
des Problems. Aber beide sind zugleich der Meinung, jenes Motiv
stehe nicht eigentlich im Mittelpunkt der paulinischen Theologie
, dagegen sei der Leib-Christi-Gedanke zentral. Insofern
besteht das „oder" in meinem Thema doch zu Recht.

Fragt man nach den Gründen der Gegenüberstellung, so
wäre zu sagen, daß die Wurzeln der Diskrepanz sich ausgesprochenermaßen
bis tief in die Auffassung der Urgemeinde, ja, in
das Verständnis der Verkündigung Jesu hinein erstrecken. Die
Auseinandersetzung könnte und müßte hiernach eigentlich recht
breite Formen annehmen. Sie auf eine derartig umfangreiche Basis
zu stellen, ist aber hier unmöglich. Es sei deshalb nur ein
Doppeltes festgestellt: 1) daß der Differenz ein verschiedener
Gesamtansatz der Neutestamentlichen Theologie zu Grunde
liegt, und 2) daß da, wo man das Gottesvolkmotiv für spezifisch
j u d e n christlich hält, eins der wesentlichsten Anliegen meines
Buches leider nicht verstanden worden ist.

Ich beschränke mich auf diese kurzen Andeutungen einer
Replik und wende mich unverzüglich der positiven Aufgabe zu,
das gegenseitige Verhältnis der beiden in Frage stehenden Motive
im Rahmen der paulinischen Theologie festzustellen. Da lassen
sich nun zunächst allgemeine Betrachtungen darüber anstellen
, von welchem der beiden aus das andere am ehesten erreichbar
erscheint. Diesem dürfte dann vermutlich grundlegende
Bedeutung zukommen. Nun führt vom Leib-Christi-Gedanken
zum Gottesvolkgedanken, soviel ich sehe, überhaupt kein Weg.
Die andere Seite behauptet das auch gar nicht. Sie ist vielmehr
der Meinung, daß der Gottesvolkgedanke gewissermaßen als
illegitimer Seitenschößling unter dem Einfluß eines von außen
kommenden Reizes — einer vorpaulinischen Anschauung, die
aber auch im Epheser- und Hebräerbriefe und in der Apokalypse
immer wieder durchschlage, kurz, aus taktischen Gründen, als
Kampfesdoktrin, überhaupt eingeführt werde, während der Leibgedanke
das Wesen der Sache an sich völlig suffizient zum Ausdruck
bringe.

Vom Leib- zum Volkgedanken führt also zugestandenermaßen
kein Weg. Vom Volk- zum Leibgedanken führt dagegen
mehr als ein Weg. Allerdings bedeutet das griechische ocö/ua nicht
soviel wie Körperschaft. Die Belege, die man dafür zu haben
glaubte, m. W. nur drei an der Zahl, sind teils anders zu erklären
, teils Latinismen. Im Lateinischen sind die Belege für den
übertragenen Gebrauch von corpus im Sinne von Körperschaft
überaus zahlreich. Wie nahe dieser Gebrauch an und für sich
liegt, zeigt auch die Verwendung des ägyptischen h-t, Leib, in
dem gleichen Sinn. Die semitischen Sprachen haben für den Begriff
„Leib" kein eigentliches Wort. Aber schon dem AT ist die
Vorstellung des Volkes als Kollektivpersönlichkeit nicht fremd,
wenn sie nicht etwa gar die ursprüngliche ist. Das zeigt die Bezeichnung
eines Volkes oder Stammes nach seinem Heros Epony-
mos, die Zusammenfassung der Einwohnerschaft einer ganzen
Stadt mit Hilfe des Begriffs „Tochter" oder „Jungfrau" (Am.
5,2; Sach. 9, 9), die singularische Anrede der Gemeinde (Num.
6, 24 ff.; Ex. 20, 2 ff.; Dt. 5, 6 ff. u. ö.), das Nebeneinander
von kollektiver und individueller Bedeutung des Ebed Jahwe bei
Deutero- und Tritojesaja, die Stellung des Menschensohnes in

Dan. 7. Dem Judentum sind trotz des steigenden Individualismus
diese Vorstellungen nicht abhanden gekommen, sie sind
durch fremde Einflüsse eher noch verstärkt worden. Das zeigen
zur Genüge die von Strack-Billerbeck III 446 ff. zu l.Kor. 12,
12 ff. gesammelten Parallelen, wie Tos. Taan. 2. 5 (217): Als
man die von R. Gamliel II. festgesetzte Halakha ändern wollte,
wandte sich R. Jochanan b. Nuri dagegen mit dem Argument:
Nach dem Kopf richtet sich der Leib biTN NDia Nuri Ina
Gamliel ist das Haupt, die Gemeinde der Leib. In der jüdischen
Gnosis begegnet sich die kosmische Urmenschenspekulation mit
dem für das Judentum zweifellos grundlegenden Gottesvolkgedanken
. Nach Philo (Vit. Mos. II 117- 135; Spec. Leg. I 84-97;
Fug. 110 ff.) ist das Amtskleid des Hohenpriesters Symbol der
Welt, die der Logos sich als Gewand umlegt. Vom Sippenverband
ausgehend erblickt Philo das Ziel der Amtstätigkeit des Hohenpriesters
darin, daß jedes Lebensalter und alle Teile des Volkes
cbg evög othfxaxog zu einer und derselben xoivwvi'a zusammengefügt
werden im Streben nach Frieden und Gehorsam gegen das
Gesetz (Spec. Leg. III 131). Adam ist Universalpersönlichkeit,
sowohl als Stammvater der Menschheit wie insonderheit als Repräsentant
Israels. Diese Gedanken haben mannigfaltig gewirkt,
auch bei Paulus und noch im späteren Christentum. Nach einem
altgnostischen Werk unbekannter Herkunft (um 200?) ist die
Vereinigung der vom Logos ausgehenden Kräfte bzw. ihrer Glieder
„die Einsammlung der Zerstreuten Israels" (ed. C. Schmidt
GCS 13 I [1905] 350, 24 ff., bes. 35 f.). Überall ist der Volksgedanke
als das dem Augenschein sich Darbietende wohl das
Grundlegende, der Leibgedanke das aus anderen Komponenten
Zuwachsende. Das wird selbst für die Gnosis weithin zutreffen.
Wozu sonst die Heranziehung Israels? Auf der Hand liegt es für
die Fabel des Menenius Arippa bei der secessio der Plebejer in
montem sacrum. Sollte es bei Paulus umgekehrt sein?

Das alles sind aber nur erst Vorerwägungen, die trügen können
. Es gilt jetzt, die Themafrage in den Gesamtzusammenhang
der paulinischen Theologie hineinzustellen. Da ist nun ohne weitere
Beweisführung deutlich, daß der Leib-Christi-Gedanke ein
Spezialfall der sog. paulinischen Mystik ist. Daß andererseits der
Gottesvolkgedanke bei Paulus mit der Gerechtigkeit aus dem
Glauben eng zusammenhängt, ist nicht ganz so unbestritten, aber
angesichts von Gal. 3 und Rom. 4 doch nicht ernstlich zu bezweifeln
. Unsere Fragestellung verallgemeinert sich also dahin, ob die
„Mystik" oder die „Juridik" bei Paulus vorschlägt. Kürzer und
allgemeinverständlicher: Ist der Christus in uns oder der Christus
für uns dasjenige, was Paulus „eigentlich", in erster Linie, meint.
Die Entscheidung für das erstere ist keineswegs erst neueren Datums
. Schon Friedrich Niebergall schrieb: „Christus, der Versöhner
durch sein Blut, das ist dem Apostel Gedanke; Christus,
der Geistspender und Lebenswecker, ist ihm unmittelbare Erfahrung
" (Wie predigen wir dem modernen Menschen? [1902] S. 31).
William Wrede kennzeichnete die Rechtfertigungslehre als
„Kampfeslehre" (Paulus [1904] S. 72). Seit Erwin Wißmann, Das
Verhältnis von mang, und Christusfrömmigkeit bei Paulus
(1926) und Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus
(1930), auch Ernst Käsemann, Leib und Leib Christi (1933) gilt es
sozusagen als ausgemacht, daß die Christusmystik das war, was
Paulus „eigentlich meinte". Die Zurückdrängung des Gottesvolk-
gedankens für das Kirchenverständnis des Apostels liegt in der
Konsequenz. Sie muß aber in Frage gestellt werden.

Haben wir ein untrügliches Kennzeichen für das, was der
Apostel „eigentlich meinte"? Ich denke doch: in der Missionspredigt
. Über sie sind wir durch eine große Anzahl von Stellen
in seinen Briefen genau orientiert. Sie alle heranzuziehen, würde
zu weit führen. Ich greife nur die zwei wichtigsten heraus:
l.Kor. 15, 1 ff. und 2. Kor. 5, 18—21. Als ausführliche Ergänzung
mag man die ersten Kapitel des Römerbriefes hinzunehmen.